Samstag, 07.07.2007

Lissabonrapport

Olaf Möller aus Köln hatte eine Filmreihe zusammengestellt für das Indie Lisboa Filmfestival mit deutschen Filmen aus den letzten 20 Jahren, „A German Cinema“, und mich gefragt, ob ich Lust hätte, diese Reihe in Lissabon zu begleiten.
Ja.
Vom 19. bis zum 30. April dieses Jahres war ich dann in Lissabon. Das Filmfestival hatte mich eingeladen, die deutschen Filme zu präsentieren und mich auch noch in eine Kurzfilmjury gesteckt, das Goetheinstitut den Flug bezahlt und das Hotel. Ich war das erste Mal in einer Jury, ich war das erste Mal auf einem Festival mit einer Mission, mit der Mission, die Reihe „A German Cinema“ zu begleiten. Olaf Möllers Text zu dieser Reihe und der Text von Cristina Nord, die in Übersetzung in der Broschüre des Festivals erschienen, sind hier (Möller) und hier (Nord) auf Deutsch zu lesen. Die Broschüre heißt „A German Cinema“ und enthält auch ein Vorwort von Helmut Färber, das aus drei Zitaten besteht, die ich abgeschrieben habe und die weiter unten zu lesen sind, und die Übersetzung eines Texts, den Ekkehard Knörer, Volker Pantenburg, Stefan Pethke, Simon Rothöhler und ich 2006 für die österreichische Filmzeitschrift „kolik.film“ geschrieben hatten. Die ISBN der Broschüre ist: 978-989-95007-6-1

Ich möchte etwas schreiben, dachte ich, was etwas erzählt über das Auf Festivals Sein. Ich wollte auch über das Jurorsein schreiben. Aber schon beim Jurorsein war ich dann zu sehr damit selbst beschäftigt, als dass ich noch über das Jurorsein hätte schreiben können. Es muss also woanders darüber geschrieben werden. Ich wollte auch über die Filme der „A German Cinema“-Reihe schreiben, über Valeska Grisebachs MEIN STERN (2001), Michel Freerixs CHRONIK DES REGEN (1990), Irina Hoppes DEUTSCHLÄNDER (1994), Christoph Hochhäuslers FALSCHER BEKENNER (2005), Wolfgang Schmidts NAVY CUT (1992), Romuald Karmakars DIE NACHT SINGT IHRE LIEDER (2006), Aysun Bademsoys AM RAND DER STÄDTE (2006), Markus Nechlebas MALEREIEN UND GRAVIERUNGEN (1998), Boris Schafgans‘ STAAT UND LIEBE (2000), Christian Petzolds DIE INNERE SICHERHEIT (2000), Ulrich Köhlers MONTAG KOMMEN DIE FENSTER (2006), Thomas Arslans 19 PORTRÄTS (1990) und IM SOMMER, DIE SICHTBARE WELT (1992), Herbert Schwarzes ALS UNSERE LIEDER NOCH WILD UND GEFÄHRLICH WAREN (2005), Thomas Schultzs DAS LAGER (1986), Stefan Hayns EIN FILM ÜBER DEN ARBEITER (1997), Angela Schanelecs ICH BIN DEN SOMMER ÜBER IN BERLIN GEBLIEBEN (1993), Gerhard Benedikt Friedls KNITTELFELD: STADT OHNE GESCHICHTE (1997), Christoph Willems‘ DER MANN AUS DEM OSTEN (1991), Rudolf Barmettlers MINI HÄND WERDIG RUCHER, IMMER RUCHER (1997), Hito Steyerls NOVEMBER (2004), Volkmar Umlaufts RÜCKKEHR (2001), Anna Faroqhis DER MEHRWERT DER LIEBE (2001) und Ludger Blankes DER TOD DES GOLDSUCHERS (1989).

Die meisten der Filme habe ich in Lissabon ein- oder zweimal gesehen; manche dort auch zum ersten Mal, weil es keine VHS oder DVD von ihnen aufzutreiben gab von Berlin aus. Zu den meisten der Filme habe ich in Lissabon kleine Einleitungen gemacht. Ich notierte deswegen, schon vorher in Berlin und während der Tage in Lissabon, immer wieder etwas zu diesen Filmen, aber das muss zu anderen Gelegenheiten nochmal anders aufgeschrieben werden, konziser, klarer, zusammenhängender. Das meint: Die tolle Reihe müsste so, wie sie in Lissabon lief, oder auch noch weiter, ausgeführter, auch in Deutschland zu sehen sein in den Kinematheken.

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Donnerstag, 19.4.2007

Ich liege in meinem Hotelzimmer auf dem Bauch und kann Emails empfangen. 25 Grad Celsius draußen, gleich Eröffnungsfilm.

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Freitag, 20.4.2007

Heute Regen. Warmer Regen, schwül, ab und an angenehm auffrischender Wind. Ein Balkon in der Größe des Muskauerstraßenbalkons. Das Hotel liegt im Norden der Stadt, viele Neubauten. Man fährt eine Weile, um an den Tejo zu kommen. Blickte man nach Osten, sähe man die unbebauten Ränder der Stadt. Die Polizeiautosirenen haben diesen wimmernd spiraligen San-Francisco-Sound. Einen Filmkritiker aus Barcelona und einen aus Newcastle kennengelernt, gestern, auf dem Empfang nach dem Eröffnungsfilm; und heute Morgen baten sie mich an ihren Frühstückstisch. Man merkt beim Reden über die deutschen Filme, dass bei den meisten einiges durcheinandergerät. Eugene Green ist sehr klein und hat verwuschelte Haare. Er sprach schnell schlecht vom amerikanischen Kino, das Kommerzielle ist ihm nicht geheuer, aber SCHLÄFER von Heisenberg, den wir doch alle so lala fanden, den fand er toll. Dann wollte er mir noch eine DVD von PONT DES ARTS geben, aber ich habe dankend abgelehnt, weil es ja schon eine in Berlin gibt bei E oder V. Jetzt vor dem Umziehen reagiere ich ganz allergisch auf Besitzzumutungen. Die Filmprojektionen fangen immer erst um 15:00 an. Der Eröffnungsfilm gestern war mies. Ein remix des Glawoggerschen MEGACITIES-film von den Sofa-Surfers. All das, was im Glawoggerfilm schon nervig war, wird in dem Remixfilm wie vergrößert ausgestellt und mit ziemlich öder, clubkompatibler Lounge-igkeit verschnitten. Bei Glawogger hat man immer diese Kapitel, New York, Dehli, Mexiko City, St. Petersburg, im Remix-film sind die Handlungen daraus auf continuity neugeschnitten, das heißt: In Dehli fährt einer mit dem Bus und das wird dann übergeblendet auf einen Busfahrenden in Mexiko-City und immer soweiter, Loop halt, in dem jeder Impuls eines Einsatzes verschwindet. Staatsgeldverbraterei. Die Leute, die das Festival hier machen, sind aber prima. Das Festival vom ersten Tag an als so eine Mischung aus Weltkinoenthusiasmus und Viennale-Mimikry gesehen. Wenn man nicht aufpasst, droht das natürlich auch, wie immer, schief zu gehen. Ich habe Tickets fürs Umsonstessen in einer Kantine bekommen und auf die Geldfrage wird ausweichend geantwortet. Mal gucken. Gestern beim Durcharbeiten des Katalogs zwei Stunden in einem Cafe gesessen und reichlich Kuchen und Cafe gehabt und nur 3,60 Euro bezahlt. Eine Halbliterflasche Wasser kostet 35 Cent in teuren Läden. Bald fühle ich mich wie Josef Bierbichler in Afrika. Das Portugiesische ist sehr geheimnisvoll. Vom Flughafen hat mich eine Frau abgeholt, die sah aus wie das kleine Mädchen aus MES PETITES AMOUREUSES. Sie macht etwas mit Medien. Die kleinen Mädchen aus MES PETITES AMOUREUSES machen heute alle was mit Medien. Die Broschüre zu „A German Cinema“ ist ganz schön, jedoch merkt man ihr den Zeitdruck an. Am Anfang gibt es noch einen kurzen Text, von Färber kompiliert mit ungekennzeichneten Zitaten; man kann sich gar nicht vorstellen, dass Färber das Belegen vergessen hat. Mit furchtbar vielen Rechtschreibfehlern und Buchstabendrehern. Im Vorwort der Herausgeber steht, Färber sei der einflussreichste deutsche Kritiker. Was für eine schöne Verdrehung! Ich musste an die merkwürdige Passage mit Alice aus Gs Hausarbeit denken. Ab Dienstag habe ich mehr Zeit, dann habe ich das deutsche Panel (Sonntag) und zahlreiche Kurzfilme abgearbeitet. Jetzt gleich lunch, dann Kurzfilme, dann Sachen von New Crowned Hope und etwas Ungarisches, das sich interessant anhört. Schön hier, und schön auch, das schöne Elektrische aus Berlin hier zu haben und nicht die fiesen Wohnungssachen. Das Essen in dem Cafe Magnolia, das die Kantine ist, ist lecker. Ich hatte eine grüne pürrierte Suppe, Risotto, Quiche, Feldsalat mit Parmesan, der hier anders heißt, einen sehr zimtigen Apfelkuchen und einen prima Cafe. R, das Eustachemädchen, setzte sich zu mir und erzählte, ihr Traum sei es, in Schweden zu leben. Schweden ist weit entfernt von Portugal, weswegen es kaum Informationen über das Land gibt. Alle, die sie fragt, sagen, in Schweden sei es immer kalt und dunkel, aber das glaubt sie nicht, bestimmt ist der Sommer in Schweden auch schön. Sie zeigt mir ein Bild aus dem Festivalkatalog, ein schwedischer Junge mit blonden Haaren liegt im Gras und schaut in die Sonne. Das Eustachemädchen arbeitet vom Morgen bis zum frühen Abend beim Festival, danach geht sie noch in ein Callcenter und arbeitet weiter. Jetzt stehe ich vor dem Cafe und rauche eine filterlose Zigarette aus Deutschland, man hatte mich gewarnt, es gibt keine Camel ohne Filter in Portugal. Die ehemals staatliche Zigarettenmarke Portugues ist von Philip Morris gekauft worden, seitdem schmecken sie nicht mehr, sagte mir am Abend eine ältere Frau. Die ältere Frau hatte eine Diskussion mit dem Navettefahrer angezettelt, da ging es darum, dass der Navettefahrer ruhig einmal auf dem Weg anhalten könne, aber der Navettefahrer weigerte sich, weil er Anweisung habe, nicht auf dem Weg anzuhalten und andere im Bus schalteten sich ein in die Diskussion in geheimnisvollem Portugiesisch. Wie war nochmal die Unterscheidung: Pflichtethik vs. was? Auf dem Cover der Deutscheskinobroschüre ist Julia Hummer aus INNERE SICHERHEIT, mit blutiger Lippe und Schramme an der Nase und Erde im Gesicht und dem ungläubig freigeräumten, fassungslosen, aber immer noch störrischen Blick vom Ende des Films. Im Vorwort wird von der recovery des deutschen Films nach der Fassbinder-Ära gesprochen. Außerdem wird gesagt, Helmut Färber sei „the most influential critic in Germany“; das schrieb ich aber schon. Färbers Text, die Zitatmontage, heißt „Ideas for a manifesto“ und hat fünf Absätze im Hauptteil und zwei Zitate am Rand des Textes. Ich korrigiere die Übersetzungs- und Flüchtigkeitsfehler stillschweigend.

