Mittwoch, 02.04.2003

Mit den Augen schreiben

oder: 5 Komplimente an Frieda Grafe

Von Michael Girke

Liest man die in den 60ern und 70ern entstandenen Filmkritiken Frieda Grafes, kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Diese Texte erschöpfen sich nicht darin Filminhalte zu erzählen und sie zu werten. Vielmehr ist in ihnen eine alte neidische Hoffnung Schreibender fulminant verwirklicht: Daß sich die Möglichkeit des Films, mittels der Montage Zusammenhänge anders, neu darzustellen, in geschriebene Filmkritiken übertragen lassen möge.

Zudem handeln diese Texte immer auch von denen, die Filme betrachten. Dadurch verlangen sie Lesern und Zuschauern etwas ab. Sie fordern uns auf, unser Verhältnis zum Film kritisch in den Blick zu nehmen. „Nirgends kann man seine Reaktionen so gut überprüfen wie vor einem John Ford Film. Wie weit einem die eigene Verbildetheit, die intellektuelle, gestattet mitzugehen. (…) Ford Filme haben etwas Rohes, Unbearbeitetes, auch Generelles. Mit ihnen stellt er sich bloß. Deshalb ist man sofort bereit ihn zu verteidigen gegen die auf der Seite des Gesetzes, des guten Geschmacks, die wissen, was erlaubt ist.“

Diese Sätze sind ganz und gar nicht selbstverständlich. Frieda Grafe schreibt sie in den frühen 70ern, in der Zeit des Vietnamkriegs, als HollywoodProduktionen in Deutschland doppelt verpönt sind. Sowieso betrachtet man sie als industrielle Fließbandware, nun bezichtigt man sie zudem, US-Ideologie zu transportieren. Hollywood gilt als dummer und böser Verwandter des künstlerisch wertvollen Films. Letzteres ist eine Folge der von französischen Regisseuren in den 50ern entwickelten „Politik der Autoren.“ Wie heruntergekommen und unreflektiert dieses Denkmodell mittlerweile ist, das führt Frieda Grafe vor. Wie wenig politisch-ideologische Betrachtungsweisen übrig lassen vom Kino, das auch. Ihre Sätze sind mit den Augen geschrieben. Im Lichte ihres genauen Blickes löst vermeintlich Amerikanisches sich auf – der als „amerikanischter aller Regisseure“ etikettierte und verworfene Westernregisseur John Ford wird sichtbar als Macher sehr persönlicher Filme.

Der Text über John Ford entsteht lange nach dem die Filme des Regisseurs aus den Kinos sind, für ihn gibt es nach landläufiger journalistischer Auffassung keinen Anlaß. Frieda Grafe aber liefert Filmgeschichte. Und für die gibt es immer einen aktuellen Anlaß: Das schlechte Gedächtnis der Kultur, die wir um die Kinobilder herum entwickelt haben.

1960 Vielleicht versteht man die Arbeit Frieda Grafes besser durch einen Rückblick auf ein Legende gewordenes Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts: Die Sixties. Als unsere Eltern oder Großeltern „die Kinder von Marx und Coca Cola“ genannt wurden und die greisen Regisseure von heute – Chabrol, Godard, Rivette, Rohmer – Teile einer als Nouvelle Vague bekannten Jugendbewegung waren.

Kino als Jugendbewegung? Ja! Mehr noch: im Verständnis vieler damaliger Betrachter, war mancher Nouvelle Vague Film ein ausgemachter Teil von Pop. Im Kino gilt ähnlich wie in der Literatur: Wer von Klassikern redet, hat vergessen oder will vergessen machen, daß viele dieser Werke einst gegen bestehende Denkweisen und Verhältnisse gedacht waren. Unwiderstehlich ist, was Eltern die Wände hoch gehen läßt – das ist nach Little Richard das erste Gesetz der Jugendkultur. Das ist so und das ist nicht nur so. Ich würde ein Gesetz hinzufügen wollen: Unwiderstehlich und bereichernd ist, was die Brusttöne, Weltbilder und Sprechweisen der nur Vernünftigen und der freiwilligen Deutschen anficht, was denen unverständlich bleibt.

Man sehe sich Jean Luc Godards „Außer Atem“ von 1960 an. Wie häufig die neugierig den Dreharbeiten zusehenden Passanten ins Bild geraten und die perfekte Fiktion stören. Weil die neuen französischen Filme nicht, wie es damals Standard war, in teuren Studios gedreht werden, sondern auf der Straße und weil man ihnen ihre Billigkeit ansieht, gelten ihre Regisseure beim damaligen Filmestablishment als Amateure. Halbgebildete Dilettanten nennt Grafe sie und meint das nicht abwertend, sondern sympathisierend.

