Freitag, 23.08.2013

Gaëlle Rouard – Bilderlawinen und traumhafte Erratik

Von M. Freerix

In einem kleinen Dorf in der Nähe von Grenoble, am Ende einer Sackgasse, wohnt Gaëlle Rouard. In ihrem Haus hat sie ihr gesamtes 16mm Equipment untergebracht: Neben dem Schneidetisch steht der optische Printer, im Bad daneben hat sie ein kleines Kopierlabor eingerichtet. Wie in der Frühzeit des Kinos entwickelt sie ihr Material in Blecheimern und –dosen, mit ihren eigenen Händen. Viele Jahre lang arbeitete sie mit gefundenem Filmmaterial, das sie am Tricktisch überarbeitete und neu montierte. Auf diese Weise sind komplexe Filme voller Bilderlust entstanden. Neuerdings hat sie allerdings ihre 16mm-Bolex wieder aus dem Koffer hervor geholt. Ihr selbst gedrehtes Material hat den Charakter ihrer Arbeiten leicht verändert. Doch ihre Bilderlust ist die gleiche geblieben.

Gaëlle Rouard’s Weg zum Film nahm, wie für viele andere Filmschaffenden auch, den Umweg über das Medium Fotografie. Mitte der achtziger Jahre machte sie zunächst in Grenoble eine Lehre als Fotografin in einer Werbeagentur. In dieser Zeit besuchte sie regelmäßig Kulturveranstaltungen in einem besetzten Haus, dem „102 Rue d’Alembert“, oder, kurz gefasst, ‚Le 102’.

In der Universitäts- und Museumsstadt Grenoble mit seinen beinahe 156000 Einwohnern stellt ‚Le 102’ eine Besonderheit dar. Von Künstlern besetzt und bewohnt, wird es von ihnen als genreübergreifender Begegnungsort von Kunst, Musik und Film betrieben. Viele auswärtige Künstler zog es nach Grenoble, um an den Aktivitäten des ‚Le 102’ teilnehmen zu können. „Man kann sagen,“ so sagt Gaëlle Rouard, „dass es einen ganzen Strang in der französischen Kunst gibt, die ihre spezifische Ästhetik vor diesem Hintergrund und in diesem Zusammenhang hat entwickeln können.“

In der ersten Hälfte der 90er Jahre wird die ‚102 Rue d’Alembert’ zum Daueraufenthaltsort für Gaëlle Rouard. Hier sieht der Fotografenlehrling Experimentalfilme, die sie zutiefst beeindruckten und inspirierten, selber mit beweglichen Bildern arbeiten zu wollen. Insbesondere die Arbeiten von Malcolm le Grice – dessen Film ‚Berlin Horse’ von 1970 deutlich Einfluss auf ihre Arbeit hat – und Patrick Bokanowski bleiben ihr im Gedächtnis.

Bereits kurz nach der Besetzung des Hauses hatten Jerome Noetinger, Xavier Quérel und Christophe Auger 1991 dort das ‚Atelier Metamkine’ gegründet, und zwar „praktisch in Christophe’s Badezimmer,“ wie sich Rouard erinnert. Das Trio hatte sich vollkommen der experimentellen Filmarbeit verschrieben und schaffte sich mehrere Kameras, einen optischen Printer und Gerätschaften zur Filmentwicklung und –kopierung an. Als ‚MTK’ wurden die drei in der Experimentalfilmszene bekannt. Das Atelier stellt eine Gegenbewegung zur digitalen Medienwelt dar, als Refugium, in dem auf Super-8, 16 oder 35 mm Film gearbeitet wird. Dieses Beispiel machte Schule. In vielen Großstädten Europas gibt es mittlerweile Experimentalfilmzentren, die nach den Prinzipien des ‚Atelier MTK’ arbeiten und von diesem künstlerisch unterstützt werden. Noetinger, Quérel und Auger geht es um die absolute Freiheit der Kunst in der Weiterentwicklung der Filmsprache. Ganz ohne Filmförderung und ohne intellektuelle wie institutionelle Hierarchien.

„Nimm eine Kamera (Super 8 oder 16 mm) und fang einfach an,“ ermutigten die drei Gaëlle. Das tat sie auch, doch war sie noch sehr unsicher. Sie fühlte, sie bräuchte ein Fundament, eine Grundlage, um überhaupt die technischen Möglichkeiten des Mediums Film ausloten zu können. Deshalb nahm sie 1992 ein Studium an Kunsthochschule (ESAV) in Genf, in der Abteilung ‚Video/16 mm Film’, auf. Dort filmt sie mit einer 16mm Bolex, häuft Material an, aus denen sie CERTAINES CHOSES (16mm, sw, 20min (1995)) und LA GRANDE RUINE (16mm, col, 20min (1997)) zusammen montiert.