What the modern movie lacks is beauty – the beauty of moving wind in the tree, the little movement in a beautiful blowing on the blossoms in the trees. That they have forgotten entirely.
D.W. Griffith, 1947

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After the last rains left the sky for earth, making the sky clar and the earth a damp mirror, the brilliant clarity of life that returned with the blue on high and that rejoiced in the freshness of the water here below left its own sky in our souls, a freshness in our hearts.
Fernando Pessoa, The Book of Disquiet

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We make films as members of society, although there are many people who make films, or see films today, and who think that we live on Mars, or the planet in Terminator, or wherever, but no, we live in a society, Japanese, Portuguese, English, but it’s a society, and we are living on the planet Earth. Upon what, finally, is this society based? What happens in this society, ours? I submit – and I think that I am not wrong to say that Chaplin, John Ford, Ozu, Mizoguchi, and all the great directors would agree – that in our society we are doing business. That’s what happening. Yes, there are unjust deals, deals which are not right in the two senses of the word, not right in the sense of social unjustice, and in the sense of being out of key, of tune.

This seems abstract, but really it’s not. If we return to the subject of working with feelings, I would say that one thing we can’t do in the cinema is be in the business of selling feelings. What do I mean by that, the business of selling feelings? Roughly speaking, it’s practically all the films that are made today in America. They are trading on our feelings. That is to say, an image is not like a yen note or a dollar. The image is something else that has a true value. Money has no value.

An image, a sound, the gaze of an actor, or the shock between two shots in sequence – these cannot be like some currency, like an act of commerce. An image and a sound together must be like the first thing in the world. It’s just that simple: they must be an explosion. You directors who want to make films, you must work to make each shot, each image, each speech from an actor, each sound, you must work to make theme like the first shot ever made, the first sound ever made. That doesn’t mean originality or something like that. Not at all, in fact it’s exactly the opposite. It’s a matter of working with the oldest feelings, as Chaplin did. He worked, and worked, and worked, to show feelings as if it were the first time.

Besides, great directors are never original. They are discreet, almost anonymous. Think of John Ford: At the end of his life, he is very flat, almost anonymous, like Chaplin or Ozu. So, it has nothing to do with being more clever than somebody else, because then one would still be in the business of selling feelings, still being competitive.

To disgress briefly, because this is a very nice little story: there was an old professor of film giving a course on direction, and he showed Dreyer’s film The Word (Ordet, 1954) to his students. At one moment, a few of the students laughed during the film, and after the end of the film, the professor said to them: „Look, if you start laughing when you hear the word ‚God‘, you’re never going to make a film.“

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Samstag, 21.4.2007

Am Eingang des Kino LONDRES hängt ein schönes großes Plakat von Wolfgang Schmidts NAVY CUT, das ich eine Zeitlang gesehen hatte in Michels alter Wohnung in der Goltzstraße. Das war die Parterrewohnung und man stieg im Sommer durch das Fenster des Arbeitszimmers, um in den Garten zu gelangen. Dort sitzt Michel ja auch in seinem Film CHRONIK DES REGENS. Ich sitze auf meinem Balkon im Hotel LUTETIA, gegenüber ist das ROMA, so heißt auch der Platz hier und die Straße, die hinunter in die Stadt führt. Gestern habe ich mich beim Abendessen im Cafe Magnolia mit der Frau unterhalten, die für die Untertitelung der japanischen Filme zuständig ist. Sie hat eine Weile in Leipzig gelebt und spricht daher auch Deutsch. Sie arbeitet als Näherin in einer Eventagentur, wenn sie nicht Untertitel macht. Der Regisseur Suwa, dem hier letztes Jahr eine Retrospektive gewidmet war, sei ein feiner Mensch. Letztes Jahr, am Nationalfeiertag, dem 25. April, der an die Nelkenrevolution in Portugal erinnert, war er mit einer Nelke im Knopfloch zum Publikumsgespräch erschienen. Das Wappentier des Festivals ist ein Rabe. Auf die kleinen, weiß-gräulichen Steine der Bürgersteige sind stilisierte Abdrücke des Rabens aufgepinselt, die Dir den Weg weisen zu den Festivalorten, das sind das Forum Lisboa, das Kino Londres und das Kino King. Das Hotel Lutetia, ein Hochhaus aus den 70ern wohl, liegt direkt neben dem Kino King. Alles ist innerhalb von 5 Minuten zu erreichen. Um 15:15 habe ich mir FANTASMA von Alonso angeschaut. Das ist der Film nach LOS MUERTOS und er ist installativ. Man sieht da in Plansequenzen ein paar Leute ein Haus erkunden, das ist ein funktionales Haus inmitten einer Stadt, ein Kino. Da ist der Hauptdarsteller aus dem MUERTOSfilm und da sind zwei andere Männer und eine Frau und der Film zeigt, dass sie sich immerzu verpassen, irritiert von sich und dem Ort und ihrem Dasein und schließlich sitzen sie im Kino und gucken den Film LOS MUERTOS, dessen Vogel- und Wald- und Flussgeräusche immer wieder zu hören waren in unterschiedlicher Intensität. Beim Gucken bemerkte ich meine Erschöpfung von der Reise und den letzten zwei Wochen in Berlin, das Streichen der Wände, die Nachmietersuche, die Probleme, die der Vermieter mir bereitet, die Geldprobleme. Der Film kam mir angesichts dessen selbstgefällig vor, was er, glaube ich jetzt, doch nicht ist, aber zwischendurch schlief ich doch in ihm ein, wohl weniger wegen des Films, sondern wegen der Erschöpfung. Dann war Zeit für einen Cafe und ich begegnete auf der Straße einem der Leiter des Festivals, Miguel. Er sagte, er habe eben Karmakar getroffen, Karmakar, dem ich mich noch vorstellen wollte, Karmakar sei in dieses Cafe gegangen, bestimmt fände ich ihn dort, um mich ihm vorzustellen, aber als ich in dem Cafe ankam, war Karmakar schon verschwunden. Ich trank einen Cafe und aß einen Kuchen und dann habe ich zwei Filme aus Portugal gesehen, zwei Kurzfilme, die ich zu jurieren habe. Das war ein Film auf Video aus Bombay, das ja wieder Mumbay heißt. Ich wusste nicht, dass das eine portugiesische Kolonie war, davon wird in den Vorspanntiteln berichtet, Bom Bahia heißt sowas ähnliches wie schönes Leben. Der Film kam mir vor wie ein Sequel des Sofa-Surfer-Remixes der Glawoggerschen Megacities. Das Verhältnis der Regisseurin zu der Stadt ist aber noch touristischer und wie zum Beweis besteht der Film vor allem aus Realisierungen der Bedienungsanleitung der Digitalkamera und dem neuen Schnittprogramm. Die Shutterfunktion ist so genutzt, dass der Fluss der Bilder in Einheiten zurückversetzt wird und wohl das fotografische Moment akzentuiert aufscheinen möge. Dann aß ich in der Kantine zu Abend und sprach mit der Untertitelfrau. Dann sah ich OLD JOY von Kelly Reichardt mit Will Oldham, ein schöner Film. Auf dem Weg vom Cafe zum Kino hatte ich H auf der Straße getroffen, der mir da schon sagte, dass das ein außergewöhnlicher Film sei, vielleicht der außergewöhnlichste Film aus Amerika aus den letzten Jahren. Dann habe ich den tollen Punkfilm aus den Philippinen, SQUATTERPUNK von Khavn de la Cruz gesehen, bei dem ich die ganze Zeit an Ss Musikfilmprojekt denken musste. Die ganze Zeit schon mache ich mir Gedanken über das Panel zur Filmauswahl. Heute Morgen nach dem Frühstück war ich an den Fluss gefahren und bin spazierengegangen. Es ist wieder warm, vielleicht 26 oder 27 Grad, aber der Wind weht fein und frisch. Ich stieg nach der Rückfahrt in der Metrostation Roma aus und endlich begegnete ich dort Karmakar. Ich half ihm beim Einkaufen von Fahrscheinen und wir verabredeten ein Treffen morgen beim Frühstück. Alle sind hier im gleichen Hotel, dem Lutetia, untergebracht. Der slowenische Filmkritiker, der in Barcelona lebt und der englische aus Nordengland. Beim Mittagessen lernte ich den Herausgeber von Cinemascope kennen, M aus Vancouver. Nuno Sena erzählte, wie er etwa 5 Minuten lang den Film DER MANN AUS DEM OSTEN anmoderierte und dann Christoph Willems zum Mikrophon gebeten hatte und wie Christoph Willems nur gesagt hatte: „I shot this film in 1992 and I am no filmdirector anymore“. Es sei irritierend gewesen, eine Situation, auf die ich mich vorzubereiten habe. Ich muss nachschauen, ob Karmakar in der Filmakademie ist. Ich überlege, was ich Karmakar und Willems fragen kann und ich überlege, was die Leute in Lissabon interessiert. Die Leute in Lissabon sind ja solche, die die Filme hier zum ersten Mal sehen und die wer weiß was vom deutschen Film denken. Es ist sicher zu vermeiden, vom deutschen Film zu sprechen. Die Filmakademie denkt, sie sei der deutsche Film. Die Deutsche Exportunion denkt, sie sei der deutsche Film. Die Leute in den Festivals denken, sie seien der deutsche Film. Und so Leute wie wir kämen gar nicht auf den Gedanken, der deutsche Film zu sein. Dabei fällt mir wieder ein, nachzuschauen, ob Karmakar in der Filmakademie ist. Ist er nicht. Ich durchblättere die Mitgliederliste der deutschen Filmakademie. Es sind viele Techniker darin und die Handwerker und die Schauspieler und eine Handvoll Regisseure und Autoren. Lass sie der deutsche Film sein. Der deutsche Film ist ein seltsames Thema.

