Dienstag, 28.08.2012

Mai, Juni, Juli und Anfang August

Mai

Rainers Text über Cecil B. DeMille, weswegen ich abends The Sign of the Cross (USA 1932) schaue. Das Wetter ist schön, die Sonne scheint allenthalben, aber es ist garnicht so warm wie man denkt. An einem darauffolgenden Abend dezidiert TG deMille „minimalistic grandeur“. Auf der Rückfahrt Höhe Hallesches Tor steigen von Trommeln Bewegte zu. Sie trommeln nun weiter im Waggon und tanzen und wollen wirklich alle von ihrer Art von Ausgelassenheit überzeugen. Zuhause ein paar Mails. Später weiter in Wielands Aristipp. Vielleicht ist es so, dass man im Alter die Lust verliert, ständig die Tonlagen neu anzusetzen, die für eine Konversation nötig sind.

Juni

Das Schwerschreiben, beteure ich, liegt an meiner Abneigung zu werten, aber wahrscheinlich gibt es noch andere Gründe für das Schwerschreiben.

Ich muss einige Tage darauf rasch zum Haus der Kulturen der Welt. Der 29er fährt heute andere Wege wegen des Putinbesuchs in Berlin, sagen Mitwartende. Als ich an der Urania ankomme, fährt auch der 187er weitausholend bis zum großen Stern. Der Vortrag über die Geste des Schwenkens und das Gespräch danach darüber. Während VP seinen Gestenbegriff von Agamben abgesetzt sehen möchte, will HF seinen eigenen eher allgemeiner, sprachtheoretischer hergeleitet wissen. Nach dem Vortrag stehen wir im Wind, meine Haare zersausen, hoffentlich hole ich mir keine Erkältung. Nachher meint WR, Agambens theologische Begriffsherleitungen seien gegen HFs Widerwillen zu verteidigen, aber auch Blumenbergs Theorie der Angst zur Verbesserung des Denkens heranzuziehen. Es ist aber zu windig, um noch viel länger hier zu bleiben. Am Hauptbahnhof ist eine Gruppe reicher Breakdancer. Sie unterhalten sich über die Hautfarbe des einen, sie sei das Schwärzeste bevor es wirklich tiefschwarz werde. Aber er sagt, sein Schwarz sei höchstens 60 Prozent. Ein anderer fragt die anderen nach einem grünen Gemüse, das an Stielen wächst, aber keiner weiß den Namen. Dann sage ich ihn: Petersilie.

Wenige Tage später sehe ich Cleopatra von Cecil B. DeMille (USA 1934). Cleopatra, im Teppich eingerollt. Sie präsentiert sich als Geschenk an den Römer. Claudette Colberts Spiel richtet sich aus der Szene heraus an den Zuschauer. Sie trägt interessant körperbetonende Kostüme, aber die Konflikte überkreuzen sich nicht. Sie reihen sich hintereinander auf, was sich spiegelt in den Ausstattungen. Sie sind auch mehr behauptet als tatsächlich in den Räumen des Films anwesend.

In einer Gier, betrunken zu werden in Körper und Geist, trank ich ein paar Tage später die Flasche portugiesischen Rotwein und schaute zwei Sternbergfilme. Noch ein paar Tage später war ich 20 vor 8 am Anhalter Bahnhof angekommen. Ich drehe beim Gehen zum Potsdamer Platz eine Zigarette, auf das Papier fallen ein paar Tropfen leichten Regens, aber das Papier hält. Beim Pförtner gebe ich das Reineckerbuch ab und verfasse eine Quittung für die Abgabe. Das Buch kommt in eine gelbe Plastikkiste. Dann will ich noch eine Zigarette rauchen, rauche sie und schaue den Film Aber das Wort Hund bellt ja nicht (D 2011). Große Klasse!