Parallel arbeitet sie während dieser Zeit mit Etienne Caire, Christophe Auger und Xavier Quérel von ‚Metamkine’ zusammen. Die vier nehmen sich den ‚Moby Dick-Film’ von John Huston vor. „Am Punkt Null sieht so ein alter Film schon mal gut aus, die Schauspieler, ihre Kostüme, und die gute ‚Fotografie’,“ beschreibt Rouard den ersten Impuls bei der Arbeit an diesem Projekt. Sie und ihre Mitstreiter wollen in diese Bilderwelt eintauchen, ihren Sinn jenseits des Erzähltechnischen erforschen. Dazu werden Bildausschnitte vergrößert und überarbeitet, eingefärbt oder umkopiert. Teilweise geschieht dies am optischen Printer, teilweise werden Szenen auf Leinwand projiziert und abgefilmt, und zwar so oft, bis durch Verstärkung von Körnigkeit und Unschärfen eine Geisterhaftigkeit in den Originalbilder entsteht. Häufig werden gegenläufige Bewegungen aneinander geschnitten, so dass seltsame Frage und Antwort-Sequenzen entstehen, die wie analoge Loops wirken.

Die gesamte Überarbeitung geschieht im Team, bei intensiver Diskussion miteinander. Es gibt in der Anfangsphase ein Konzept, nach dem vorgegangen wird, doch dieses verändert sich immerfort, denn „das Material ist der Boss. Es entscheidet schlußendlich“, wie der Film auszusehen hat. Gelegentlich spielt sogar der Zufall eine Rolle. Der Ton wird in ähnlicher Art und Weise überarbeitet und dem neu entstandenen Film, als eine Art asynchroner Kommentar, beigefügt. Während dieser Arbeit entdeckt Rouard ihre Leidenschaft für die Arbeit im Filmlabor, weil sie damit „die Vorführung noch immer ein Stück weiter voran“ treiben kann. „Danach habe ich lange Jahre vor allem an found footage-Filmen gearbeitet, in Zusammenarbeit mit Etienne Caire, doch auch mit anderen Filmemachern und mit Musikern aus der Improvisationsszene.“

Nach der Fertigstellung dieses Filmes veröffentlicht ‚Metamkine’ ein Gruppenstatement, in dem sie ihre Vorgehensweise schildern, um die „Zerstückelung konventioneller narrativer Mechanik“ hervorzurufen. Sinn und Zweck ihres Bemühens sei ein „respektloser und freier Umgang mit dem Filmmaterial, (der) sich auf den Zuschauer überträgt. Er ist Zeuge eines in sich zerfallenden erzählerischen Zusammenhangs und findet sich in die wesentlichen Elemente des kinematografischen Prozesses hineinkatapultiert.“

Dieses Positionspapier stellt auch für Gaëlle Rouard die Eckdaten ihrer künstlerischen Arbeitsweise dar. Gelegentlich bricht sie allerdings aus diesem Gruppenprozess aus, um alleinverantwortlich zu arbeiten. Einige dieser Kurzfilme hat sie vor einigen Jahren zur ‚Juke-Film-Box’ zusammen gefügt: PAF LE CHIEN (une course de voitures), THE WOLF MAN (un film de genre), MOBY DICK (une chasse à la baleine), INTERLUDE (un film d’ascenseur), ZOULOU (un autre genre de film), OGRES (un film de méchants), UNE ROMANCE (à-suivre), 4MIN (d’hélicoptères), LE FILM DE LA PEUR (seulement sur demande). Sie führt diese unterschiedlich kurzen Filme mit zwei Projektoren vor, so dass sie sich überlappen, nebeneinander oder übereinander projiziert werden. Während der Herstellung dieser Filme „entdeckte ich, dass man einen Film ganz auf sich selbst gestellt machen kann (wie ein Gemälde) und dabei ganz direkt arbeiten kann, mit einem unverstellten Zugriff zum Medium Film an sich.“

Grundsätzlich stellt die Filmvorführung für Rouard den zentralen Aspekt der Präsentation dar. Sie will mit ihren Filmen weg vom Schaukastenkino, hin zu einem Erlebnis, wo Bilder, Töne und das eigene Erleben nicht mehr getrennt voneinander statt finden. „Durch die Veränderung der Größe des Projektionsrahmens oder der Bilder durch gläserne Prismen oder Gelfilter“ werden Bilder in den ganzen Raum, an Decken, Wände und den Fußboden, ‚gestreut’. Die Tonspur läuft dazu synchron oder asynchron, kann aber auch durch live eingespielte Musik ersetzt werden. Das Publikum befindet sich dadurch mitten im Film, und wird von Bildern geradezu umspült.