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Sonntag, 22.4.2007

Ich kam gestern spät zurück ins Hotel von einem langen Abend mit Christoph Willems. Ich war am Nachmittag müde gewesen, nachdem ich ein paar Stunden in der Unterstadt verbracht hatte. Einer der New Crowned Hope Filme, ein Film aus Indonesien, war zu sehen, OPERA JAWA. Es gab eine Einführung von Simon Field, der für Rotterdam gearbeitet hatte und der in diesem Brechtdrillichlook mit weiten Ärmeln und dunkelgefärbter Baumwolle und kurzgeschnittenen grauen Haaren und dichen Augenbrauen sehr artikuliert ausgeglichen über das Mozartprojekt sprach. Aus dem Film, der gesungen und getanzt ist, war ich rausgegangen nach einer Zeit, weil mir die Musik und der Gesang nicht gefiel, aber das sagt ja nichts über den Film. Mir war in den Straßen aufgefallen, dass viele alte Leute, Männer und Frauen in abgetragener Kleidung, einfach herumstehen auf den Straßen und nichts sonst zu tun haben, aber das Rumstehen machen sie sehr schön. Überall sind kleine Cafes mit langen Tresen, an denen Leute stehen und Cafe trinken und Kuchen essen und überall sind auch alte Männer in Drillich. Sie verkaufen Lotterielose. Heute Morgen gab es dann die Verabredung mit Karmakar und Willems und Nuno Sena und wir sollten über das Podium sprechen und ich fragte Karmakar nochmal, ob er in der Filmakademie sei. Er sei wieder ausgetreten, schon nach einem Jahr, aber nicht wegen der Strukturen. Sein Herz sei gegen die Filmakademie. In Deutschland wäre ein Panel mit Baute, Karmakar und Willems eher eine SigiGoetz-Veranstaltung oder eine merkwürdige Sache, in die man ohne zu schockieren noch Peter Berling als Walfänger einbauen müsste. Ich mochte das merkwürdige Nebeneinanderherreden und besonders das Nichtverstehen des Christoph Willems und war plötzlich sehr entspannt vor der kommenden Veranstaltung, heute Nachmittag um 17:00 im Cinema Sao Jorge, das ist der vierte Veranstaltungsort, ein altes Kino im Zentrum der Altstadt. Dorthin fährt man mit der Navette, vielleicht ist der Busfahrer von neulich wieder hinterm Steuer und die alte Frau. Ich habe immer noch nicht herausbekommen, was das Gegenteil von Pflichtethik ist. Beim Kurzsprechen mit dem slowenischen Filmkritiker aus Barcelona nach dem indonesischen Newcrownedhopefilm war mir das mit der Uniformität und der Monokultur des Filmsprechens wieder eingefallen und Erinnerungen an die Anzugträgerkolonnen in Tegel, Frankfurt und Lissabon spülten sich hoch. Beim Unaufmerksamsein während der Panelvorbereitung am Frühstückstisch ließ ich meinen Blick schweifen auf die umliegenden Tische: wir, die drillichtragende Festivalkultur. Das ist die Gefahr. Ich erinnere mich beim Aufschreiben an die Motivation damals, die Filmgespräche zu machen mit L und S. Das war wegen des anderen Sprechens und das ganz unkalkuliert Verquere und Unpassende des Sprechens des Christoph Willems erschien mir als Rettung und das Wurschtige und latent Agressive des Karmakar auch. Ich ging duschen und legte mich auf den Bauch und schreibe V eine Email mit diesen Überlegungen und es klopft an der Tür und Christoph Willems bringt mir eine DVD seines neuen Films, LIMIT. Gleich muss ich zu einem Essen mit meinen Jurorkollegen, dann muss ich mir den Deutschefilmekatalog nochmal anschauen, dann ist das Podium. Dann muss ich mir weitere portugiesische Kurzfilme anschauen. Gestern hatte ich vier portugiesische Kurzfilme gesehen, einen, der wie ein Videoclip ohne Musik war, den jemand gemacht hatte als Trailer für ein Tanzfestival in England mit Schülertänzern, die sich wie Tiere in einem Wald bewegen. Dann gab es einen langsamen Film mit planer Cinematographie. In dem Film werden Sätze in das Nichts gesprochen, ein Paar mit Kindern, ein Besuch in einem Museum, ein Wolkenbeobachter und eine Kunstliebhaberin und es gibt ein paar Sachen, die schön waren. Dann gab es einen Film, über den ich mir mehr Gedanken machen möchte, mit einer merkwürdigen rauchigen und ferngequälten Männerstimme aus dem Off und dunklen Bildern und Masken und Marionetten und einer ganz unwirtlichen Stimmung, der mich sehr beeindruckte. Dieser Film, ich denke plötzlich wie ein Juror, kommt für einen Preis in Frage, dachte ich. Ich muss in den nächsten Tagen mehr aufschreiben über das Jurorsein, ich hoffe, es nervt nicht. Als Juror hat man einen reservierten Platz in den Kinos auf dem „JURI“ zu lesen ist und die Leute auf den anderen Plätzen drehen sich zu einem und tuscheln und denken, denkt man: Da sitzt der Juror. Der letzte Film des Programms war ein Film, der mit viel Beifall bedacht war vom Publikum und ich münzte diesen Beifall um und empfand ihn nun als unzulässige Beeinflussung der Jury und störrisch schüttelte ich innerlich den Kopf über diesen Film, der schön aussah, aber doch zu blöd war.

