Sonntag, 12.05.2002

Zu DIE ROTE WÜSTE von Michelangelo Antonioni

Ungebetener Text zu ungebetener Stunde – nichts mehr als subjektiv, was heißt, an eigener Arbeit orientiert; entlanggeschrieben an Unterstreichungen in BOWLING AM TIBER von Michelangelo Antonioni und meinen filmischen Versuchen; nach dem erstmaligen Sehen von DIE ROTE WÜSTE (Antonioni 1964) Anfang der neunziger Jahre; später erweitert.

Zweimal versucht am Beginn des Films NAVY CUT eine Frauenstimme die Behauptung – ich – auszubringen. Danach gelingt ihr der Satz: „Ich fürchte mich vor Musik.“ In DIE ROTE WÜSTE darf Monica Vitti sinngemäß den Satz sagen: „Ich will nicht mehr ich sein müssen.“ Dachte ich; aber in der Textfassung (Michelangelo Antonioni: Die rote Wüste; Cinemathek 11; Hrsg.: Enno Patalas, Hamburg 1965) ist diese Phrase so explizit nicht zu finden. Dafür aber: “ Ich habe Angst! […] Vor den Straßen … vor den Fabriken … vor den Farben … vor den Leuten … vor allem …“ Und an anderer Stelle über ein Mädchen, von dem sich dann herausstellt, dass Giuliana selbst dieses Mädchen ist: „Es fehlte ihr der Boden unter den Füßen. Ein Eindruck, als glitte sie eine schiefe Ebene hinunter … immer tiefer, tiefer … als sei sie nahe daran zu ertrinken … […] … wer bin ich eigentlich?“ Mit der Gegenüberstellung der beiden Filme soll hier nicht die Nachfolge Antonionis behauptet, als vielmehr auf ein Identitätsproblem der bürgerlichen Gesellschaft verwiesen werden, das spätestens mit der Figur Hamlets formuliert wurde.

Nach der offiziellen Überwindung der Metaphysik und faktischen Bedeutungslosigkeit der Religion ( – was wahrscheinlich nur für den westlichen Kulturkreis gilt und selbst dort nur mit diversen Einschränkungen – ), zumindest was das praktische, zweckrationale Handeln, das gesellschaftliche Leben also, angeht, ist sowohl die Gesellschaft als auch das Individuum auf sich selbst als letzte Begründungsinstanz angewiesen und auf sich zurückgeworfen.

Der Versuch, diesen Kurzschluss zu überwinden, hat verschiedene Vorschläge hervorgebracht: Marx z.B. hat diesbezüglich das Paradigma der gesellschaftlichen Arbeit angeboten. Bürgerliche Ideen zielten mehr auf Grenzbereiche des Gesellschaftlichen – wie Genie, Wahnsinn, Erotik, Kunst – , in denen die Möglichkeiten zur Überwindung der Subjektzentrierung gesucht wurden und werden. Diese Versuche dauern an.

In mehrerer Hinsicht ist DIE ROTE WÜSTE in Antonionis Arbeit ein Schritt nach vorne. Das Spektrum des farbigen Lichts bleibt nicht länger ein unbearbeitetes Feld. Begibt man sich auf unbekanntes Terrain, tut man gut daran, Begrenzungen einzuführen, prinzipielle Einschränkungen, Stilisierungen, die Orientierung schaffen. Das betreibt Antonioni auf beeindruckende Weise.

Warum für LA NOTTE Schwarz-Weiß noch ausreichend ist, darüber kann man spekulieren. Die Konflikte treten hier nur als zwischenmenschliche Probleme auf, Beziehungskonstellationen, die auf scheinbar unerklärliche Weise ihrer Basis verlustig gehen. Industrie, Intellekt und emanzipative Intuition sind hier jeweils personifiziert. Die Probleme sind Probleme zwischen Menschen, die äußere Welt bleibt im wahrsten Sinne des Wortes äußerlich. Eine monochrome Folie, die der eigentlich „wahren“ inneren Welt als schwarz-weiße Fläche gegenübertritt. Der moralische Druck dieses Films nimmt von hierher seine Kraft.

„Weiß ist nicht farblos, sondern die Zuflucht der farbigen Welt.“ – wird Ernst Jünger in NAVY CUT von einer Männerstimme zitiert.

In DIE ROTE WÜSTE ist diese klar definierte Unterscheidung nicht mehr zu treffen. Die Zurichtung der äußeren Natur findet ihre Entsprechung in der Verfassung der Protagonisten. Ihre Behausung steht mittendrin in industriell angeeigneter Umgebung und ist weder Herrensitz im Pleasure Ground noch Intelletkuelleneremitage im x-ten Stock über den Dingen wie in LA NOTTE.

