Sonntag, 01.07.2007

Andi Engels Kino-Enthusiasmus

Von Johannes Beringer

Wenn man nicht gerade die englische Presse oder ‚Sight & Sound‘ oder ‚Variety‘ liest, hat einem der Tod von Andi Engel am 26. Dezember 2006 schon entgehen können: ich bin erst darauf aufmerksam geworden durch einen Zeitungsausschnitt, den mir Peter Nau zugesandt hat („Nachruf auf einen Unbekannten. Enthusiasmus und Melancholie“ von Michael Althen, FAZ vom 5.4.2007).

Für die biographischen Daten empfiehlt es sich, den Artikel von Colin MacCabe in ‚The Independent‘ vom 4.1.2007 zu lesen, der anscheinend mit Andi Engel befreundet war. Ich kann an dieser Stelle nur den Hinweis auf die Zeitschrift ‚kino‘ liefern, die von 1965 bis 1967 in Westberlin erschienen ist. Bei MacCabe heisst es: „When he [Andi Engel] appeared in Berlin in 1963 at the age of 21, like Athena from Zeus’s head, he appeared fully formed.“ Wenn ich eine andere Stelle bei MacCabe lese, verstehe ich auch, weshalb ich nur die Nummern zwei bis sechs der Zeitschrift habe: „… it tells much both about the times and the man that, when the first issue had been roneotyped and collated, he decided that one of the articles was not worthy of distribution and he used a pair of scissors to cut the offending piece out of each and every issue of the magazine.“ In der ‚Publisher’s Note‘ von Nummer 2 (Februar 1966) beklagt sich Engel selbst über das „Schülerzeitungsaussehen“ von ‚kino‘, will aber den „geleckten Zeitschriften“ keine weitere hinzufügen: „Lieber etwas ungeschickt als zu glatt.“ Jedes Titelbild zeigt übrigens ein Still mit einer Filmdarstellerin, die Rückseite das eines Filmdarstellers, und zwar monochrom, jedesmal anders eingefärbt (Fomat A5). Die Texte von ‚kino‘ sind wirklich (nicht nur typographisch, sondern auch inhaltlich) ein ziemlich wüstes Sammelsurium – die Spannbreite geht von Hollywood und der Nouvelle Vague bis zum Experimentalfilm, es gibt ausgearbeitete Aufsätze und spontane bis wütende Stellungnahmen, auch wichtige Abdrucke (in englisch). Die wilden Anfänge sind da noch drin. Aber immer geht der Blick auch in die andern Sprachräume.

Ich kann im folgenden nur ein paar Hinweise geben, die das vielleicht deutlich machen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit natürlich). Nummer 2 beginnt zum Beispiel mit einer Polemik von Engel gegen die erste Ausgabe einer Broschüre, „atlas schmalfilm aktuell“, die sich bei den Kunden mit dem „guten“ 16mm-Film „als Bildungs-Instanz“ statt eines „billigen Volkskinos“ anbiedert, gleich darauf gibt es, sozusagen programmatisch, einen Text zu Straubs Nicht versöhnt von Otmar Engel (nicht verwandt mit dem Hrsg.), einen Aufsatz von Werner Dütsch zu Philippe de Broca (‚Der Reaktionär als Gagman‘), Johanna Kratzsch schreibt über ‚Muss man betrunken sein, um Kristlfilme zu verstehen?‘, dann ein Abdruck von Raymond Chandlers ‚Oscar Night in Hollywood‘ (1948, in englisch), Georg Alexander fahndet in ‚Die Fahndung‘ nach der „wahrhaft kritischen Kritik“, Gert Delp verwirft in ‚Godard 60 – 65‘ Alphaville und Andi Engel in ‚Zu Munks Pasazerka‚ ebendiesen Film … (Der Abdruck eines aus dem Spanischen übersetzten Texts zu Richard Lester ist von Engel später bereut worden.)

Gert Delp, der Godardianer, war wenig später, Herbst 1966, Student im ersten Jahrgang der Deutschen Film- und Fernsehakademie, wie auch Gerd Conradt, der in Heft 5 über ‚Junge italienische Filmer‘ schreibt (Bertolucci, Bellocchio, Scavolini, Leonardi, Frasca, Grifi, Turi, Capanna; Conradt hatte eine zeitlang in Rom gelebt), und der in Graz geborene Günter Peter Straschek, der in Heft 6 mit ‚Vor, während und nach Schicklgruber‘ vertreten ist (darin klingt seine spätere Beschäftigung mit dem Filmexil schon an und geht es in Teil 2 um die Berliner Filmlinke und die Auseinandersetzungen an der DFFB).