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Montag, 23.4.2007

Es ist schon halb Elf, ich bin vom Frühstück gekommen und sitze auf dem Balkon und eben hat die Putzfrau sich verabschiedet. Das ist die bisher zweite Putzfrau, die ich kennenlernte, sie spricht Französisch, die andere sprach nur Portugues. Ich habe jetzt eine Stunde Zeit zu schreiben, dann muss ich nach nebenan, über den Platz und die Avenida Roma entlang zum Forum Lisboa zu einem Interview mit einem Radiosender. Es geht um die deutsche Filmreihe. Direkt vorm Hotel ist ein Tunnel, in ihm fährt eine schwere Bahn. Beim Frühstück heute meinte Karmakar, ich müsse auf jeden Fall zu der Brücke am Tejo, auf unserer Seite ist unter der Brücke am Tejo ein Cafe, das Op-Art heißt und man blickt von dort am Abend auf den Sonnenuntergang an der Brücke und die Geräusche der auf der Brücke fahrenden Autos sind wunderbar und ganz anderes, als man es von deutschen Autobahnbrücken kennt. Unter deutschen Autobahnbrücken hört man das Bawonnggg… Bawonnggg… Bawong…, die Geräusche der fahrenden Autos auf der Tejobrücke sind aber wie ein Ambientgeräusch, als spiele man auf einer weitgespannten Stimmgabel. Karmakar hat bewegte Bilder mit Ton mit seinem Multimediahandy gemacht, aber der Ton ist zu schlecht, man kann nicht hören, was er vorher mit Worten beschrieb. Das Podium war ganz anders, als ich es erwartet hatte. Eine junge kleine Frau mit Sommersprossen und rotblonden Haaren begrüßte mich, ich war der Erste im Sao Jorge, später kam Karmakar, kurz vor 17 Uhr dann auch Willems. Man geht eine breite Treppe hinauf, draußen ist es hell von der hohen Sonne, auch am späten Nachmittag steht die Sonne noch hoch in Lissabon. Drinnen ist es dunkel, der Boden dunkelbraunes Parkett, die Wände in dunklem Grün. Nach dem Frühstück war ich bei dem Essen mit Miguel, einem der Festivalleiter, und den Mitgliedern der Kurzfilmjury, T aus Schweden, ein Festivalmacher, und I, eine Kurzfilmregisseurin aus Lissabon mit einem Pagenschnitt. Jemand streifte unseren Tisch im Cafe Magnolia und grüßte sie und zeigte mit dem Finger auf ihre Haare. Die Frisur, dachte ich, ist wohl neu, und auf dem Bild in dem Katalog, das sie wegen ihres Jurorseins abbildet, hat sie noch lange Haare. T schätze ich auf Mitte 50, I auf Mitte 30, Neil Young, der englische Kritiker, ist 36, Willems 50, ich bin 38, und Nuno Sena, Rui und Miguel, die drei Leiter des Festivals, sind wahrscheinlich Anfang 40. Miguel, der mit beim Essen war, überreichte uns einen Briefumschlag, in dem ist die Liste der Filme, die zu bewerten sind und die Zeiten, wann sie zu sehen sind, und ein Schlüsselanhänger mit einer kleinen Lampe, damit man etwas nachgucken kann im Dunkel des Kinosaals. Später spielte ich immer wieder mit dieser kleinen Lampe. Viel Zeit verging mit dem Erklären der Preise, einen für den national besten Kurzfilm, einen für den international besten, wenn wir eine besondere Erwähnung wünschen, können wir das machen, es ist nicht gern gesehen, einen Preis zu teilen, die Aufgabe der Jury ist es, eine Entscheidung zu fällen, die Entscheidungen sollen spätestens Samstag, besser noch Freitag dem Festival mitgeteilt werden, es gibt eine Verleihungszeremonie, man muss kurz etwas sagen und schreiben, wieso weshalb warum ein Film einen Preis bekommt. I möchte sich innerhalb der Woche treffen um sich kennenzulernen und schon ein wenig über die Filme zu sprechen. Nach dem Panel im Sao Jorge war ich mit einem Mitarbeiter des Festivals im Navettebus zurück zum Forum gefahren und der Mitarbeiter, der mitverantwortlich ist für die Kurzfilmauswahl, meinte, manche meinen, dass das IndieLisboa-Festival jetzt schon zu groß geworden sei. Aus Gründen der Darstellung wäre es schön, jemanden als Festivaldemiurgen beschreiben zu können. Der Mitarbeiter, mit dem ich nach dem Panel im Navettebus fuhr, ist aber ein Romanautor und er zählte, nach Nachfrage, all die Sprachen auf, in denen seine Romane übersetzt sind: Ungarisch, Serbisch, Spanisch, Italienisch, Französisch, Schwedisch… Und Deutsch auch? Hanser hatte einmal Interesse an einem Buch, es war schon alles klar, aber dann hatten sie einen Rückzieher gemacht. Es fällt mir auf, dass ich gerne über die Leute schreibe und die Leute eigentlich immer verteidigen möchte, weil ich die Leute schon wegen ihres Leuteseins sehr schätzen mag; und dass es aber manche Leute gibt in meinen Texten, die ich mir, auch aus Gründen der Darstellung vermutlich, als den Mächten der Finsternis anheimgefallen vorstellen möchte. Es ist jetzt doch später geworden. Es ist jetzt halb 12. Gleich muss ich zu dem Interview und dann zu einem anderen mit Neil Young, dem Filmkritiker und Programmierer aus Sunderland. Ich habe die ganze Zeit den Herkunftsort des Engländers durcheinandergebracht. Er lebt in Sunderland und programmiert die ausländischen Filme für das Festival in Bradford. Dann werde ich die Filme von Blanke (DER TOD DES GOLDSUCHERS), Schultz (DAS LAGER) und Schmidt (NAVY CUT) einführen, dann habe ich viele Kurzfilme zu gucken. Vielleicht fahre ich am Abend zu der Brücke am Tejo. Nach den Interviews schreibe ich über ein paar Kurzfilme und über das Panel und über die polnische Frau, die über den portugiesischen Film und die Diktatur geschrieben hat und über M, den Herausgeber von Cinemascope und über A, einen Filmemacher aus Lissabon mit einem Weblog, der A aus Los Angeles kennt, und über den Abend auf dem Balkon im Sao Jorge. Karmakar hatte beim Frühstück mit Willems und Sena und mir schon gesagt, er mache keine Show. Als wir dann um kurz vor 17:00 erneut zusammensaßen, diesmal mit der kleinen Frau mit den rotblonden Haaren im ersten Stock des Sao Jorge, hatte Karmakar zu der kleinen Frau gesagt, dass das Podium für ihn dann nicht stattfinde, wenn weniger als 5 Leute kommen. Es kamen 7, aber einer ging, als er sah, dass so wenig Leute da waren oder vielleicht hatte er sich auch mit dem Raum vertan. Ein kleinerer Raum, nicht wie das große Kino Sao Jorge, was ein großer Raum ist, nein, ein kleiner Raum, ein Podiumstisch mit vier oder fünf Stühlen, ein paar Mikrophone. Dahinter eine offene Leinwand. Gegenüber den Tischen Sessel und tribünenartig ansteigend weitere Sessel. Ich war kurz auf die Toilette gegangen und als ich zurück in den Raum kam, saß Willems schon auf dem Podium, links, und sprach für den Soundcheck in das Mikrophon. Willems hatte mir erzählt, er habe eine Zeitlang als Tonmann gearbeitet nach seiner dffb-Zeit. Ich setzte mich dazu, Karmakar saß auf einem der Publikumssessel. Die kleine Frau stellte mich auf Portugiesisch vor und Karmakar lachte und sie stellte Christoph Willems vor und Karmakar lachte und ich sagte auf Englisch in das Mikrophon, dass Karmakar die Sache gerne abbrechen würde, weil sowenige da seien und fragte in das Publikum, ob man sich vielleicht oben im Cafe unterhalten könne ohne Mikrophon und Willems sagte auf Englisch, dass man doch ruhig mal anfangen könne und Karmakar lachte und schüttelte den Kopf und die kleine rotblonde Frau war überfordert und ich war überfordert und das Publikum war überfordert und Karmakar, glaube ich, war auch überfordert von der Situation und Willems auch. Und einer aus dem Publikum, ein jüngerer Mann mit Bart, stellte eine Frage zur Musikindustrie in Berlin, er habe gehört, es gebe in Berlin eine boomende Musikindustrie und Willems fragte nach, was er meine, und der Mann mit dem Bart sagte, er habe gehört, dass es viele Musikunternehmen in Berlin gebe und eine Musikszene mit neuen Bands und Willems sagte, er kenne sich mit Musik nicht so gut aus, er sei ja Filmemacher gewesen und er fragte den jungen Mann, ob er selber Musik mache und der junge Mann erzählte jetzt umständlich in schlechtem Englisch von sich und seiner Musik, er mache nicht wirklich Musik, er habe zwar eine Band mit Freunden, aber ihn interessiere an der Musik mehr die Produktion der Musik und er überlege deswegen nach Berlin zu ziehen und Christoph Willems sagte, er kenne sich damit auch nicht so richtig aus, aber er könne ja mal etwas erzählen über den deutschen Film und er fing an mit der Zeit nach dem Krieg, in der es die Heimatfilme gegeben habe und dann Anfang der 60er Jahre die Winnetoufilme und ein anderer Mann neben Karmakar fragte Karmakar, ob er Lust habe etwas über seine Filme zu reden und Karmakar schüttelte verneinend den Kopf. Und der andere junge Mann wollte nochmal nachfragen, da ging Karmakar mit seiner Jacke und seiner Tasche aus dem Podiumsraum. Ich sagte nun etwas, weil ich der Moderator dieses Panels war und Willems erzählte, dass nach einer Weile die Karl May Filme wiedergekommen seien, aber diesmal als Parodie, Bulli Herbig. Niemand im Publikum hatte je von Bulli Herbig gehört. Niemand im Publikum kannte Bulli Herbig, niemand Katja Riemann. Es ging dann irgendwie weiter, aber auch anders, ich kann jetzt so nicht weitermachen, es ist noch soviel zu beschreiben, zu beschreiben, wie erschöpft ich nach dieser Veranstaltung schließlich war und wie ich nur weg wollte und der Navettefahrer wartete und ich zu einem Kurzfilmscreening gefahren wurde in den Norden der Stadt und wie ich nach dem Kurzfilmscreening immer noch erschöpft war und der englische Filmkritiker mich zum Essen einlud und ich mit dem englischen Filmkritiker swordfish aß und wie der slowenische Filmkritiker aus Barcelona an uns vorbeiging und uns erkannte und sich zu uns setzte zum Essen und wie ich nach dem Essen zu einem anderen Kurzfilmscreening gegangen bin und dort eingequetscht saß auf einem Jurorenplatz zwischen zwei Juroren, die beide dicker waren als ich und schon vorher auf ihren Plätzen saßen, weswegen sie die angrenzenden Lehnen verteidigten und ich mit eingezogenen Armen die Kurzfilme sehen musste in der schwülen schweißnassen Luft des Kinos und wie ich danach erschöpft in mein Hotelzimmer ging und eigentlich schlafen wollte und dachte, dass man nach solch einem Tag nicht einfach einschlafen sollte und mit der Navette noch in die Altstadt gefahren bin zum Sao Jorge, wo man sich abends trifft zu einem Bier, ein DJ spielt Musik, Simon Fields stand an der Theke, ob ich der Bruder von C sei, ja doch, der bin ich, I know C very well, und ich ein Bier, ein Sagres Bohemia, um cerveza por favor bestellte und mit dem Bier auf den vollbesetzten großen ausladenden Balkon mit der steinernen Brüstung trat und zurück in den Saal ging und mich umschaute, es war ein anstrengender Tag.