Wenige Tage darauf sitze ich freitagmorgens im Zug nach Westen und ein verunsicherter, schlaksiger Holländer, vielleicht ist er seit ein zwei Jahren aus der Pubertät, traut sich neben mich an den Fensterplatz. Auf der Fahrt lese ich die neue Cargo. Am Journalistischen stört mich, dass jeder Satz mindestens eine Information beinhaltet, aber kaum einer vom Zugehen, Abgestoßenwerden, Entdecken, Widerwillen, Wundern, Abwehren zu berichten weiß. Stunden später auf der Terasse eröffnete sich mir die Rettung. Dass man die Daten und Informationen der Werke mit eigenen Daten und Informationen, tatsächlich auch mit Datierungen ins Gespräch bringen sollte und einen Austausch. Abends sprechen wir, es ist Europameisterschaft, über den modernen Fußball. OB sagt, allein Guus Hiddink könne Nachfolger werden von César Luis Menotti, als Philosoph des Spiels. Irgendwann ertönt Over the Border von St. Etienne im Hintergrund. Zurück in Berlin schaue ich abends ein paar der übriggebliebenen Folgen der Serie Girls (USA 2012). Mir gefällt inzwischen der Ton des Erzählens, er ist aber vielleicht auch etwas zu angestrengt unangestrengt, lakonisch. Nicht mehr gefällt mir der naturlichtig ausgebleichte Look der Bilder, aber die Art, wie mit den Paratexten der Serie umgegangen wird, das Logo und seine unterschiedlichen Popfarbengrundierungen zum Beispiel. Am folgenden Montag im nahen Regenbogenkino gibt es den Film Abschied von den Fröschen (D 2011) von Ulrike Schamoni, Ulrich Schamonis Tochter. Ich möchte den Begriff post-wilhelminisches Kino prägen zur Beschreibung dieser Filme. VP gibt mir Recht, da sei was dran. Ihn hatte Chapeau Claque (BRD 1974) an Eustaches La maman et la putain (F 1973) erinnert. Das ist auch ein Film über das Zerbröckeln des Alten.

Wieder ein schönes Tagebuch des Kritikers von Michael Althen aus einer alten Steadycam.

Am Abend schaute ich das Spiel Deutschland gegen Griechenland aus Danzig. Deutschland gewann 4 zu 2 mit Toren von Lahm, Khedira, Reus und Klose. Die blöden Nachbarn unter mir tuteten bei jedem Tor und nach dem Spiel auf einer Trompete aus Südafrika vom Balkon aus auf die Straße. In der Ferne waren Böller zu hören und nach einer Weile schoss der Nachbar einen Feuerwerkskörper vom Balkon aus in die Luft. Es zischte und explodierte mit einem Knall. Ich saß auf dem Sofa und rief mittellaut Pfui! deswegen. Später schaute ich Hugo Fregoneses Untamed Frontier von 1952. Der Film ist sehr rapid. Shelley Winters, in ihr steckt ein Gewissen, aber kaum jemand nimmt es ihr ab in dem Film. Ihre Bewegungen sind unsicher, als fühle sie sich unwohl in dem Körper der Frau, die sie ist. Schließlich ist es aber sie, die all die die anderen Einheiten des Films zusammenbringt und kollidieren lässt. Die Konstellationen wechseln ständig. Der Hintergrund ist eine Landbesitzgeschichte. Der mißratene Sohn handelt unverantwortlich. Wie aus dem Ei gepellt schaut er aus. Gewinnend tritt er auf. Er bittet Shelley Winters zum Tanz. Sie tanzen. Shelley Winters fühlt sich verzückt. Aber der andere Mann glüht vor Eifersucht. Ein Film, der seine eigenen Beschränkungen kennt und sie durch grobes, zupackendes, pausenloses Konstellationsverändern vergessen macht.

Juli

Auf Anregung von Thomas Groh schaue ich auf dem Computer die „Durch die Nacht mit“ Sendung mit Terry Giliam und John Landis in London (D 2012). Unangenehm, wie die Kameras dort geführt werden. Es entsteht keine richtige Konzentration, weil die Kameras sich willentlich von allem ablenken lassen. Sie sind hypernervös, besorgt, etwas zu verpassen, so ist immer alles verwischt. Später Cachaça und Kaffee. Die Musik von Stephen Foster. Folge 5 und 6 von NYC-22 (USA 2012), die mir deutlich unterproduziert vorkommen. Noch später Joe Dantes Gremlins (USA 1984). Tatsächlich habe ich den seinerzeit nicht gesehen. Das Kleinstädtische dieser Filme, als habe es New Hollywood nicht gegeben. Die Erinnerungen an das Aufwachsen sind ausschließlich warmherzig. Es sollte ein ständiges Umsortieren des Behaltbaren werden.