Gleichzeitig entdeckt sie, dass sie die Leinwand als Experimentierfläche erforschen will. Gemeinsam mit Christophe Cardoen und David Chiesa entwickelt sie gegen Ende der neunziger Jahre eine Kinoperformance, die sie ‚Hyperbang’ nennen. Die drei stellen sich hinter die Leinwand und benutzen bei solchen Vorführungen mehrere Projektoren für Film und Dias, sowie verschiedene Lampen, vor denen sich Farbfilter drehen. Mit diesem projizieren sie einen improvisierten Film, der von live improvisierter Musik begleitet wird: „Jeder von uns greift auf einen Fundus von Bild- und Tonmaterialien zurück, durch das der Film während der Performance auf der Leinwand entsteht. Maskierungen, Doppelprojektionen, Veränderungen der Lichthelligkeit, der Vorführgeschwindigkeit der Filmschleifen“ macht aus jeder Vorführung ein einmaliges Ereignis. „Die spielerischen Möglichkeiten sind endlos. Wir lassen diese Elemente aufeinander stoßen, um eine Spannung zu erzeugen in Form einer abstrakten Anspannung. Eine Erzählung für die Augen mit Bewegungsvariationen und apokalyptischen Sprüngen in Hypergeschwindigkeit,“ heißt es dazu in einem Begleittext des Kollektivs.

Nach Jahren der intensiven Zusammenarbeit und des Zusammenlebens in einer Gruppe stellt das Jahr 2005 einen Bruch für Gaëlle Rouard dar. Sie trennt sich vom ‚Studio Metamkine’, stellt ihre ehrenamtliche Lehrtätigkeit für ‚Le 102’ ein und reorganisiert ihre künstlerische Arbeit, indem sie sich in ihrem neuen Haus ein eigenes Filmlabor einrichtet. Nun greift sie auch die Filmerei mit der eigenen Bolex wieder auf. Der wilde, teilweise anarchische Montagestil ihrer frühen Filme weicht einem etwas ruhigeren, kompakteren Ton. So stellt sie 2008 LA GRANDE RUINE 3 (2x16mm, s-w/Farbe, 10 min) fertig und 2010 LA GRANDE RUINE 2 (16mm, s-w, 10 min), bei denen sie auf Material zurück greift, das sie bereits 2002 gedreht hatte. Anschließend entsteht ein 20-minütige Montagefilm mit dem Titel ‚UNTER’, der Schiffs- und Unterseebootaufnahmen mit von ihr gedrehtem Material kombiniert. Mit geradezu erstaunlichem Fingerspitzengefühl montiert sie aus diesen verschiedenartigen Ursprungsmaterialien einen Film rund um das Element Wasser her.

Ihr neuester Film ist nun ZOOSCOPIE (16mm, Farbe, 16 min), der die Umgebung des Hauses, in dem sie seit acht Jahren lebt, thematisiert, oder, um es in ihren eigenen Worten zu beschreiben: „Unerbittliche Winter, immer stärker fallender Regen, Regenschauer, tosende Gewitter, früher Frost oder was weiß ich denn, wenn die Blätter später fallen, der Rauch gerade in den Himmel steigt und sich wieder senkt, wenn die Blätter sich drehen oder der Staub aufwirbelt, wenn die Frösche in den Sümpfen ihre monotone Klage wiederholen und wenn Winde in die günstige Richtung drehen.“ Ohne Zweifel ist die wilde Bildsprache, die sie in ihrer Zusammenarbeit mit ‚Metamkine’ entwickelt hat und die sich in ‚Unter’ noch zu einer wahren Bilderlawine rund um das Wasser verdichtet hat, in ‚Zooscopie’ einer intimeren Note, einer geradezu traumhaften Erratik gewichen. Von ihr vorgeführt strömt dieser Film allerdings die gleiche visuelle Radikalität ihrer älteren Arbeiten aus.

Auf https://vimeo.com/user4463496/videos sind Auszüge aus ihren Filmen zu sehen.

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