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Dienstag, 24.4.2007

Ich versuche zu erinnern, was noch geschah, wo ich war und wie es war und die Filme und ein paar Leute. Das Podium war ja dann noch ganz interessant. Der junge Mann, der Karmakar nach seinen Filmen gefragt hatte, fragte nun nach einigen Filmen und Filmemachern und Zusammenhängen, er hatte die Filme Peter Nestlers gesehen und er wusste auch bescheid über die Filmkritik und er hatte GESPENSTER von Christian Petzold gesehen und war in der Lage Unterschiede herzuleiten zwischen diesem Kino und dem Kino der anderen, welches von den Schreibern oft mit diesem anderen Kino, wegen dem ich hier in Lissabon bin, gleichgesetzt wird. Der junge Mann war interessant, es war ein interessantes Gespräch und auch die anderen Zuhörer werden es interessant gefunden haben, denn sie blieben und hörten dem interessanten Gespräch interessiert zu. Ich hatte mich nach dem Podium mit dem jungen Mann verabredet für die Projektion der Filme von Schultz, Blanke und Schmidt am Montag um 15:00, also gestern. Ich hatte in diese Filme einzuführen, es waren vielleicht 20 oder 30 Leute in diesem Kino an diesem Nachmittag. Ich sagte diesen Leuten auf Englisch etwas über Schultz, Blanke und Schmidt, was sie gemacht haben und was die Filme mit dem zu tun haben, was sie gemacht haben und wo sie gemacht waren und wie, und was sie jetzt machen. Den Film von Schultz sah ich da das erste Mal, DAS LAGER. Der Film ist voll mit nahen Einstellungen, schwarz weiß, zum Schluss ein paar Mal in Farbe, aus dem Off auf einer sehr körnig und schmutzig gestalteten Tonspur, ist die Stimme einer Frau zu hören, einen Text spricht sie, der sehr dicht ist und ausufernd und mäandernd zur gleichen Zeit, ein Text, der mich an die mäandernden und absatzlosen Texte von Thomas Bernhard erinnerte, immer wieder kommt dieser Text auf die gleichen Worte zurück und die gleichen Verbindungen der Worte und doch ändert sich etwas im Lauf dieser Worte, in ihrem Sinn. Ich sagte schon, das ist ein sehr dichter Film, ein Erlebnis, etwas, in das man hineingezogen wird, auch wenn man es nicht versteht, es sind oft die gleichen Bilder, ein Fensterrahmen, ein Stück des Trottoirs, ein Wasserbecken, ein Rücken eines alten Mannes, ein Waschbecken, etwas bildet sich nach und nach aus den wenigen Bildern, eine kleine einfache Parterrewohnung, ein alterndes Paar, die Handgriffe des Alltags, und diese Stimme, die einen Text bis zur Erschöpfung vorträgt, der von einer Erschöpfung handelt. Bei dem zweiten Film, DER TOD DES GOLDSUCHERS, von Ludger Blanke, war ein Problem, der Projektor konnte den Magnetton nicht wiedergeben, bei Schultz‘ Film war der Ton noch ein Lichtton, bei den anderen Filmen ist es Magnetton und der Vorführer war verzweifelt, sen son, sen son, sagte er mir. Ich war in die Vorführerkabine gelaufen. With sound, with sound, sagte ich ihm. Sen son, sen son, sagte er mir. Ich holte jemanden vom Foyer mit einer Karte an einem Band, auf der STAFF steht, jemanden, der Englisch spricht, jemanden, dem ich die Sache mit dem Ton auf Englisch erklären konnte und der die Sache mit dem Ton dem Vorführer auf Portugiesisch erzählt. Der Film wurde dann weitergezeigt, ohne Ton, sen son, und er wird wiederholt mit Ton am Donnerstag oder Freitag. Ich ging dann die Avenida Roma hinunter mit dem jungen Mann vom Podium von gestern. Er hatte mir eine Mail geschrieben nach dem Podium am Sonntag, mit einem Link zu seinem Weblog, http://aindanaocomecamos.blogspot.com, was heißt: We have yet start to think. Wir waren die Avenida Roma hinuntergegangen vom Cinema Londres und an der Straßengabelung gegenüber der weißen Kirche in das Cafe auf der linken Seite gegangen. Wir unterhielten uns dort, ich trank einen Cafe, er trank ein Glas Milch. Die Milch wurde in einer kleinen Flasche vom Ober gebracht, eine kleine bauchige Flasche mit einem Viertelliter Milch in ihr. Der Cafe hier wird in Espressotassen gebracht, der Cafe hier ist sehr gut. Ich habe mir am Montag im Supermarkt hinter dem Hotel ein paar Packungen Espresso gekauft, der Espresso kostet hier die Hälfte von dem, was er in Deutschland kostet. Es war interessant, sich mit dem Mann zu unterhalten, sein Bart und sein Gesicht erinnerten mich an S. Er trug eine Militärjacke aus dunkler Baumwolle und ein dunkelblaues verwaschendes T-Shirt und die Sonne schien, aber wir saßen im Schatten unter einer Markise auf der Terasse des Cafes. Später war der sympathische Japaner mit dem runden Gesicht und der Nickelbrille an einen Nachbartisch gekommen, und seine Freundin, eine junge zarte Japanerin, deren Gesicht mir jetzt vorkommt wie eine zarte japanische Variante des Gesichts der Freundin von M, S. A kennt viele Filme und macht viele Sachen, er hat Bücher von Agamben ins Portugiesische übersetzt und Bücher von Rancière und er macht Filme und produziert Filme von Freunden und organisiert eine Konferenz über die Politik der Autopsie und er unterrichtet an der Universität und er schreibt an seiner Dissertation und er erzählt mir neben vielem anderen von A, der ein armer Mann in Los Angeles ist und weil er kein Geld hat, jetzt seine Digitalkamera verkaufen muss. Heute bekam ich eine Email von A, weil wir auch auf die Sache mit den filmvermittelnden Filmen zu sprechen kamen. Er, A, kennt einen Mann, der Programme in der portugiesischen Cinemathek und anderswo macht, der an einem ähnlichen Programm zu filmvermittelnden Filme arbeitet und ich werde diesem Mann gleich eine Email schreiben und ihn fragen, ob er Zeit habe, sich bis Sonntag mit mir zu treffen und über seine Sachen zu sprechen. Vor der Sache mit den drei Filmen und vor dem Treffen mit A war das Frühstück mit Karmakar und Willems gewesen und vor der Sache mit den Filmen und der Sache mit A und nach dem Frühstück hatte ich geschrieben, hatte ich auf dem Balkon und an dem Schreibtisch und auf dem Bett liegend geschrieben. Dann waren die Interviewsachen. Es gab ein kurzes Interview mit einer kleinen schwarzhaarigen Radioreporterin. Beim Frühstück hatte sich Karmakar meine Email-Adresse geben lassen, er will mir etwas schicken. Karmakar wohnt in Berlin wie ich. Die portugiesische Reporterin hat ein kleines Gesicht mit Gesichtszügen, denen man ihre spätere Strenge ansehen wird, jetzt sind sie noch nicht streng, jetzt ist sie noch jung. Die Reporterin hatte mir Fragen gestellt zu den neuen deutschen Filmen und ich habe versucht, differenziert aber kurz auf diese Fragen zu antworten, es ist ein kurzer Beitrag, der aus den Fragen und meinen Antworten gemacht wird. Ich hatte von dem je unterschiedlichem Verhältnis von Dokumentation und Fiktion gesprochen und sie hatte eine Standardfrage zu dem need of politics in German cinema gefragt und auch auf diese Frage, die ich nicht verstand, hatte ich versucht, differenziert und klar und auch einfach zu antworten. Man muss die Fragen nicht verstehen, man muss sich auf die Antworten verstehen, in einem späteren Leben werde ich mit dieser Erkenntnis, die ich dann schon früher gehabt werden habe, glücklicher als ich es in meinem jetzigen Leben bin. Dann hatte ich Zeit und mir in der Videothek des Festivals einen Kurzfilm angeschaut, aus einem Programm, aus dem ich vorher herausgegangen war am Sonntag oder am Samstag, ich weiß es nicht mehr, einen animierten Kurzfilm mit einer Fabel über die Liebe und das Carpe Diem und einen weiteren Kurzfilm aus dem nationalen Kurzfilmprogramm, das ich auch zu jurieren habe, einen Kurzfilm, den ich schon gesehen hatte und sehr mag, PRIMEIRO VOO, was heißt: FIRST FLIGHT, ein Film eines Portugiesen, der auch Puppenspieler ist. Ich habe, glaube ich, schon über den Film geschrieben. Ich habe ein wenig den Überblick verloren über das Schreiben, weil das Schreiben hier inmitten der vielen Termine und der Stadtgeräusche mir leicht fällt, aber das Erinnern an das Schreiben nicht. Dann hatte ich ein weiteres Interview, wieder ein Interview auf Englisch, diesmal mit Neil Young. Es war geheimnisvoll. Ich hatte nicht gewusst, dass das ein Interview mit einer Kamera sein wird. Die Pressefrau, die dick ist und mit weiten Gewändern herumwandelt und freundlich und immer lächelnd mit einem spricht, hatte mich an die Hand genommen und mich auf einen Weg hinter das Forum Lisboa geführt. Da ist ein kleiner Park mit Bänken und Wegen, nichts Großes, aber es war warm an diesem Montag und unter den Bäumen im Park war die Luft erfrischt. Unter einem Baum vor einer Bank stand Neil Young und neben ihm stand Hal Hartley. Hal Hartley ist lang und hager und trägt schlaffe helle Baumwollsachen, ein ausgewaschenes ungebügeltes helles Baumwollhemd mit Streifen und ich gebe Hal Hartley, der gestern in Lissabon angekommen ist, die Hand. Und ich werde Hal Hartley vorgestellt und ich frage Hal Hartley nach G, you know G?, he worked with you for FAY GRIM und Hal Hartley sagt, oh yeah, I know him, he’s nice, you know him too?, und ich erzähle ihm die Geschichte mit G und später beim Lunch setzt sich Hal Hartley zu mir und wir unterhalten uns über Berlin, wo Hal Hartley wohnt wie ich. Heute bin ich, ich habe davon erst gestern erfahren, auf einem Panel mit Hal Hartley und einer portugiesischen Produzentin und eine Kritikerin der Cahiers du cinéma wird es moderieren und gesprochen werden wird über Produktionsbedingungen. Ich habe keine Ahnung von Produktionsbedingungen, ich weiß, wie es ist, Produktionsfahrer bei Filmen zu sein und Aufnahmeleiter, aber über die Bedingungen der Produktion weiß ich kaum mehr als die anderen und ich habe den Leute das gesagt, aber die Leute haben gesagt, ich sei nett und kompetent und sie würden sich freuen, wenn ich mit auf das Podium komme und ich habe gesagt: okay. Es geht darum, angstfrei zu werden, das ist ein Teil des Projekts Leben, dachte ich mir, „angstfrei“, das ist ein Lieblingswort von S. V hat mir eine Mail geschickt mit einem Gruß von P. P kommt vor in meinem Februartext und ich habe noch nicht verstanden, was P mir sagen will: „[…] Auch Michaels ‚Februar 07‘. Sein Text handelt von Fragen, über die wir nicht hinweg kommen könnten, wenn wir nicht von Natur aus von ihnen befreit wären. Herrlich die Stelle über meine Kritiken. Gewiß hatten die an der Katholischen Kirche ausgehängten Filmkritiken auf mich als Heranwachsenden nur als Fremdes diese Wirkung (daß ich selbst Filmkritiker werden wollte). In Michaels lieben Zeilen lese ich nun, daß sie nicht aufgehört fremd zu sein, sondern nur überdies angefangen haben, ‚ich‘ zu sein. Aber Fremde die du bist ist nicht mehr fremd. […]“ Für das Interview in dem Park hat man mir ein Mikrophon in die Hand gegeben und mich auf einen Stuhl gesetzt vor Bäumen und ich sitze neben Neil Young, der mir Fragen stellt über das Programm mit deutschen Filmen. Eine Fotografin steht neben der Kamera und macht ein Foto nach dem anderen von mir und als ich meine Zigarette ausgeraucht habe, ist das Interview schon zu Ende, es hat vielleicht 10 Minuten gedauert und ich habe vier oder fünf Fragen beantwortet und der Kameramann hebt seinen Daumen und der Regisseur hebt seinen Daumen. Es ist okay. Das ist ein Interview für das Archiv des Festivals, vielleicht wird es auch verwendet für eine Sendung des portugiesischen Fernsehens über das Festival. Dann ist das Mittagessen mit Hal Hartley gewesen, dann die Sache mit den Filmen von Ludger Blanke und Wolfgang Schmidt und Thomas Schultz, dann hatte ich A in dem Cafe getroffen, dann hatte ich am Abend weitere Kurzfilme aus Portugal gesehen. Jetzt schreibe ich eine Mail an den Programmierer aus Portugal mit den filmvermittelnden Filmen, ein einsamer Hund bellt aus einem Fenster auf der anderen Seite des Platzes, es ist bedeckt, ein Wind geht, man sieht die Sonne nicht, aber es ist hell, es ist 12:53, die Zeit hier ist eine Stunde hinter der Zeit aus Deutschland.