Die späteren WDR-Redakteure Georg Alexander und Werner Dütsch sind mit weiteren Texten vertreten: über den Kameramann ‚Gianni di Venanzo‘, über ‚La lunga notte del 43‘, ‚Viva Brooks‘ (Alexander) und ‚Der gewöhnliche Faschismus‘, ’19. September‘ (den Film von Robert van Ackeren über die 65er Wahlkampfreise von Willy Brandt), ‚Ich, erste Person Einzahl‘ (über die Filme von Vlado Kristl) (Dütsch). Andi Engel selbst verteidigt ‚Zur Sache Fleisch‘ (den Film von Brian Wood, Kamera Oimel Mai, der in Ulm, an der Hochschule für Gestaltung, entstanden ist) und führt auch Interviews, etwa das mit François Truffaut (zusammen mit Elke Kummer), einen Tag nach der Vorführung von Fahrenheit 451 in Venedig. („Truffaut schien recht niedergeschlagen und sagte Verschiedenes, was wir nicht auf Tonband aufgenommen haben“). Weitere Interviews (meist übernommene bzw. übersetzte): mit Wolfgang Staudte, Zbigniew Cybulski (dem polnischen James Dean), Buster Keaton (Gespräch mit Dr. Herbert Feinstein, 6.10.1960 in San Francisco), George Axelrod, Burt Lancaster (beide wieder mit Dr. Feinstein). Direkt vor dem Interview mit Lancaster steht das von Engel in englisch geführte mit dem in Deutschland völlig unbekannten Experimentalfilmer Alfredo Leonardi.

Bemerkenswert scheint mir auch der Name Jaap Sanders, der, glaube ich, Protagonist der Amsterdamer Provo-Szene war (‚Über Symbole‘, ‚Zur Traumdarstellung im Film‘ in den Heften 4 und 5). Politik scheint in dieser Vor-68er-Zeit für Engel (aber nicht mehr lange) noch etwas mit den filmischen Provokationen des Undergroundfilms und Positionen des New American Cinema zu tun zu haben. In Heft 6 (November 1967) ‚Die Filme von Peter Kubelka‘ von Mechthild Rausch, gefolgt von einem Text von Franco Mogni zu Glauber Rochas Terra em Transe (‚Von der Poesie zur Revolution‘), ‚On Film No 4‘ von Yoko Ono und ‚Yoko Onos Film No 4‘ von Luy Tratter, ‚Filmtext‘ von Ernst Schmidt, ‚Towards a new Sound-Complement for Motion Pictures‘ von Gregory J. Markopoulos (Rome, 13/10/67). Davor schon, in Heft 5 (Juni 1967), ‚Yellow Sky. Der Western als Realisationsprozess einer Ethik‘ von Peter Weibel (!).

Bemühungen um Vergessene: ‚Eine schwarze Betrachtung‘ (Heft 4) und Text und Lebenslauf des Dokumentaristen und Kulturfilmers Willy Zielke (Heft 6). Ebenfalls in Heft 6: ‚Wie ich mit Eisensteins Oktober-Film bekannt wurde‘ des 1931 verstorbenen Komponisten Edmund Meisel. Für letzteren setzte sich Jay Leyda ein (‚Zu einem Versäumnis‘), der sich sogar fragt, ob dessen völliges Verschwinden aus der Filmgeschichte damit zu tun habe, „dass man ihn mit einem anderen Filmkomponisten namens Meisel verwechselt, mit dem er nicht verwandt war, und der völlig bedeutungslose Filmmusiken schrieb“.

Len Deighton liefert in Nr. 3 einen Originalbeitrag: ‚Films and me. A personal view by Len Deighton‘. In Nr. 4: Jay Leyda, ‚Was ist denn das, französische Dokumentarfilme?‘. In Nr. 5: ‚Stroheim’s Greed reassessed‘ von Joel W. Finler, und in Nr. 6: ‚Stroheim’s tribute to D.W. Griffith‘ – die Rede, die Erich von Stroheim einige Wochen nach Griffiths Tod in Los Angeles hielt. („Die Rede wurde von der BBC in Paris aufgenommen und am 30/12/1948 im Dritten Programm der BBC gesendet.“) Danach Anmerkungen zu Filmen, die Griffith 1908 bis 1913 für die American Biograph Company drehte, von Jay Leyda.

