Samstag, 10.11.2001

autofahren [1]

Sie haben das Dispositiv des „autofahrenden Menschen“ (l’homme en voiture) erfunden. Bezieht sich das auf die kulturelle oder religiöse Tradition der Suche, der Idee des suchenden Menschen?

Wir haben eine Religion zweier Geschwindigkeiten: eine zurückbleibende/zurückblickende, in der so etwas wie die Suche/die Frage nicht existiert, und eine andere, entwickeltere, wo die Suche/die Frage existiert. In der ganzen mystischen Poesie des Irans gibt es so etwas wie die initiatorische Reise, die zur Vervollständigung führen soll. Das kommt aus der/ das ist der Vorzug der iranischen Kultur, mit ihrem Reichtum, und die religiöse Kultur läßt solche Ideen erscheinen. Die Religion macht nichts anderes, als das iranische Denken wieder aufzunehmen/zu beantworten.
Zudem ist das Auto einfach eine schöne Idee. Es ist nicht nur ein Beförderungsmittel, etwas, um von einem Ort zum anderen zu kommen. Es repräsentiert auch eine kleine Wohnung, ein sehr intimes Zimmer, mit einem großen Fenster, dessen Ausblick sich von Moment zu Moment verändert. In der Realität gibt es solche Wohnungen überhaupt nicht, der Blick, den man aus dem Fenster seiner Wohnung hat, ändert sich nie. Die Wohnung ist dazu verdammt, ewig den gleichen Blick zu zeigen. Die Windschutzscheibe des Autos aber hat eine viel größere Dimension; und sie kann außerdem die Bewegung reflektieren-wie ein Scope-Schirm/eine Scope-Leinwand. Autos haben einen weiteren Vorteil: wenn man aus dem Inneren des Autos filmt, haben die Leute draußen keine Ahnung, dass sie Teil deines Films werden. Das ist wie ein permanentes Travelling, mehr noch: wie eine Kranfahrt. Wenn der Mann im Auto [in Geschmack der Kirsche] den Hügel hinauffährt, macht er eine Kranfahrt, mit einem Kran, der sehr lange Arme hat. Außerdem ist das Auto eine Art Sitzbank. Zwei Leute können nebeneinander sitzen und sich die selbe Landschaft anschauen, den selben Blick teilen. Selbst wenn sie nicht miteinander sprechen, heißt das nicht, dass sie sich verkracht haben. Man kann jemanden in seinem Auto mitnehmen, ohne dass man befreundet ist oder sich anfreunden muss. Der andere kann von einem Moment auf den anderen aus dem Auto aussteigen.
[Cahiers du Cinéma Nr. 518 (1997), Gespräch zu „Geschmack der Kirsche“; hier aus: Abbas Kiarostami – Textes, Entretiens, Filmographie Complète, Pétite bibliothèque des Cahiers du Cinéma, 1997; S. 82f)]
übersetzung michael baute

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