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Donnerstag, 26.4.2007

Es ist seltsam, V hatte etwas zu Helmut Färbers Geburtstag zusammengefasst auf der new filmkritik mit einem Bild eines grüßenden Jean Renoir, Jean Renoir lüftet seinen Hut bei den Vorbereitungen zu PARTIE DE CAMPAGNE. Am Dienstag, als das zweite Panel war, auf dem ich sprach, hatte die Kritikerin von den Cahiers etwas zu Jean Renoir gesagt, im Auto, als wir zum Cinema Sao Jorge gefahren wurden in dem kleinen Bus. Ihr Name ist mir entfallen, eine kleine, junge, weißhäutige Frau mit Sommersprossenflecken und zusammengebundenen krausen brüchigen Haaren und schwarzer Kleidung, sie trägt eine Brosche und hat ein paar Jahre in New York studiert. Im Auto meinte sie, es sei funny, it’s funny, you know, has anyone ever told you that you really look like Jean Renoir?, und ich hatte überrascht und weil mir nichts Besseres einfiel und weil ich nicht wusste, ob ich geschmeichelt sein sollte von dem Vergleich oder verletzt, nur eine Anmerkung machen können zu ihrem Vergleich, den tatsächlich keiner bisher gezogen hatte, einen Zusatz: Le Patron. Schon in den imperialen Toilettenräumen des Sao Jorge betrachtete ich mich in einem Spiegel und versuchte was ich sah, mit meiner Erinnerung an die Erscheinung des Jean Renoir zu verbinden. Jetzt fällt mir nur die Herzlichkeit des Jean Renoir ein, auf dem Podium, auf dem noch eine kleine portugiesische Produzentin saß mit weißer Bluse und Hal Hartley, mit schlaffem Baumwollhemd, hatte ich dann noch etwas von der generosity der Filme des Jean Renoir gesprochen und sie verglichen mit der generosity der Filme des John Ford und somit versucht, den independent Begriff zu fassen. Das schien mir angebracht, als aus der Richtung des Publikums etwas beigetragen wurde, anbiedernd vielleicht an das Thema des Panels und die vermeintlichen Standpunkte seiner Teilnehmer, vielleicht aber auch wirklich die Wege des Denkens dieses Zuschauers abbildend, die alten Gegensätze zwischen den explorativen Filmen, die aus den Bereichen des industrieunabhängigen Autorendenkens, und die eingrenzend angepassten Filme, die, in diesem Beitrag jedenfalls, nur aus Hollywood zu kommen scheinen. Der Feind, der Freund. Dies Denken, you know. Insgesamt war dieses Panel sehr interessant, sehr interessant, auf ihm zu sitzen neben dem intelligenten und präzis argumentierenden Hal Harley. Und Hal Hartley sitzt neben der Cahiersfrau, die auf eine angenehme Art die Allgemeineinplätze, die Dinge, die man sagt zur Gelegenheit, die Dinge aber tatsächlich auch, die so ein Panel wieder zurückbringen auf die Erde und ständig erneuernd die Ebene herstellen des geteilten Grundes des interessierten Publikums im Saal und der Sprecher vor ihnen. Dazwischen die eher abschweifenden, aber doch auf den Punkt des Gemeinsamen bezogenen Beiträge von Hal Hartley und die eher abschweifenden von mir, diese Einzelbeobachtungen montierenden halt, und die der portugiesischen Produzenten, die ihre Rolle findet im Sprechen als portugiesische Produzentin. Portugal, ein kleines Land, zehn Millionen Einwohner, die durchschnittlich 1,6 Mal im Jahr ins Kino gehen. Wie man da arbeiten kann als Produzentin. Aber in Deutschland gehen die Leute doch auch nur 1,6 Mal im Jahr ins Kino, ungefähr. Hal Hartley sagt, es sei immer so, egal wo und wie und von wem auch man spreche und von welcher Zeit in der Kultur, someone wants their money back. Ich weiß nicht, ob es interessant ist, noch viel mehr über dieses Panel zu schreiben, jetzt scheint es mir gerade nicht interessant. Es war interessant und lehrreich dabei gewesen zu sein, wieder habe ich viel gelernt, vielleicht fallen mir ein paar Sachen vom Panel ein, wenn ich auf andere Sachen zu sprechen komme. Ich bin durcheinander, was meine Zeiten und meine Pläne angeht und meine Termine. Dies ist, was ich noch zu tun habe: Ich muss weiter an den Berichten schreiben, an den Berichten über Dienstag und Mittwoch und über das, was noch war, aber aufzuschreiben vergessen wurde… Ich muss die letzten Kurzfilme sehen, die zu jurierenden Kurzfilme, die ich noch nicht gesehen habe… Ich muss den Film LA RABIA sehen, und die Filme… (Unten, auf der Straße vorm Hotel unter meinem Balkon höre ich ein melodiöses Pfeifen, 6, 7 Töne, eine kleine Melodie, auf einer Flöte gespielt, dann eine Pause, dann wieder diese Melodie, leicht moduliert, sich mir nähernd. Und ich erhebe mich und schaue auf die Straße und kann die Musik nicht orten, jetzt ist die Musik wieder fort. Jetzt ist sie wieder da. Ein Mann in einem blauen Drillich und einer Mütze hat vor sich ein Gefährt mit einem stählernen Rad und an dessen Seiten sind Regenschirme gepackt und auf einer Ablagefläche des Gefährts ist ein Schleifstein. Ach, es ist nur der lissaboner Scherenschleifer.) …Ich muss über den tollen Film von Barmettler schreiben, MINI HAND WÄRDIG RUCHER, IMMER RUCHER, den ich hier zum ersten Mal sah… Ich muss über meine Arbeiten als Einführer in die deutschen Filme schreiben… Ich muss über die sich abzeichnenden Differenzen in der Jury schreiben und über das In Einer Jury Sein generell… Ich muss mehr Sensuelles, Farben, Gerüche, Geräusche, aufschreiben… Über das Wetter, das ständig wechselt, heute ist es frisch und beinahe schon kühl… Darüber, dass die Leute in den Cahiers du cinéma die „new filmkritik“ lesen… Über den Abend heute Abend in der Wohnung der Kurzfilmregisseurin, bei der wir, die Jury, uns treffen zum Kennenlernen… Über den Nationalfeiertag und wie und wieso ich ihn verpasste… Über das tolle Manchesterspielgucken des irischen Jurymitglieds und über das lässige Fläzen des H… Über den sentimentalen und schlechten Kurzfilm ZEPP aus der dffb, den ich zu jurieren habe und der wahrscheinlich den Publikumskurzfilmpreis gewinnen wird… Über die Unterhaltung nach dem Panel mit Hal Hartley auf dem Balkon des Sao Jorge… Über das Frühstück hier und wie heute morgen fast alle am Festival Beteiligten mit einem Bus zu einer Schifffahrt auf dem Tejo aufgebrochen sind und ich aber hier blieb, um zu schreiben und um später, gleich, jetzt, zur Videothek des Festivals zu gehen und mir Filme anzuschauen…

