Viennale 2002
Eben aus Wien nach Berlin zurückgekehrt, entnehme ich meiner Jackentasche mit dem Reisepaß auch jenen Zettel, der mich die letzten zwei Wochen hindurch während der Viennale begleitet hat: ein dichtes Programm, in dem einige Filmtitel herausgehoben sind; es sind die, die ich sehen wollte, nicht alle habe ich geschafft. Glück ist, „Verantwortung für die Grenze zum Rausch zu übernehmen“, rief Schlingensief aus, als er aus dem Kuhlbrodtbuch vorlas (darüber muß eigens geschrieben werden) – während eines Filmfestivals hält man viel Pathos aus, und Schlingensief war an diesem Abend großartig. Die Viennale eröffnete heuer mit ETRE ET AVOIR von Nicolas Philibert, einem Dokumentarfilm über eine Grundschulklasse in der Auvergne, der mir wie ein Echo auf Rossellinis Gaukler Gottes erschien. Das Gartenbau-Kino ist von allen Festivalpalästen, die ich kenne, der beste: ein Saal für 740 Menschen, die nicht (wie in den Musicalauditorien, die bei A-Ereignissen als repräsentative Räume gelten) wie in einem Theater sitzen, sondern wie in einem Kino zu der Leinwand aufblicken, die enorm groß ist, und eines Abends, als das Bild für GERRY von Gus van Sant tiefblau wurde und der Vorhang sich zu Cinemascope öffnete, war das dan fast ein erhabenes Ereignis: eine Kamerafahrt durch die nordamerikanische Wüste, Musik von Arvo Pärt, zwei unheimliche Schnitte und eine Gefahr wie zu Beginn von Kubricks SHINING, der Matt Damon und Casey Affleck sich mit der Unbedarftheit zweier Jungen aussetzen, die außer rauchen und gehen nicht viel können. Die wagemutigen Unschärfen dieses Films wurden nur von LA VIE NOUVELLE von Philippe Grandrieux übertroffen, aber dessen exzeptionelle Horrorästhetik ist den Leidenschaften eines jungen Westmannes im wilden Osten zu weit voraus, um einen Film zu ergeben. Also der beste Fetzen der Viennale. Der beste Globalisierungthriller stammte aus dem Jahr 1933, wurde unlängst wiederentdeckt, trägt den Titel ÖL INS FEUER, Regie: Rudolf Katscher, der von Wien aus ins Exil ging. Eine Räubergeschichte zwischen Brasilien und Berlin, mit Peter Lorre in der Rolle eines Agenten, mit Aktionären und korrupten Vorständen, mit viel Zigarrenrauch und vielen Genossen von Bossen, mit ausgeplünderten Ölfeldern und einer frühen Faxübertragung, es ist alles da, wozu der deutschsprachige Film nicht mehr aufgeschlossen hat. Der schönste Gobelin der Viennale stammt von Todd Haynes: In FAR FROM HEAVEN nimmt er ein Melodram von Sirk, und statt es zu dekonstruieren, errichtet er es auf den Diskursen von Race/Gender neu, und es leuchtet nur noch intensiver – mit Julianne Moore und einem herrlich finsteren Dennis Quaid. Selbstreferentieller war da nur noch die Szene in UNKNOWN PLEASURES von Jia Zhangke, in der einer der jugendlichen Aussichtslosen in einer chinesischen Provinzstadt einen Freund auf der Straße trifft, der DVDs verkauft. Ob er XIAO WU hat, fragt er, oder PLATFORM (die beiden vorangegangenen Filme von Jia Zhangke), oder wenigstens LOVE WILL TEAR US APART (einen Hongkong-Film, der auch schon mit einem Joy-Division-Titel gespielt hatte)? Nein, der Händler hat nur Mainstream-Filme, während UNKNOWN PLEASURES ein Arthaus-Film ist, produziert mit französischem Geld, für ein Publikum, das eher Les Unrockuptibles liest als im Hinterland von Festlandchina auf DVDs von Jia Zhangke wartet. Trotzdem ist UNKNOWN PLEASURES wieder toll in seinen Beobachtungen einer umfassenden Entwertung: Des Geldes, der Körper (die Mädchen tanzen für Wodkareklame, ein Junge hat Hepatitis), der Beziehungen, zuletzt sogar des Verbrechens. der ungebärdigste Film der Viennale kam von Jean-Francois Stevenin (PASSE-MONTAGNE), der in MISCHKA eine zufällig zusammengewürfelte Gruppe unter die Touristen in Südwestfrankreich mischt: Einen alten Hünen, eine junge Mutter mit einem kleinen Bruder, eine schöne Zigeunerin und mittendrin sich selbst als ziellosen Vitalisten, plus dem Rockstar Johnny Hallyday, der dort auch gerade auf Tour ist. Stevenin möchte fliegen, aber nicht mit der Kamera, sondern durch die Montage, deswegen wirft es den Film oft hin vor lauter Ausbruchsenergie, aber er rappelt sich immer noch einmal auf, und sammelt am Straßenrand seine Außenseiterbande wieder ein. Vieles habe ich versäumt, den ganzen Rivette zum Beispiel, vor allem L’amour fou; auch einen neuen Guy Maddin. Beim Abschlußfest kam dann noch ein Mann daher und sagte, er hätte in Klaus Wyborny einen „genuinen Intellektuellen“ entdeckt (SULLA hatte Premiere), und für die nächste Viennale wünscht er sich einen Tribute an Peter Watkins – das ist nun wirklich eine großartige Idee.