September 2002

Donnerstag, 26.09.2002

Gott allein weiß, was Brian Wilson meinte
In dem Film L’amour, largent, l’amour wird die Liedzeile oben, God only knows what Brian Wilson meant, mehrfach wiederholt. Ich weiß nicht, wer dieses Lied auf dem Soundtrack singt, aber es ist eine schöne Ellipse, in einem Film zur verrückten Liebe einen Popsong fragend und zweifelnd auf einen Popsong verweisen zu lassen, den Popsong vielleicht über das Gefühl des Geliebtwerdenmüssens und des Verlorenseins ohne das Geliebtsein durch eine/n Bestimmten, God only knows what I’d be without you. Und natürlich wird L’amour, l’argent, l’amour zum Schluß auch, nach 137 Minuten, zu der filmischen Entsprechung eines solchen Geschicks.
L’amour, l’argent, l’amour sah ich zuerst Anfang des Jahres mit Stefan in einer dieser Samstagmittagveranstaltungen ungestarteter Filme im Arsenal, Berlin. Stefan war auch dabei, als wir vor längerer Zeit Grönings TERRORISTEN auf Video sahen. Den Film mochte ich damals nicht besonders. Um den Film herum, und dessen Ausstrahlung im Ersten Fernsehprogramm, Anfang der 90er, gab es einen Skandal, an die Einzelheiten erinnere ich mich nicht – schaltete sich der Bayerische Rundfunk aus dem abendlichen Sendeverbund, weil in dem Film eine avantgardistische Terroristen-Kunstgruppe in einem hamburger Loft ein Attentat auf Helmut Kohl plante und dann auch -scheiternd?- durchführte? TERROISTEN mochte ich nicht sehr, weil er mir zu sehr um das kalkuliert Skandalöse herumgebaut schien; bei seiner bewußt scheiternden modernistischen Artifizialiät kam mir fast das Kotzen. Heute Nachmittag blätterte ich in der Programmzeitung und entdeckte den Ausstrahltermin von L’amour, l’argent, l’amour auf Arte. Ich suchte ein paar Bilder zusammen im Netz und notierte den Film als Fernsehhinweis ins Weblog. Ein Text zu dem Film war mir nicht eingefallen.
Beim Angucken des Films sind mir die Sachen vom Wolfgang Schmidt von dieser Seite eingefallen. Ein/Aus. Fernsehberichte. Wenn Wolfgang Schmidt diesen Text hier schreiben würde, stände jetzt vielleicht auch noch was über Hans-Dietrich Genscher, der in der DAS WERK/arte-Geldscheffel-Reihe “Why are you creative?”, die dem Gröningfilm folgte, nach Kreativitiät, seiner Kreativität gefragt wurde. Irgendwie raffte er, altersweise erscheinen wollend, zwei, drei Substantive zusammen. Phantasie und so. Und das man mit sich im Reinen sein müsse, wegen der Kreativität. Auf dem Wörterberg würde Treffendes stehen können darüber, wie die Kreativen der Wenderschen Sorte Vorschub leisten für nachhaltige semantische Verschiebungen sozio-ästhetischer Begriffe im Sinne Hartzs und Späths. Ich kann sowas nicht schreiben. Ich kann darüber schreiben wie Ludger mir vor Jahren aus der Zeitung die Geschichte von den beiden Jungen erzählte, 12 und 13 Jahre alt: wie sie ein Auto klauen, von Berlin, Marzahn auf die A10 bis nach Hamburg und zurück und kurz vor ihrer Wohnung erst, in Berlin, von der Polizei gestellt werden nach einem Tag und einer Nacht und in der Zeitung habe nichts darüber gestanden, was zwischendurch geschah; und wie man sich aber einen Film ausdenken könnte, der davon, davon was da zwischendurch geschehen könnte, etwas zeigen würde. Bei L’amour, l’argent, l’amour, Grönings Film heute abend, stellte ich mir wider besseren Wissens vor, wie Gröning den großartig ungelenken Schauspielern in Berlin einfach nur Mikrophone angesteckt habe und der Kamerafrau Filme in ihre Tasche gelegt und gesagt: nun mal los, macht mal, wir sehen uns dann in Hamburg. Und wie sie dann losfahren, zu dritt, von Berlin übers Ruhrgebiet nach Duisburg und von dort über Paris an den Atlantik.
Ich habe mir nie die Mühe gemacht, etwas über Roadmovies zu lesen. Ich gucke sie mir aber andauernd an. (Demnächst: Badlands, von Terence Malick, auf Arte.) Fernsehgucken kann man nicht mit Roadmoviegucken vergleichen, es ist eher wie Spazierengehen in Redlightvierteln, kaum ist man an einem Haus vorbeigekommen, zerrt ein nächster Türsteher einen in sein Boudoir, Hans-Dietrich Genschers Auffassungen zur Kreativität zu lauschen. Ich möchte aber noch etwas über den Film von heute schreiben. Aber der Durchmesser meines Fernsehers beträgt etwa dreißig Zentimeter. Als ich Michael heute anrief, um ihn daran zu erinnern, den Film von Gröning nicht zu verpassen, versprach ich ihm vor allem dessen Farben – natürlich hat das Farbenwahrnehmen auch etwas mit dem großartigen Filmfarbenbuch von Frieda Grafe zu tun (Frieda Grafe: Filmfarben, mit Die Geister die man nicht loswird. Ausgewählte Schriften in Einzelbänden, Band 1. Berlin: Brinkmann und Bose, 2002). Im Kino packten mich die Farben von L’amour, L’argent, L’amour spätestens als das Paar Berlin verlassen hatte, im Winter. Aufwachen im Auto auf einem abgeernteten, vereisten Feld. Die Haare kleben an einem oder stehen zu Berge. Und es hat einen schlechten Geschmack im Mund. Und man friert. Und die ganze Leinwand ist schmutzigweiß. Vorher waren die Geschehnisse im Film fast immer in Nacht zu sehen und dann auf einmal dieses überstrahlende Weiß. Stefan und mir schmerzten die Augen im Kino davon. Wolfgang Schmidt schrieb hier einmal etwas über die aufrauhende Funktion des Fernsehens. Dass das Fernsehen die Sujets greifbarer macht, und die Knoten, Übergänge, Scharniere einer Erzählweise diskursiver. Als ich aber bei Michael heute für den Film warb, wollte ich ihn mit dessen artaudscher Rauhheit und vorbehaltloser Unmittelbarkeitsemphase überzeugen, die sich bei meinem Fernsehen des Films aber fast restlos auflöste. Beim Gucken jetzt war mir auch noch Punk eingefallen. Die drei Akkorde und die Unbedingtheit, die es braucht, einen Film zu machen. Ich finde es ganz unverständlich, dass es keinen Verleiher hier gibt, der diesen Film in die Kinos brachte.