Parallel dazu laufen Bemühungen, kleinere Filme zu produzieren und Filme zu verleihen, die sonst keine Chance haben: ab Januar 1968 gibt es den ‚kinos Verleih‘, mit Sitz in Frankfurt am Main (d.h. Andi Engel hatte sich mit Luy Tratter zusammengetan). 1968 folgte Engel seiner Freundin Pamela Balfry (die er 1967 auf dem Festival in Knokke kennengelernt hatte) nach England, verlieh dort Chronik der Anna Magdalena Bach, gründete ‚Politkino‘ und wurde 1976 mit ‚Artificial Eye‘ endgültig zum distributor des ‚anderen Kino‘ in Grossbritannien. Colin MacCabe: „Andi Engel devoted his extraordinary energy for over 30 years to bringing the best of European and world cinema to London and thence to the network of art cinemas around the country. Any Londoner who loves film encountered his work whenever they visited the Camden Plaza or the Lumière, both now sadly missed, or when they visit the Renoir and the Chelsea which continue to project images and sounds of the very highest quality both technically and aesthetically.“ [Die genannten Kinos wurden von Balfry/Engel im Lauf der Zeit erworben.]

Dann gibt es noch ‚Enthusiasm‘, das Projekt einer Filmzeitschrift von 1975: es blieb bei einer einzigen, Huillet/Straub gewidmeten Nummer – erst ein Vierteljahrhundert später folgte Nummer zwei. Das ist abseitig genug, um einen jungen Huillet/Straub-Adepten wie Andy Rector (Los Angeles) auf die Fährte von ‚Enthusiasm‘ zu setzen … (Auf seiner Kinoslang-Seite ist zudem ein Text von Andi Engel von 1970 über Huillet/Straub zu lesen.)

Andi Engel ist in Klassenverhältnisse zu sehen: neben Alfred Edel als Oberkellner spielt er dort den Oberportier.

***

Nachtrag: Die erste Ausgabe von ‚kino‘ gibts in der Bibliothek im Filmhaus, Potsdamerplatz! Hektographierte, maschinengeschriebene DIN A4-Seiten, arg vergilbt, die unteren Zeilen stellenweise sogar abgeschnitten … aber mit überraschendem Inhalt! Nämlich mit drei Interviews, die auf der Titelseite (unter einem Foto aus Godards Bande à part) stolz als Erstdrucke ausgewiesen werden: ein Gespräch mit Jean-Luc Godard von Michael Klier und Frank Grützbach (auch er 1966 Student an der DFFB), Juni 1964 in Berlin aufgenommen; ein Gespräch mit François Truffaut von Michael Klier, Oktober 1963 während der Dreharbeiten zu La peau douce in Paris geführt (beide Interviews wurden von Klier übersetzt); ein Gespräch mit Donald Ritchie über Ozu-Filme von Gert Delp, Extrakt einer fünftägigen Unterhaltung im Juli 1963 in Berlin.

Aufmachen tut Heft 1 jedoch mit ‚L’art d’aimer‘, dem Text von Jean Douchet aus ‚Cahiers du cinéma‘ No 126 (Dezember 1961), übersetzt von Gert Delp. (Der Text ist zusammen mit einer kleinen Nachbetrachtung von Frieda Grafe nachzulesen in ‚Meteor‘ No 4, Wien 1996, übersetzt von Birgit Flos.) Kritiken zu Fullers Pickup on South Street von Delp und Klier, zu Boettichers The tall T von Delp und Decision at Sundown von Hans-Joachim Köhler, zu Jugerts Kennwort Reiher von Andi Engel.

Unklar übrigens, wann genau dieses mit ziemlich vielen Schreib- und Grammatikfehlern behaftete erste ‚kino‘-Heft erschienen ist. Die genannten Mitarbeiter waren da gerade mal Zwanzig oder knapp darüber; Michael Klier hat in diesen Jahren seine ersten Kurzfilme gedreht; Delp hat an der DFFB zwischen 1966 und 1969 einige Filme gemacht, dann aber das Metier aufgegeben. (Bei seinem Abschlussfilm, sagt man, habe er die Darsteller bei laufender Kamera in der Wohnung alleingelassen, um sich Zigaretten zu besorgen … Später war zu hören, er sei Fluglotse geworden.)
‚Enthusiasm‘ No. 1, December 1975, ist auch da in der genannten Bibliothek (nicht aber No. 2): als ich das Titelblatt zu Gesicht bekam, hatte ich einen Wiedererkennungseffekt – das gut gestaltete Heft macht wirklich auch als einzelnes Eindruck. Es gibt darin das Interview von Andi Engel mit Huillet/Straub (zusammengesetzt aus zwei Gesprächen, Februar 1969 in London und August 1975 in Edinburg), ‚After Othon, before History Lessons: Geoffrey Nowell-Smith talks to Jean-Marie Straub and Danièle Huillet‘, ‚A Work Journal of the Straub/Huillet film Moses and Aaron by Gregory Woods‘, ‚Notes on Gregory’s Work Journal by Danièle Huillet‘, eine Filmographie und vor allem sehr viele, zum Teil ganz unbekannte Fotos.

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