Eine Sympathie, aus der sie Konsequenzen zieht. Frieda Grafe schreibt ihre Filmkritiken ebenfalls aus der Position der Dilettantin (1). Was ihre Texte vor allem auszeichnet, ist eine unbändige Liebe zum Kino, das heißt, ein obsessiver Umgang mit einer Ware: Film. „Der Cinephile will wertungsfrei alle Filme zur Kenntnis nehmen. Er will unterschiedslos alles von einem Regisseur kennen. Er ist primär kein Kinemathek-Besucher, er holt sich, was er sucht, wo immer er es findet. Er ist der nimmersatte Zuschauer. Rivette und Godard sollen am Tag des Programmwechsels in den Pariser Kinos immer an die zehn Filme absolviert haben“(2).

Muß man Äußerungen von offensichtlich filmsüchtigen Dilettanten ernst nehmen? Eine Frage der Perspektive. Amateurhaft und falsch sind die Filme der Nouvelle Vague, wenn man die Dramaturgie und Ausstattung eines professionellen europäischen oder Hollywood-Films zum Maßstab nimmt. Falsch sind Äußerungen zum Film, wenn man eine bestimmte Konsumhaltung oder auch eine bestimmte Form von Wissenschaftlichkeit zum Maßstab nimmt. Beides sind Versuche Umgang mit und Denken zum Film mittels einiger weniger, als allgemein akzeptierter Tatsachen und Vorgehensweisen zu disziplinieren und zu regeln.

„Ist in unserer Industriegesellschaft der Amateurismus nicht eine Art von befreiender Lebenskunst“ wird 1978 Roland Barthes in der französischen Zeitschrift Elle gefragt. Antwort: „Der Amateur setzt den Akzent auf die Produktion des Werkes und nicht auf das Werk als Produkt. Nun leben wir aber in einer Zivilisation des Produkts, in der es subversiv ist, Vergnügen am Produzieren zu empfinden. Die Malerei kennt Amateure, denen es eine ungeheuren Spaß macht zu malen, und dieser Spaß ist etwas sehr Wichtiges. Der ‘gesunde Menschenverstand’ jedoch empfindet ein gewisses Mitleid gegenüber dem Amateurismus. Wenn es nicht sogar eine Art Furcht ist. Nämlich die, daß er Außenseiter erzeugt. Also Subversive.“

Vieles ist berührt in diesen Zeilen. Auch die Frage, was Filmkritik leisten soll oder sein kann. Viele sehen in ihr eine reine Dienstleistung, einen Freizeittip oder einen Parasiten, der von der Arbeit anderer Leute profitiert. Frieda Grafes Filmkritiken hingegen sind das reine Vergnügen, Glücksmomente, die entstehen, wenn Konsumieren und Produzieren eins werden.

Was diese Filmkritiken produzieren, ist Unfrieden, Unordnung, Auseinandersetzung, mit anderen Worten, Denken zum Kino. Als ginge es um Leben und Tod deckt Frieda Grafe Probleme der Kinorezeption auf und stürzt so Film- und Theoriedenkmäler von ihren Sockeln. Gegen hochnäsige europäische Vorstellungen von Kunst, gegen alle, die aus dem Kino eine moralische Anstalt machen wollen, verteidigt sie die „billigen“ Sensationen und Kicks des Kinos. Gegen Vorstellungen vom Kino als plane Abbildung von Realität, feiert sie dessen Künstlichkeit und Glamour. Sie tritt vehement ein für das Melodram, das Kino der Gefühle, gegen die, die es denunzieren als Kitsch für Frauen. Mit Hierarchien und Unterscheidungen zwischen „Wichtig“ und „Unwichtig“, dokumentarisch und fiktiv, zwischen Spielfilmen und anderen, angeblich schwierigen, angeblich skurrilen Dialekten des Kinos wird gar nicht erst angefangen.

Was einen nachhaltigen Bruch darstellt, was wirklich neu ist an Frieda Grafes Kinoliebe, ist ein Import aus Frankreich: „Sie (die jungen französischen Regisseure; Anmerkung des Verfassers) forderten die Reflexion vom Gebrauch der Mittel. Als wir versuchten, in Deutschland, es ihnen gleichzutun und aus dem Kino einen Gegenstand der Reflexion zu machen, wurden die wütend, die ihr Konsumglück im Kino gefährdet sehen und schimpften uns Cineasten.(3)

Reflexion der Mittel des Kinos meint, die Eigenart des Film zu begreifen, zu erkennen, daß Schönheit und Wert dieses jungen Mediums daraus erwachsen, nicht den Maßstäben zu entsprechen, die man an tradierte europäische Künste (Literatur, Theater, Malerei) anlegt und deren Erziehungsaufgaben nicht unterworfen zu sein. Es geht darum, mit den Formen und Techniken des Films als solche umzugehen, und das heißt auch, mit der verführerischen Macht der Bilder.

