Montag, 13.01.2003

Das Licht des Nordens

(Maurice Pialat: A nos amours )
Von Jörg Becker

Bunt, unbestimmt und müßig zeigt sich in den ersten Bildern das Leben zur Ferienzeit. Die Sonne sticht auf das helle, leuchtende Deck einer Yacht, an deren Bugspitze ein Mädchen sich gegen die Reling lehnt; eine Rückenansicht, sein Haar und Kleid flattern im Wind.

Voraus zum weiten, vagen Horizont blickt das Mädchen Suzanne, gleichsam eine Galionsfigur über den Wellen, die die Launen des Meeres beschwichtigt – ein mächtiges emblematisches Motiv. In den grellbunt gefärbten Figurenschnitzereien fanden sich früher die Individualität eines Schiffes, einer Besatzung, einer ganzen Küstenbevölkerung sinnbildlich dargestellt. Wenn sich Suzanne am Schluß der Einstellung umwendet, werden gleich im nächsten Bild die Blicke dreier Männer, die hinter ihr stehen, einer am Steuer des Schiffes, auf ihr ruhen.

Das Verhältnis zwischen Suzanne und dem jungen Luc wird eingeführt. Man sieht sie, wie sie am Tag zu ihm geht – sie überquert eine Landstraße und steigt die Böschung hinab, wo er im Grünen sein Zelt aufgebaut hat. Je stärker Luc bei ihrer Begegnung seinem Verlangen nach Suzanne Ausdruck gibt, desto mehr entzieht sie sich seinen Berührungen. Ihre Ausflüchte, sein ahnendes, bitteres Mißtrauen, dem sie, es zu zerstreuen, zu entgegnen sucht – in dieser Szene ist ihre Ablösung von ihm vorgezeichnet, sie ist entschieden. Im roten Abendlicht am Rande der Autoroute trennen sie sich voneinander. An dieser Stelle entsteht in der Komposition des Landschafthintergrunds und in der Tönung, dem besonderen Tageslicht, ein für den Film außergewöhnliches Bild: unter ruhigem, gesättigtem Sommerhimmel, in tiefer Sonnenwärme des späten Tages gleitet die graue Fahrbahn in einer Windung aus dem Blick, verschwindet in einem Streifen von dunklem Piniengrün geschwungener Waldhügel; gegen die sinkende Sonne, der ferne Höhenzug in rauchig verwaschenem Blau, geht Suzanne an der Straße entlang. Es ist der Abschied von dem Freund, ihrer ersten Liebe, in dem der Abschied von einer Zeit sichtbar wird.

Suzanne in den Kulissen des Hafens; Lokale, Bars, in denen sie von Matrosen umgeben ist, die sich für sie interessieren. Die jungen Seeleute stecken adrett wie Musical-Akteure in ihrer weißen Leinenkluft. Einmal sieht man das Bild eines Marinebootes im nächtlichen Hafen, dann, nach einem Schwenk, am Kai unter Lampions ein Tanzfest, am dem auch Suzanne teilnimmt.

Es kommt zu einer kurzen Begegnung zwischen ihr und einem Amerikaner. In einer Diskothek spricht er sie an. Nach ihrem Beischlaf abseits vom Weg im Unterholz bedankt sich der Mann mit einem beiläufigen — und was sie ihm daraufhin in einem verblüffen selbstverständlichen Ton erwidert: , es entfährt ihr, ohne daß sie sich der Bedeutung dieses Vokabulars wirklich bewußt sein kann; die Entgegnung erscheint wie abgeschaut, als spielte sie etwas, das sie noch nicht ist. Eine Prophezeiung in wenigen Worten.

Nachts klettert sie über die Mauern der Ferienherberge. Im Schlafraum entkleidet sie sich leise auf ihrem Bett. Die scheinbar schlafenden Freundinnen schauen schon gespannt von der Seite herüber.

In den kurzen Szenen und skizzenhaften Begebenheiten des Ferienaufenthalts ist ein Entwurf zu dem Bild des Mädchens enthalten aus einem Stadium, in dem es durch Männergeschichten in der vertrackten Erfahrungswelt der Affären rundum bestimmt zu werden beginnt. Eine Weichenstellung. Ein Erkennen teilt sich mit: daß auf der schiefen Ebene zwischen kurzer Befriedigung und unbestimmter Sehnsucht zumindest bei einem von zweien sich etwas unwiderruflich verliert vor den trüben Spiegeln der Selbstbestätigung durch einen anderen.