Mittwoch, 25.09.2002

Fernseh-Hinweis


L’amour, l’argent, l’amour
, Regie: Philip Groening, Kamera: Sophie Maintigneux, CH/F/D 2000, 137 Min.
Heute, Mittwoch, 25. September, 22:45, arte

Montag, 02.09.2002

In Erinnerung an Frieda Grafe

Textbeitrag zu gleichnamiger Veranstaltung im Kino Arsenal Berlin am 01.09.2002

„Mir wär’s lieb, wir könnten über den Film noch einmal reden, und ich dürfte Ihnen Fragen stellen. Oder finden Sie das ungehörig, weil ich allein damit zurande kommen müsste.“
(Aus einem Brief Frieda Grafes vom 17.01.1997)

Begegnungen mit Frieda Grafe – nur eben zwei oder drei Dinge

Rote Lippen soll man küssen, denn zum küssen sind sie da, … – seltsame Assoziation zu einem Seminar, in dem es um die Geschichte des Dokumentarfilms geht. Eine der wenigen Begegnungen mit Frieda Grafe, bei denen ich ihr direkt gegenüber saß. Sie war eine erotische Erscheinung und das zuallererst. Die Lippen sorgfältig nachgezogen mit einem Rot, das zu den aktivsten gehört, die man finden kann. Die Hände verschränkt vor dem Busen, die Handinnenflächen ihm zugewandt, nicht zufällig oder doch? Warum es gerade hier „der“ Busen heißt, ist der deutschen Sprache geschuldet.

Vor Beginn des Seminars waren noch ganz andere Stolpersteine zu meistern. Wieder und wieder erklärte sich die Referentin als eher nicht kompetent. Aber wenn sie es schon machen würde, dann sei dieses und jenes auch in Betracht zu ziehen. Das Ergebnis war eine Filmliste, die wenigstens 40 Filme, möglichst in der Originalversion, umfasste, um die Bodo Knapheide, als der Studienleitung der dffb zugehörig, sich sorgte. Tatsächlich gelang es ihm immerhin 20 davon rechtzeitig aufzutreiben. Das stürzte Frieda Grafe in Verzweiflung, weil ihr Argumentationsbogen für sie so nicht mehr aufrecht zu erhalten war.
– Weiterhin waren diese 20 Filme in einem zwei- oder dreiwöchigen Seminar überhaupt nicht zu bewältigen, so dass viele Filme ungesehen zurückgingen.
– Hinzu kam, dass ihre Seminarteilnehmer, ungefähr fünf an der Zahl, sämtlich dem Französischen insofern ignorant gegenüber standen, als dass sie einem französischen Film in Originalversion nicht ohne Weiteres folgen konnten.
Und das einer Frankophilen wie ihr – damit hatte sie nun wirklich nicht rechnen können. Wie auch anders verstand sie die Geschichte des Dokumentarfilms als Geschichte des Films. Das Thema hatte ihr die Filmakademie als Klotz so gestellt. Da ihr Blick aufs Ganze ging, kam es nicht in Frage, sich auf einen Bereich zu beschränken. Das Ergebnis war ein vermeintlich heilloses Durcheinander, in Ordnung gebracht durch die strukturierende Kraft ihrer filmischen Leidenschaft. Wie Anna Karina in VIVRE SA VIE, deren Tränen hemmungslos kullerten im Angesicht von Dreyers JEANNE D’ARC, fanden wir sie nach der Projektion von Straubs LOTHRINGEN! im wiederaufscheinenden Licht weinend vor.