Am Tag nach dem Neneh Cherry Konzert im Radialsystem, als es zu Ende war, regnete es stark und gewitterte. Wir standen an der Öffnung zur Spree und rauchten und betrachteten das Unwetter. BS betrachtet meine Infinite Jest Ausgabe und blättert in der Filmographie am Ende des Buchs. Auf die Frage, was mein Lieblingsfilmbuch ist, zeige ich ihm Gilberto Perezs The Material Ghost. Am Abend nach dem Konzert hatten TN und CB und ich nochmal Helmut Käutners Unter den Brücken (D 1946) geguckt, die beiden kannten den Film garnicht. Die Geduldigkeit, die schwebend langsame Erzählung der Unsicherheit, die musst du aushalten. Die Lockenszene. Die Wassergeräuschszene. Ein paar Tage zuvor hatte ich das Bitomskybuch bei amazon bestellt, am nächsten Tag kam der Bote. Ich holte es bei CS im ersten Stock ab. Er, der Fotograf ist, erklärte mir, dass das verstörend Aufdringliche des Umschlagbilds von der Digitalfotografie komme. Es sind digitale Filter, die das Licht und die Oberflächen, auf die es fällt, so metallen glänzend machen.

Anfang August

Beim Geburtstag von Bärbel Freund endlich, 15 Jahre nachdem ich zum ersten Mal davon hörte, Stephan Setteles Videotagebuchfilm Gestern nacht und heute morgen (D 1990) gesehen. Die erste Einstellung hatte ich verpasst. Ich war draußen im Regenbogenkino und rauchte und hatte nicht mitbekommen, dass der Film gestartet wurde. Ich wusste gar nicht, dass dieser Film gezeigt wird. Bärbel Freund hatte zu dieser improvisierten Geburtstagsfeier eingeladen, als ich kam, saßen ein paar Leute verteilt auf den Sofas und Sesseln. JB, KH, UA, AG, ein paar Amerikaner mit ihren weiblichen Begleiterinnen. Einer der Amerikaner sah aus wie Allen Ginsberg, überall im Gesicht stoben graue Haare astral auseinander, seine Züge waren von ihnen umkranzt. Er erzählte aber später von einem der Mitbegründer des Canyon Cinema, ein Animateur, an dessen Arbeiten ihn Bärbel Freunds und Ute Aurands Tulipan von 2002 erinnerte, ein ganz kurzer Stop-Motion Film, der vom Auf- und Abblühen von Schnittblumen handelt, eine Art Postskript zu Freunds und Aurands Im Garten aus dem selben Jahr. KH hatte Käse gekauft bei einem Italiener in Steglitz, eine harte längliche französische Wurst lag auf dem Buffet, Brot, Wein, italienische Kuchen, und kleine wulstige Äpfel, die wie gewachst aussahen. Paul Celan liest, ein dffb-Film von 1985 von Ute Aurand. Dias aus dem Leben von Bärbel Freund, auf denen lange Zeit ihr damaliger Freund ist, hager und mit eckiger Frisur, er ist später Kunstprofessor geworden in Frankfurt an der Städelschule, ein reicher Mann war er schon vorher, er hatte Le Corbusier Sessel mit handgefertigten Überzügen. Auf einem Bild sieht man die. Das ist Anfang der 80er Jahre in Berlin. Ich sitze neben KH und frage ihn, ob es nur in Berlin so war, dass die Böden in den Wohnungen abgezogen und mit diesem weißgrauen Hartlack bestrichen waren. Ja, so war es, nirgendwo sonst gab es das, nur in Berlin, nicht in München, sagte KH. Wenn KH auf den Dias zu sehen ist, rufen manche im Publikum „Charlie“. Das Videotagebuch von Stephan Settele hat immer eine „Gute Morgen Einstellung“ und eine „Gute Abend Einstellung“. Vorm Einschlafen spricht Settele ein paar Sätze in die Kamera und nach dem Aufwachen. Zunächst packt einen die Sprache, aber die Bilder, das merkt man nach einer Weile, sind auch spitze. Am Anfang ein Feuerwerk in der Nacht, das seien Bilder von der Wiedervereinigungsfeier am Brandenburger Tor, 1990, es sei aber nicht gut, unter die Menschen zu gehen, man verpasse absolut nichts unter den Menschen, besser ist es, in der Wohnung zu bleiben. Nachts stößt er auf den „tiefsten Grund des Ekels“ in seinen Träumen. Das Rausgehen und das Treffen von Leuten kommt aber immer wieder, eine kleine Episode handelt von einem Besuch in der DDR, da sieht man groß eine Hand mit einer kleinen blutenden Wunde, die ein Rad wechselt (Brecht!) und später das Bild im Innern einer Pension, die Wirtin spricht von Honecker, dessen Geburtstag heute ist, letztes Jahr ist es noch groß gefeiert worden, „jetzt haben sie ja den Helmut Kohl“, sagt Settele zu ihr. Einmal trifft er sich mit José van der Schoot, die Off-Stimme spricht von der niederländischen Malerin, mit der er sich trifft, die immer so lustig die Artikel verwechsle. José, die in dem Film Nina heißt, erzählt einen seltsamen Traum, „eigentlich träume ich ja immer von Messern, aber gestern…“. So geht das die ganze Zeit. Seit 15 Jahren will ich den Film sehen, gestern sah ich ihn endlich, ganz unverhofft.