In weiterer Hinsicht ist DIE ROTE WÜSTE wahrscheinlich Antonionis erster moderner Film, der die sechziger Jahre als Jahrzehnt des Aufbruchs voll erreicht hat. Nebenbei bemerkt sei, dass seine Meisterschaft wohl darin besteht, über 15 bis 20 Jahre immer wieder unmittelbar über das Lebensgefühl seiner Zeit gearbeitet zu haben, d.h. den Kern zu treffen, in dem sich eine Epoche formuliert, sodass sein jeweils neuester Film zwangsläufig der modernste ist. Das gilt allerdings spätestens ab IDENTIFIKATION EINER FRAU, der ihn in die Nebel seiner Jugend zurückkehren lässt, nicht mehr uneingeschränkt.

„Alle Menschen, die den Tod betrachten, sind ein und derselbe Mensch. Aber es ist eine Identität, die nur so lange dauert wie der Blick; die erste Bewegung macht sie zunichte.“ (Der Horizont der Ereignisse; in: Bowling am Tiber; München 1992, S. 16)

Modern deshalb, weil das Subjekt des Autors ständig und unmittelbar in der Person der Hauptfigur anwesend ist. Das wird einmal deutlich an den noch blässlicher geratenen männlichen Figuren, blasser noch als in den vorangegangenen Filmen. Zum anderen handelt der Film nicht mehr nur von Zerrissenheit, sondern er ist zerrissen, ohne darin eine verbindliche Form zu finden. D.h. dieser Film scheitert – bei aller Meisterschaft im Detail. Einmal erzählt die Hauptfigur Giuliana ihrem Sohn eine Geschichte. Der Film verlässt dabei seine gewählte Realitätsebene, arbeitet mit Musik, mit Gesang. Selbst wenn man sich für den Gestus des Singens interessiert und sich um sein Wesen bemüht, so rührt doch diese unvermittelte Märchenerzählung nicht an und bleibt merkwürdig flach.

Allerdings bietet sich uns die Frau in diesem Film nicht länger als geheimes Versprechen an. Sie ist sich inzwischen bis zur Unerträglichkeit selbst ein Rätsel, das an Männern keinen Halt mehr findet. Noch scheut sie davor zurück, aber letztlich wird sie nicht umhin können, selbst ins Weltgeschehen eingreifen zu müssen. Zunächst will davon aber noch nichts gewusst sein. Wäre sie ein Mann, wie in DER SCHREI, hätte sie sich umbringen dürfen, oder andere hätten es für sie erledigt, wie in BERUF: REPORTER.

„Er ist ein junger Mann, aus dem Norden, wie die Gewitter an diesem Tag.“ (Der Horizont der Ereignisse; in: Bowling am Tiber; München 1992, S. 14)

Archaisches Ungestüm junger Männer, die Sizilien verließen, um im italienischen Norden Arbeit zu finden, breitet Visconti in seinem Epos der Ungleichzeitigkeit ROCCO UND SEINE BRÜDER aus. Auf der Oberfläche zivilisierter, ihrem Wesen nach aber ebenso wenig befähigt, von sich selbst zu abstrahieren, gerieren sich die Männer des Nordens bei Antonioni. Sie folgen ihrer Natur, was immer das auch sei, ergreifen Besitz, richten zu. Es gibt kein moralisches Regulativ. Kollektivität kennen sie nur unter Männern. Angehalten, zum Innehalten gezwungen durch eine unerwartete Aktion der Frau, besinnen sie sich nur punktuell; es gibt keine Möglichkeit der Veränderung.

„Die Gleichgültigkeit der Natur war die dramatische Entdeckung ihrer Jugendzeit.“ (Zwei Telegramme; in: Bowling am Tiber; München 1992, S. 21)

„Undeutlich nimmt sie wahr, dass die Männer, obwohl sie sie liebt, ihre Feinde sind, und dass, sich mit ihnen zusammenzutun, auf die Gefahr hinausliefe, in einem endlosen Heute ohne ein Morgen zu verdorren. Und so hat sie gelernt, ihre eigene Zerbrechlichkeit als das einzig Reale auf der Welt zu betrachten, alles übrige kann sein oder auch nicht sein.“ (Das Mädchen, das Verbrechen …; in: Bowling am Tiber; München 1992, S. 63)

Die Schauspielerin Antonionis ist zweifellos Monica Vitti. Trotzdem lässt sich obiges Zitat genauso als eine Beschreibung Jeanne Moreaus und ihrer Haltung, die sie in LA NOTTE an den Tag legt, lesen. Jeanne Moreau wandelt durch die Filme der Nouvelle Vague und anverwandter Filme als die bürgerliche Frau im Aufbruch (FAHRSTUHL ZUM SCHAFOTT, DIE LIEBENDEN, MODERATO CANTABILE, JULES ET JIM, und weitere mehr). Sie kommt dem Modell der Pietà – Maria sorgt sich um den Mann, der in die Welt ging und Schaden nahm – der Antonionifilme bis dato entgegen, unterläuft es aber gleichzeitig durch jähe Schroffheit und Eigensinn. Sie gibt dem Für-Sich-Sein Gestalt, spielt, was ihre Autoren gerne wären, bewahrt ein Geheimnis – die Frau ist eine andere. Moreaus große Zeit endet Mitte der sechziger Jahre. Godard hat meines Wissens nie mit ihr gearbeitet.