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Berlin

Ein paar Tage lang, es ging nicht anders, ich konnte nicht anders, hatte ich nicht weitergeschrieben am Morgen oder am Nachmittag oder in der Nacht. Sachen waren da, Termine, Verabredungen, Aufgaben, Gespräche und schließlich auch das Ausgehen und das Trinken und das Langewegbleiben, das Undiszipliniertwerden und das Sichtreibenlasen, das Driften mit dem vermeintlichen Rythmus der Anderen und der Stadt und der Ereignisse. Ich hatte so also weitergemacht mit dem Sprechen mit den Leuten, aber wieder ergab sich unmittelbar so wenig aus diesem Sprechen, es ist fast zum Heulen, so wenig entsteht in diesen Augenblicken. Dass man deswegen immer noch immer wieder Filme sieht. In ihnen entstehen Sachen in Augenblicken! Mir waren Sachen aufgefallen in der Stadt. Die drogenabhängigen Parkplatzeinweiser überall; man lässt sich von ihnen in Parklücken hineinwinken, man gibt ihnen dafür Geld; und gibt man ihnen keines, zerkratzen sie Dir den Lack. Die kleinen Schiffmodelle auf den Spitzen der Laternen, die an die Seefahrervergangenheit erinnern, die imperiale Geschichte. Dagegen die ruralen Gesichter, Körperhaltungen, eingefallene Schultern. Manche erklären diese Physen mit dem Agrarfaschismus Salazars. Das langsame, schlurfende Gehen der Leute. Die Cafedichte. Die Süße und deren Wehmut. Ein Abend im Barrio Alto mit der Kommandogruppe Rage, Ravia. Wann war das? Donnerstag? Ja, wohl Donnerstag. Das südamerikanisch-bolivisch-revolutionäre des A. Über seine Produktionsfirma, seine Konferenzen, ein Agitator ist er. Am Mittwoch hatten wir uns getroffen im Agito, jetzt wieder, ich weiß nicht mehr, wie oft ich ihm schließlich begegnete. Es gibt den Zettel mit der Adresse, den I geschrieben hatte für den Taxifahrer. Der Taxifahrer, der wie mechanisch lenkte, seine Schultern stakten aus dem Baumwollhemd, und er grummelte wie mechanisch, starr hinter dem Steuer sitzend, tief eingefallen in den Fahrersitz und die Arbeit des Autofahrens spüren machend, grummelnd, mit sich selbst?, mit mir?, schimpfend, sprechend wie aus einer anderen Welt, wie ferngesteuert auch. Ein Monster aus Ottingers Praterfilm, nein, ein Freak aus denen von Tod Browning. You are a rewriter. Die Konversation mit As Freundin, deren Film hier im Kurzfilmprogramm lief, don’t forget that you have a boyfriend, sagt er da zu ihr, als würde ich mit ihr flirten. The flatness of the images, the lack of depth. Der Marionettenfilmregisseur, seine linnenen Hosen. Ein Abend im SNOB, Barrio Alto. Klassenfahrt. Dies eigentlich jämmerliche Schibbolethsprechen der globalen Cinephilie, Bresson, Straub, Ford, Costa. Ich saß da wie eingefallen in meinem Stuhl, die beiden Slowenen, Mann und Frau?, die Tochter von R, die C kennt aus Paris. Ich dachte, es müsste doch auch für mich funktionieren, trying to make a living out of the cinema, nein, nicht nur trying: to make a living out of cinema. Immerhin war ich nun Juror gewesen. Die Entscheidungen der Jury, zwei von ihnen, den großen Kurzfilmpreis und den für den besten portugiesischen Kurzfilmregisseur, hatte ich vorgetragen auf der Bühne in langsamen Englisch, vielleicht aber nicht bedächtig genug. Jetzt, im Snob, Aoyama, schlafend, betrunken, eingeklemmt in einer Position zwischen dem Freund der Tochter von R und dem wichtigsten portugiesischen Filmkritiker. Die Stirn im 90-Grad-Winkel zum Hals, die geschlossenen Augen auf den Boden gerichtet, und jene Stirn kurz oberhalb der Tischkante arretiert, schlafend und Geräusche kommen aus seinem Magen, die die anderen hören und die er vielleicht, wirklich vielleicht nur, noch spürt. Die Freundin des wichtigsten portugiesischen Filmkritikers, der Freund des japanischen Regisseurs, dann M, dann die kleine Latinaschauspielerin, aber ist sie wirklich Schauspielerin, ist sie wirklich Mitglied der großen Jury?, dann H, schon nicht mehr am Tisch selbst sitzend, sondern neben ihm auf einem niedrigen Sitzmöbel, aber das Gespräch am Tisch doch deutlich dominierend. Ich neben ihm, neben mir M, der bei B in Los Angeles studiert hatte, if you get to know him he is really warm-hearted and nice and caring, first he seems reserved, but after a while. Vielleicht hört M auf mit dem Filmemachen, vielleicht wird er Visitenkartendesigner, aber vielleicht sagt er das auch alles nur so slick and tongue in cheek und hipsteresk. Er really want to go to Berlin, someone, you know, a friend, told me about this restaurant for the blind. That is really a cool thing, a cool idea. Und ich erzähle, was wirklich eine coole Idee ist, einen Film von 93 Autoren beschreiben zu lassen. Und einer aus einer anderen Jury war nicht allein gekommen, jetzt endlich doch: Flirts Erotik Sex One-Night-Stands Affären, endlich: Eine kleine hübsche Portugiesin, und er hatte seinen Arm die ganze Zeit um ihre Hüfte gelegt und sie lehnte sich zurück, seinen Arm um ihre Hüfte besser zu spüren. Gedämpftes Licht, Holz, mit altem Leder bezogene Möbel, linnene Tapeten an den Wänden, gelbbraunes Licht, keine Musik. Später, im Taxi, schimpfte H auf die lautgemachte Radiomusik des Taxifahrers, sie alle leben angstfrei, aber auch schamlos bisweilen, und ich bedeutete vermittelnd dem Taxifahrer, die Musik leiser zu stellen und er machte sie lauter und ich rief nonono!!! und er machte sie leiser. Wie wir die Rechnung bekamen, handgeschrieben auf einem Zettel, ein metallener Teller wird herumgereicht, jeder legt seinen Teil hinauf, 170 Euro vertrunken, verpufft. Diese Rituale all over the world, hey hey my my, rock’n’roll will never die… Das Taxifahren in der Stadt, deren blaumetallen schmutzig rostiges Licht in der Nacht, hügelauf hügelab, enge Straßen, Straßenbahnschienen, weite Straßen, dann wieder enge, Kopfsteinpflaster, Passanten, die umschleift werden, Lichthupe, Hupe. Von vielen die Erwähnung des Films von Tanner, LA VILLE BLANCHE, die blanke, nein, die weiße Stadt. Das Flache, gepresste ihrer Sprache. Manchmal, wenn Unbekannte in