„Ich nehme ihre Filme zu persönlich. Sie machen mich so betroffen, daß ich auf Anhieb den Sprung in die notwendige Abstraktion nicht schaffe. Ich müsste es besser wissen und längst die Methode darin erkannt haben.“
(SZ, Nr. 222, 26. Sept. 1997: Patrioten im Niemandsland)

ZORN’S LEMMA von Hollis Frampton wurde wieder und wieder besprochen, immer mit der Befürchtung, ob denn so viel Abstraktion jungen Menschen heute überhaupt noch zuzumuten sei. Sie zeigte uns CHARLOTTE ET SON JULES, in dem bereits alles angelegt scheint, was Godard später zu voller Blüte entwickelt. Den Moscheefilm von Jean Rouch (LA MOSQÉE DU CHAH À ISPAHAN) sahen wir uns mehrmals an, weil ihre Begeisterung für dieses Stück Architekturfilm alle mitgerissen hatte, so dass wir auch gerne noch ihrer Aufforderung folgten, den Film am Abend in einer Veranstaltung im Arsenal, die Helmut Färber ausrichtete, ein weiteres Mal zu betrachten. An diesem Filmabend muss es gewesen sein, da alle Krähen Brandenburgs sich in den Wipfeln der Fuggerstraße versammelt hatten. Als das Publikum das Kino verließ, stoben sie auseinander, setzten sich erneut, brachen wieder als schnatternde, krächzende Wolke gen Himmel auf, blieben ihrem Standort aber treu. Mehr als Hitchcock sich jemals hätte ausdenken können – sie war beeindruckt; immer wieder kam sie auf das unglaubliche Ereignis dieser Versammlung der Vögel zurück – ungezügelte Naturgewalt.

Sie schimpfte, dass die filmtheoretischen Beiträge aus USA sich seit Jahren nur den Genderstudies zuordnen ließen, und gleichzeitig gewann man den Eindruck, dass ihr dieser Sachverhalt nicht so ungelegen kam. Sie zeigte uns THE SAGA OF ANAHATAN, dieses letzte sternbergsche Kunstprodukt aus Studiotechnik und Kabukiexotik, als dokumentarischen Versuch. Und irgendwie kam die Sprache immer wieder auf Carl Einstein und Jean Renoirs TONI, obwohl der Film gar nicht auf der Liste und somit auch nicht zur Verfügung stand. Sie hatte eine Vorführung des Films im Arsenal einige Jahre vorher begleitet. Die Beteiligten trafen sich im Anschluss in einem italienischen Restaurant um die Ecke. Harun Farocki saß mit Frieda Grafe an einem Tisch, machte aber seine Honneurs später auch an anderen Tischen und erzählte uns dabei, wie sie jedes Gericht kommentieren und bestimmen konnte, was daran z.B. alles falsch zubereitet gewesen sei. Ihm hätte es aber geschmeckt. Das klang mehr behauptet als überzeugt. Das Auge hatte mitgegessen.

Als mir ein Text von Brigitte Wormbs in die Hände fiel, ‚Utopia schwarz auf weiß – Aufzeichnungen zu Carl Einsteins Entwurf einer Landschaft‘ (in: Brigitte Wormbs: Raumfolgen, Darmstadt 1986) ließ ich ihr eine Kopie als Hinweis für ihre Einsteinforschungen zukommen. Auch hierin war von den brandenburgischen Krähen die Rede.

„Man will dem Todesprozeß entfliehen und stellt Bilder in das Dasein. Das ist die Bildgrenze,“ wird Carl Einstein dort zitiert und an anderer Stelle:
„Man müßte fragen, wie weit Bilder nun unseren Wahnsinn verstärken oder wir sie als Waffe gegen die willkürliche Mechanik der Zeichen benutzen, um den Dingen und der Wirklichkeit zu Hilfe zu eilen.“
Frieda Grafe hat die Moderne für tot erklärt und in Klammern fügte sie listig, schnippisch, wie hinter vorgehaltener Hand hinzu: „(Das Kino ist auch halbtot.)“ (SZ, Nr. 222, 26. Sept. 1997: Patrioten im Niemandsland).

Die Computerisierung der Welt empfand sie als einen persönlichen Angriff auf ihre Integrität. Trotzdem oder gerade deshalb war sie von sprühender Jugendlichkeit und Interessiertheit – dazwischenstehend eben -, wie sie sich begeistern konnte z.B. über Kluges Bauernschläue, der es geschafft hatte, zu Hauptsendezeiten auf zwei oder drei Kanälen gleichzeitig Plätze zu besetzen. Sie war sich bewusst, dass das der Jugendkultur am Arsch vorbeiging. Aber welche Kultur war hier die jüngere?

In einem Lied von Ella Fitzgerald heißt es:
„… and you appear in all your splendour …“
Ich glaube, das ist eine Liebeserklärung.


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