Über das Gelingen eines Werkes: Über den Zeitraum von zwei Tagen probt Libgart Schwarz im Rundfunkstudio eine Passage für ein Hörspiel. Es will nicht so gelingen, wie sie es sich vorstellt; der Regisseur wäre schon lange zufrieden. Am Ende des zweiten Tages klappt es plötzlich doch noch. Libgart Schwarz: „Es ist Glück. Die Anstrengung ist immer dieselbe. Man muss Glück haben.“

Für den Film LA NOTTE war mehr als Glück von Nöten. Im Gegensatz zu DIE ROTE WÜSTE, in dem die Hauptfigur sich ständig am Wahnsinn entlang arbeitet, behandelt er ein Thema, er ist es nicht. Oder anders: In FAHRSTUHL ZUM SCHAFOTT lässt Louis Malles Miles Davis über einige Szenen improvisieren und bastelt daraus so etwas wie einen Soundtrack, um dem Film Zeitkolorit zu geben. Antonioni dagegen zeigt in LA NOTTE den bürgerlichen Gebrauch von Jazzmusik. – In DIE ROTE WÜSTE hat es den Anschein, als sei der Gestus des distanzierenden Zeigens nicht mehr aufrechtzuerhalten.

„Geld kann man nicht belügen, es merkt das sofort.“ (Die Wüste des Geldes; in: Bowling am Tiber; München 1992, S. 86)

Es gibt Regisseure, die sind gläubig, und darum kann man sie beneiden; – vermutlich haben sie es auf eine bestimmte Art und Weise leichter, den Mythos frühzeitig und unhinterfragt in ihre Arbeit einzugliedern. Verstehen in dem Sinne kann man sie nicht. Zugang gibt es nur über die Unbedingtheit des Glaubens. Das Aufregende an Antonioni besteht darin, dass man von Film zu Film zuschauen kann, wie er vom Glauben abfällt. Auch wenn er eher in mythischen Metaphern über seinen Schaffensprozess schreibt, hat man doch den Eindruck, er kläre sich mittels der Herstellung von Film auf, er will etwas herausbekommen, was zuvor nicht gewusst wurde.

„Und es ist eine Besonderheit meines Berufs, dass ich mit den Leuten reden kann, sie zum Sprechen bringe und zu ihrem Komplizen werde in ihrem Bedürfnis, sich mitzuteilen und sich als Protagonisten irgendeiner Verzweiflung darzustellen.“ (Die Wüste des Geldes; in: Bowling am Tiber; München 1992, S. 84)

Bis einschließlich des Films DIE ROTE WÜSTE betätigt sich Antonioni als Verzweiflungsspezialist. Was in: „Ich will nicht mehr ich sein müssen!“ oder entsprechenden Modifikationen gipfelt, schlägt in BLOW UP, ZABRISKIE POINT, BERUF: REPORTER um in: Bin ich überhaupt, oder bin ich der, für den ich mich halte. Hier weicht die Verzweiflung der Neugier; was ist und wer bin ich wirklich, und gibt es überhaupt noch eine verbindliche Wirklichkeit. Die Hauptdarsteller – alles Männer – erfahren, dass es über Faktizität hinaus weitere Dimensionen zu erobern gibt, was aber mit den herkömmlichen Mitteln nicht zu leisten ist. Verzweiflung kommt trotzdem nicht auf. Denn die Protagonisten sind längst von Erleidenden zu Tätern geworden, die sich die Welt im Vorwärtsgehen erschließen und dabei lernfähig geworden sind. Mag der Boden dabei auch ins Wanken geraten. Handeln ist keine Versicherung und als Lösung nicht hinreichend, sondern Alltagsbewältigung.

Rivette, glaube ich, hat gesagt, einen Film kann man nur mit einem anderen Film kritisieren. Vielleicht muss dazu nicht unbedingt ein neuer Film gedreht werden. Was ist mit der Gegenüberstellung zweier Zeitgenossen, DIE ROTE WÜSTE und DIE VERACHTUNG? Beide haben offensichtliche Parallelen aber einen gänzlich unterschiedenen Blick auf die Welt.
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BOWLING AM TIBER besteht aus einer Sammlung von Drehbuchskizzen, die Antonioni bis zur Veröffentlichung des Buches nicht weiter bearbeitet hatte. Einige dieser Entwürfe sind dann in den Film JENSEITS DER WOLKEN eingegangen.

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