Vormittags nochmal Mia Hansen Løves Film über die Jugendliebe (F 2012). Immer noch bin ich unsicher, wie ich an diesen Text herangehen will. Wie denke ich mir diesen Film? Die Inszenierung / die Erzählung. Der exzentrische Text von Drehli Robnik über The Five-Year Engagement (USA 2012) auf filmgazette.de/. Dienstag war noch ein Abschiedstischtennis mit VP hier am Lausitzer Platz auf der Steinplatte neben dem Spielplatz. Ein paar Jugendliche auf einer Bank betrachteten bewundernd unser flottes, technisch anspruchsvolles Spiel auf der unanspruchsvollen Steinunterlage. Oft verspringt der Ball in unerwartetem Winkel. Zugleich ist das Spiel auch gehemmter, langsamer, so dass man sich Zeit lassen muss. Schöne Salzspuren vom Schweiß auf dem Polohemd nachher. Dann kommt endlich das Gewitter! Es prasselt von Südwest an die Scheiben, da muss ich nicht mehr zum Open Air Kino in der Prinzenstraße zu Lemkes Film (BRD 1971) gehen. Bis halb 3 weiter im Bitomskybuch. Wieder fällt Regen.

Ein paar Tage später Max Ophüls‘ La signora di tutti (I 1934), ein erstaunlicher Film. Die Ideen, die der Film vom Starsein formuliert. Eine Frau stürzt wegen ihrer Art Männer ins Verderben, sie selbst ist aber von ihrem Wesen her vollkommen unschuldig. Ihr einziger Ausweg aus dem Unglückbewirken ist, ein Filmstar zu werden, was der Film merkwürdig einklammernd in die Szenen der Lebensgeschichte der Frau erzählt. Angehängt an das düster Untergehende des Films ist noch eine Zusatzklammer, ein Supplement, das zunächst als Happy End daherkommt, dann aber noch schlimmer endet als alles zuvor Angekündigte. Ein sehr sehr reicher Film! Davor die neue Louie-Folge (USA 2012). Am folgenden Tag Un pur esprit (F 2004) von Mia Hansen-Løve, das Betrachten desselben. Das Cinegene. Die französischen Schriften aus den 20er und frühen 30er Jahren über das Kinematische. Den L‘Herbier-Band aus dem Regal genommen, die meisten Seiten sind noch unaufgeschnitten. Eine Anthologie mit französischen Texten zum Film, die bis 1945 erschienen sind. Der Band ist 1946 in Paris veröffentlicht worden, gedruckt wurde in Genf.

Auf zum Picknick im neuen Park! Im Hinterland des Gleisdreieck ein Eisentor der BVG mit Kunst am Bau, die die Silhouette eines Bahnwaggons darstellt. Joni Mitchell: „No matter what I do, I‘m floating back to you.“

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