Der Abschnitt am Mittelmeer zu Beginn ist wie ein eigener Film, der wie eine schwache, hindurchscheinende Kontur im weiteren gegenwärtig bleibt. Nun findet man sich auf einmal in der Umgebung städtischen Familienlebens, in der Atelierwohnung eines Kürschners, des Vaters von Suzanne. Das Licht hat sich verändert. (Nach Pierre Bonnard ist das Licht des Nordens, das sich ständig verändert, interessanter als das Licht des Südens – der Maler wird in dem Film von dem Mädchen besonders geschätzt; sie liebt seine Sinnlichkeit.)

Der Film folgt Suzanne, wie sie sich zwischen ihrer Familie, den Eltern und dem Bruder, und ihrer Clique bewegt, wie sie sich für den Abend mit Jungen aus dem lockeren Freundeskreis verabredet, mit denen sie schläft. In den Straßen auf der Suche nach einem Zimmer; ihr Liebhaber geht in ein Hotel und erkundigt sich, während Suzanne draußen wartet. Dann schneidet der Film in ein atemloses, erhitztes après hinein; die zwei Körper erschöpft aneinanderliegend; ein sexueller jour fixe, dem neben der Freiheit, die er bedeutet, auch eine Beliebigkeit anhaftet. Wie von sportlicher Kollegialität, das ausgelassen triumphierende Lachen.

Es liegt ein Drang zu vergessen in diesem Nehmen, Erbeuten, eine Selbstvergessenheit und ein Vergessen von allem, eine Auflösung in auswegloser Wiederholung.

Als Suzanne in der Nacht heimkommt, ist der Vater, mit dem es vorher eine heftige Auseinandersetzung um ihr Aussehen gegeben hatte, noch auf. Er spricht ruhig, fast versöhnlich; er täuscht sich nicht über ihre Lebensweise, ihren Umgang. Träumerisch erinnert er sich der Kindheit seiner Tochter, eines früheren Glücks, das er jetzt nicht mehr an ihr wahrnimmt. Die Lebensauffassung des Vaters hat nur in seiner Vorstellungswelt, nicht mehr in der Familie, die um ihn ist, überlebt. Im Laufe des Gesprächs traut er Suzanne an, daß er die Familie verlassen wird. Am Morgen eröffnet der Bruder seiner Mutter, der Vater sei fort. Sie steht versteinert im Raum. Nichts wird mehr sein wie früher.

Es gibt das Bild eines lakonischen, exklusiven Zusammenhalts, ja einer Spur von innerer Komplizenschaft zwischen Vater und Tochter – aus dem selben Stoff, so heißt es gemeinhin. Gerade deshalb sieht er an dem erwachsen werdenen Mädchen, in dessen Haltung und gleichsam durch es hindurch die eigenen Maximen zuschanden werden, begreift möglicherweise den Verfall der ihm gültigen, zu bewahrenden Ethik. Etwas ist abgeschlossen; nichts wird hier mehr berühren. So ist die resignative Toleranz des Vaters zu verstehen, als er Suzanne am Ende zum Flughafen begleitet, immer werde sie mit seiner Hilfe rechnen können. Suzanne fliegt mit einem Freund nach San Diego. Ihr Vater, als er im Autobus zurückfährt, ist wie gezeichnet von einer schweren Krankheit. Zuletzt zeigt ein Bild den Blick in die Dunkelheit eines Tunnels, in die der Bus eingetaucht ist.

Die beiden Personen ähneln einander im Charakter und in ihren Konsequenzen, und der Geist ihrer Geschichte ist der eines unweigerlichen Zerfalls, im Zeichen eines intimen und zugleich allgemeinen Sturzes.

Nach dem Fortgang des Vaters kommt es wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, sobald Suzanne einmal nach Hause zurückkehrt. Ihre Mutter verfällt in hysterische Ausbrüche, der ältere Bruder beschimpft seine Schwester und schlägt auf sie ein. In Szenen blindwütigen Hasses offenbart die Seite der Bitterkeit in dieser Geschichte dramatisch ihre Verzweiflung; wie zurückgebliebene Versprengte warten Mutter und Sohn, die Betrogenen, in der großen Wohnung auf Suzanne. Für die Mutter ist das Mädchen längst zur Hure geworden, sie macht es für das familiäre Elend verantwortlich; einmal nennt sie es ein Monstrum.

Suzanne ist das Mädchen, das inmitten der gleichaltrigen Schulfreunde bereits auf den ersten Blick auffällt, eine dominierende Gestalt. Man ahnt, was physische Präsenz heißen mag, angesichts ihrer noch wenig sublimen, herausfordernden Körperlichkeit.