der U-Bahn, am Nebentisch im Cafe, beim Warten im Kino und eben gerade im Flughafen vorm Bordbetreten sprechen, meint man eine slawische Sprache zu hören, so unromanisch ist die Melodie dieses Sprechens. Dass John Malkovich, ausgerechnet John Malkovich, vor 10 Jahren dieses Gebäude am Hafen gekauft hat, LUX, und wie alle sagten, ich müsse die Aussicht dort auf dem Balkon gesehen habe, wenn ich da schon hin gehe, dann sollte ich nicht vergessen auf den Balkon, die Terasse zu gehen. Tatsächlich ist das schön. Der Japaner mit dem Honigkuchenrundgesicht. Die Französin, die hier als Produzentin arbeitet, manchen glaube ich ihre Angaben nicht, aber die gewünschten & geposten Berufe sind ja genauso interessant wie die wirklichen, wirkungsmächtiger vielleicht. Vielleicht. Wie überall auf der Welt ist das Tanzen im Basement, ist die dort gespielte Musik viel ergreifender, punktgenauer, präziser, aufregender. DJ Kabine, die über dem weitgespannten Geviert der Tanzenden thront. Und wie lässig das Mitmachen ist, wie schnell Du dich da eingroovst. Tanz. Donnerstag war der Tag der Verabredungen, und von Donnerstag an war es mir nicht mehr möglich, weiter an den Berichten, an den Rapporten zu schreiben. (Dies hier jetzt aus dem Flugzeug von Lissabon nach Ffm, über Frankreich.) Am Morgen die Filme aus der Videothek, dann Mittag, dann eine Einführung (in welche FIlme?), dann das Treffen mit R. Tag Gallagher, Eric Rohmer, Guy Debord, Peter Nestler, Andy Rector, San Francisco, Klaus Wyborny, Harun Farocki, Hartmut Bitomsky, Jean Douchet, das Seminar mit Alain Bergala, to be recognized, James Agee, Manny Farber, Robert Warshaw, the Structuralists… We don’t stop living that way. Die antriebslosen Gangarten. Was ist ein Festival? Was passiert da gerade? Keine Lust, dazu nach Zahlen zu recherchieren. Dass wir uns Fragen stellen zu den Festivals hat auch damit zu tun, dass wir plötzlich leichter und öfter Zugänge zu ihnen haben. Wie H, le patron, von seinem Festival spricht und die „Geburtswehen“ des Lissaboners beschreibt. Die Viennale! Weshalb man Geduld brauche und mit der Geduld die Erfahrung komme. Dass man die Filme miteinander vermischen müsse und nicht in Reihen packen soll, die dann in immer den gleichen Kinosälen laufen, in die sich dann eh keiner verwirrt, weil er die Filme als Reihenteil, nicht als Einzelwerk betrachtet. Die agressive Kritik der Fraktion um A, Zuschauerzahlen, Ausverkauf, es gehe nur um den Kommerz, das Verkaufen, das Wachsen und Größerwerden. Wirtschaftsfaktor. Wie stolz er dagegen vom Konzept seiner eigenen Firma, Ravia, Rage, zu sprechen weiß. Wie die Welt ist, will sie Kontexte bereitgestellt bekommen, und ich allein als Außenminister dieses deutschen Kinos bräuchte doch eine Delegation um mich geschart. Erst auf der Abschlussveranstaltung den Goetheinstitutsmenschen aus 5 Metern Entfernung, er auf der Bühne, ich im Publikum, gesehen. Wir winkten uns unsichtbar. Möller hat natürlich Recht. Dieses deutsche Kino gibt es auch wegen dessen Lehrern und so gesehen, von diesen Filmen aus dieser Reihe, ist es ganz stimmig zu sagen, Färber sei der einflussreichste Kritiker Deutschlands, the most influential critic in Germany. Aber wie materialisiert sich Lehre, Weitergabe, Tradition? Das Horwathzitat, nicht die Asche, aber die Flamme weiterreichen. Wären das in Österreich alle Stars des Unabhängigen? Fragen, Mann, das findest Du ja auch wieder in der Epigonalitätsfrage, die du dir stelltest wegen dem schließlich prämierten tollen rumänischen Kurzfilm TUBE WITH A HAT, weil I sie stellte während der langen Jurysitzung, während der du störrisch warst, und weil die Frage in der Luft liegt, weht, steht, Möller schreibt ja auch davon. Du musst dich auf die Antworten verstehen, hattest Du geschrieben, und nicht auf die Fragen, aber du hattest auch vom Projekt der Angstfreiheit geschrieben und warst dir schon bei den Ausgehsachen dann auch nicht mehr sicher darüber, den Ausgehsachen mit A, der dir immer unheimlicher wurde je deutlicher seine Agressivität zutage trat – er wirkte ja angstfrei –, und den Ausgehsachen mit dem derzeitigen, dort anwesenden Weltkinojetset. Unsicher, wie Du die Konstellation von Angstfreiheit, Würde und Scham eichen sollen solltest. In Anwesenheit von A hattest Du dich herauswinden wollen und von der Reserve gesprochen und vom Zögern und vom Zweifel. Und vom Schreiben und Wiederschreiben und Überschreiben und er dich dann Rewriter genannt. Ist das ein Teil der Frage, der Antwort oder des Problems?… Vielleicht auch so: Dass es gar nicht darum geht, dass das da nun eine erfolgreiche Reihe war in den Kinos und Schlangen vor ihnen um den ganzen Block und Zeitungsartikel mit breiten Überschriften und hohen Lettern und Schecks und Aufträge für die lost generation des bundesdeutschen unabhängigen Films. Du hast das ja nicht oft gemacht, Sachen recherchiert zu Nationalkinematographien. Wenn, dann ging es um Deutschland und um noch mehr Zusammenhang, Johannes Schaaf und Tremper und Bramkamp und Achternbusch und Brynych und und und… Auf dem Flughafengelände in Tegel dann einen mit einer Viennaletasche (Viennale 03) gesehen. Am folgenden Tag, Montag, schlief ich lang. Ich erinnerte mich an die Erschöpfung, die ich während der ersten Tage in Lissabon spürte, die aus den Anstrengungen der letzten Tagen in Berlin herrührte und ich spürte nun eine andere Erschöpfung in Berlin, eine, die von den Tagen in Lissabon kam. Ich dachte an die Erschöpfung und das Erschöpftsein und den Klang und den Sinn dieses seltsamen Wortes. In Berlin war es nun kalt, so kalt war es in Lissabon, auch an den kälteren Tagen dort, nicht gewesen. R war auf einem Anrufbeantworter und S und andere und ich wollte mir noch mehr Notizen machen, aber ich machte mir keine Notizen. Ich wollte aufräumen, aber ich kam nur zum Einkaufen und Waschen und Mailschreiben. Ich wollte weiter arbeiten und musste jetzt aber Geld verdienen.

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