Büchse 1: PASSE MONTAGNE aufrollen vom Stellenwert, den Essen in diesem Film hat. Was in Erinnerung bleibt, ist die haptische Qualität, die Stévenin dem Öffnen einer Konserve (wahrscheinlich handelt es sich um Thunfisch) verleiht. Halbieren eines Brötchens; Öffnen der Dose; mit dem Taschenmesser wird der Fisch im Brötchen verteilt; Öl aus der Dose nachgießen, damit das Brötchen nicht so trocken bleibt; Reinbeißen; für den Mund eigentlich zu groß, aber es geht schon; die Hände schmutzig; von Erde bist Du genommen, zu Erde sollst Du werden. Der Film spricht nicht von Körperlichkeit sondern von Leiblichkeit. Ist durch und durch irdisch. Selbst die Fluggeräte bleiben auf dem Boden. Es genügt, wenn man eine Vision hat. Kein Sex. Die Delikatesse von Frauen wird beschworen, dabei bleibt es. Dafür wissen beide Protagonisten eine Zwiebel nebenbei zu würfeln, so wie Humphrey Bogart eine Zigarette halten kann. Alle Dinge sind immer gleichzeitig anwesend, was zu Unordnung führt, die aber nur höhere Ordnung ist. Was der Film ausstellt ist wohlwollende Verwunderung. Wir befinden uns in einer Passage, nicht wissend, woher wir kommen, und hoffentlich werden wir nicht ankommen, damit das Abenteuer Bestand hat. Staunen als höchste Erkenntnisform und Gnade. Ja, die Haltung des Films ist gnädig. Die ganze Natur und damit jeder Idiot soll hier in sein Recht gesetzt werden. Laut wird Stévenin nur einmal, als es um die Verteidigung des verschrobenen Rezitators geht. – Über Gnade hat einmal Mitsuko Uchida (Pianistin) sehr schön im Zusammenhang mit dem letzten Klavierkonzert Mozarts gesprochen (Klavierkonzert B-Dur, KV 595) und vielleicht kann man in dieser Musik eine Entsprechung finden – nur ein Vorschlag. – Als Zeitgenosse war meine Kritik diesem Lebensgefühl gegenüber harsch: Es tummelt sich auf den Territorien, auf denen sich Fuchs und Hase „Gute Nacht“ sagen. Was aber, wenn der Fuchs das Licht ausknipst? – Mit der Zeit wird man gnädiger. „Es war doch nicht alles falsch, was wir früher gemacht haben,“ unterbricht ein Eindringling die beiden Männer beim Essen. Dieser Satz fällt auf Deutsch. Drei Jahre später sagt Stévenin diesen Satz als einzigen deutschen Dialogbeitrag in Rivettes PONT DU NORD und stellt damit das Geschehen urplötzlich in einen terroristischen Zusammenhang, ohne je konkreter zu werden. Weitere zehn Jahre danach darf der Matrose Max Reichpietsch in NAVY CUT davon sprechen, dass nicht alles falsch war, was wir damals gemacht haben. Kurz darauf wird er erschossen.
Büchse 2: Sarah packt den täglichen Einkauf auf dem Küchentisch aus. Die Küche ist zum Living hin geöffnet. Wir sind in USA. Eddie läuft im Hintergrund auf und ab. Eddie und Sarah streiten währenddessen über Ehrgeiz, Trunksucht, Liebe. Diese Szene ereignet sich in Robert Rossens THE HUSTLER. Im Verlauf der Auseinandersetzung beginnt Sarah damit, die Deckel der gekauften Konservendosen mit einem Tuch abzuwischen. Diese Geste haut mich um. Innerhalb eines extrem gerichteten amerikanischen Dramas, in dem die Hindernisse nach konventionell logischer Konsequenz angeordnet sind, bis endlich Liebe sie überwinden kann, weist das Putzen der Dosendeckel auf einen Zusammenhag von purer Alltäglichkeit hin, für den die gestauchte Konfliktdichte ansonsten keinen Platz lässt. Konservenbüchsen zu säubern hat den Sinn, die Lebensmittel beim Öffnen der Dose nicht zu verschmutzen. Nun werden die Dosen aber im weiteren Verlauf weder geöffnet noch deren Inhalt verspeist. Das Putzen legt aber nahe, dass sie verbraucht werden sollen. Vielleicht liegt die Subversion darin davon zu künden, dass der Konflikt über einer materiellen Basis abläuft, die ihr Recht fordert, auch wenn noch so moralische Werte verhandelt werden, oder dass es überhaupt ein Geschehen geben kann neben Bildersog und Handlungsstrang. Auf jeden Fall – jemand am Set wusste etwas von Haushaltsarbeit.
Die Travestieaktrice Camelia Light nannte eines ihrer Programme: Ich war eine Dose. Zu den weitreichenden Folgerungen des damit aufgerissenen Interpretationsspektrums jetzt nichts mehr.