In den Zügen von Suzanne – sie sitzt im Regen auf der Bank einer Bushaltestelle – gibt sich in wenigen Einstellungen ein Anflug von tiefer Melancholie zu erkennen, darin eine Trennung von Handeln und Gefühl in ihr zum Ausdruck kommt. Das Bild von Suzanne, eins mit sich in Momenten der Lust wie in denen des häuslichen Schreckens, schlägt um in eines der Verlassenheit. Eine Rückkehr zu Luc, der sich nach einer Begegnung in der Stadt wegen einer ihrer Affären verletzt zurückgezogen hatte, ist für sie unmöglich geworden; als sie einander einmal in einer Boutique wiederbegegnen, spürt man, daß er, seine Liebe zu ihr, durch die bloße Anwesenheit Suzannes gedemütigt wird, in diesem Augenblick haßt er sie dafür.

Die Variation einer Geschichte, wie sie in A bout du souffle von Michel erzählt wird: Ein Mädchen, das mit tout le monde geschlafen hat, weist den, der es wirklich liebt, eben aus dem Grund ab, weil es sich mit so vielen Männern eingelassen hat.

Nichts vermag ein Versprechen für das Kommende zu bedeuten; es gibt nur eine insgeheime Sehnsucht Suzannes nach dem verlorenen Moment des Glücks. Als Luc ihr vergeblich seine Liebe gesteht, entsinnt sie sich einer Situation, mit ihm, die ihr im selben Augenblick mit Gewißheit vor Augen geführt hat, daß sie niemals werde noch einmal so glücklich sein können.

Man drängt Suzanne zur Heirat mit dem derzeitigen Freund, einem jungen Mann, der gutbürgerlichen Kreisen angehört und der sich seinerseits um Suzanne bemüht hat. In einer langen Szene gegen Ende sieht man eine Feier, auf der die Partner Suzannes und des Bruders anwesend sind, daneben einige Freunde und, im Gespräch exponiert, der Schwager des Bruders, der das Modell des modernen Kulturbourgeois abgibt. Die Plauderei bei Tisch vermittelt eine Art leichthin überheblicher Konversation in Dingen der Kunst, die sich von keinem Gegenstand zu lösen vermag, ohne nicht ein je persönliches und möglichst eigenwilliges Etikett an ihm hinterlassen zu haben.

In ihrer Bedeutung für die Geschichte des Films und durch ihre besondere Gestaltung hebt sich eine Szene aus dem Geschehen hervor: das nächtliche Gespräch zwischen Vater und Tochter, in dem er sein Fortgehen ankündigt (eine lange Sequenz aus dieser Szene zeigt ausschließlich die Personen in sehr nahen Einstellungen). Anfangs von einer leichten Vergangenheit, treten sie allmählich aus ihrer Rolle heraus, aus der von Vater und Tochter, und möglicherweise zugleich, so erweckt es den Eindruck (da der Darsteller des Vaters auch die Regie des Films geführt hat), aus ihren Funktionen als Regisseur und Protagonistin; in dieser Betrachtung erklärt sich womöglich der Charakter des Improvisierten, den diese Szene besitzt.

Die unverdeckte Beziehungslosigkeit vor Augen, vermag er sich als Vater nicht mehr hervorzuspielen. In dem Bewußtsein, daß der Einfluß auf seine Tochter für immer verloren ist, findet er sich in der Lage, ihr gelassen zu begegnen. In der Gewißheit, daß sich ihre Sphären unumkehrbar voneinander fortbewegt haben, ist der Grund angelegt für die stupende Nähe zwischen den beiden Personen, die wie entlastet wirken, von schwerer Bürde befreit. An ihnen erscheint die Nähe wie eine Rückkehr zu einer nackten, ungebundenen Begegnung, die es nie zuvor hätte geben können.

Mutter und Bruder stehen noch im Bann eines zwanghaften Zusammenhangs; der Terror verbindet sie. Die Personen des Vaters, der Tochter hingegen, die jegliche Gekränktheit und Eifersucht zurückgelassen haben, sie befinden sich in ihrer resignierten Nähe zueinander wie beiderseits eines klaffenden Abgrunds, dünnere Luft umgibt sie. Eine heillose Nähe wohl, die auf dem endgültigen Riß gründet. In ihr, da keine Hoffnung mehr ist, tritt die Wahrheit dieses Films zutage.

Aus: Filmkritik Nr. 327-328 * 28. Jahrgang, Heft 3-4/1984 * S.107-111

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