Godard, Truffaut und andere Regisseure der Nouvelle Vague haben es immer wieder betont, ihre sind von Zuschauern gemachte Filme. „Dilettantisch“ wirken sie, weil sie, anders als die Filme der Profis, Verstehen als relativ unsicheren Vorgang betrachten und, weil sie die teilnehmende Mitarbeit des Zuschauers fordern, statt ihn zum bloßen Konsumenten zu erniedrigen. Zuschauer und Zuschauen sind Bestandteile des Films. Um es in der Sprache des Internetzeitalters zu sagen: Dilettanten sind User, die ebenso viel Zugriff und Mitsprache am Produktionsprozeß und am Content einfordern, wie ihn die Anbieter haben. Dilettanten sind Filmkritiker.(4)

Es ist viel über das in Deutschland herrschende Verhältnis zum Kino gesagt mit der Feststellung, daß die Bezeichnungen Cinephilie und Dilettantismus bis heute Mitleid auslösen oder Schimpfwörter geblieben sind. Und so sind die Texte Frieda Grafes ein deutsches Kinowunder: Weil sie immer auf Reflexion der spezifischen Mittel des Kinos aus sind, lesen sich ihre 40 Jahre alten Texte wie Kritiken zu aktuellen Filmen.

1994 Ein Stück Filmkritik aus dem Jahre 1994: „Mit diesen Bildern, die in der Filmgeschichte ohne Gegenbeispiel sind, hat Spielberg den Kampf um die Erinnerung gewonnen“ schreibt Andreas Kilb (in „Die Zeit“) über „Schindlers Liste“ von Steven Spielberg. Dieser Einschätzung setzen deutsche Feuilletons und Filmzeitschriften keine Frage, keinen Widerspruch entgegen. Hilft ein Einzigartigkeitsurteil der Diskussion eines Films weiter? Was soll das für ein Kampf sein, der mit Filmen um Erinnerung geführt wird? Wie kann Film individuelle Erinnerungen von Holocaust Opfern repräsentieren?

Mit „Schindlers Liste“ wird Steven Spielberg der mit Auszeichnungen überhäufte offizielle Säulenheilige des Geschichtsfilms. 1998, zu Spielbergs „Soldat James Ryan“ schreibt Andreas Kilb: „Hiermit ist das Wesen des modernen Krieges als ganzes erfaßt.“
Andreas Kilbs epische Worte sind möglich, weil sie das, wovon sie zu handeln vorgeben – Geschichte und Filmgeschichte – vollständig ausblenden. Die Filmgeschichte kennt hunderte wie „Schindlers Liste“ gebaute Spielfilme zu realen Ereignissen wie Krieg und Holocaust. Und sie kennt viele Filme, die sich der Historie anders annähern als Spielbergfilme. Was folgende Zeilen von Frieda Grafe belegen: „Jean Luc Godard gibt in Die Carabinieri nicht vor, einen Krieg, der wirklich geschehen ist, rekonstruieren und in seinem Abbild sein Wesen darstellen zu können. (…) Immer hält Godard dem Zuschauer gegenwärtig, daß das, was er da sieht, Film ist und nicht die Wirklichkeit selbst. Wenn Godard zwischen zwei kontinuierlich aufeinanderfolgende Einstellungen ein paar Zentimeter Schwarzfilm klebt, so macht er dem Zuschauer bewußt oder läßt ihn zumindest spüren, daß das, was er sieht, Film, gemacht, hergestellt ist.(5)

Warum ist illusionsstörender Schwarzfilm, also der Verweis auf die Gemachtheit des Kriegsfilms so wichtig? Frieda Grafe: „Die realistischen Kriegsfilme huldigen dem Krieg insgeheim allein schon durch ihre Dramaturgie und Inszenierung. Die ‘realistischen’ Kriegsfilme huldigen dem Krieg, in dem sie vorgeben, objektiv ihn abzubilden. Sie tun, als sei die Einstellung einer explodierenden Granate vergleichbar einer explodierenden Granate. Weniger, daß sie eine explodierende Granate zeigen, ist ihnen zum Vorwurf zu machen, als vielmehr, daß sie nicht zeigen, daß sie nur zeigen, wie eine Granate explodiert.“(6)

Frieda Grafe macht gar nicht erst den Versuch, politisch und moralisch erwünschte und bedenkliche, anspruchsvolle und blutrünstige, historisch genaue und ungenaue Kriegs- und Geschichtsfilme zu unterscheiden. Sie schließt von der Unterhaltungsindustrie, die auch Geschichtsfilme produziert, auf die Form der Filme. Vom Genuß, den das Publikum auch von Kriegs- und Geschichtsfilmen verlangt, auf die bewährten Inszenierungen, Muster, Dramaturgien, die diesen Genuß gewährleisten. Was man so in den Blick nimmt, ist, wie Geschichte sich formt, wenn sie durch Kameraaugen gesehen und präsentabel gemacht wird.

Reflexion der Mittel des Geschichtsfilms heißt nicht, Kino besserwisserisch zu entzaubern oder Spielberg unmöglich zu machen. Nimmt man Filmformen wahr, zeigt sich, wie sehr Steven Spielberg die Filmgeschichte kennt und sich ihrer bedient. Seine Erinnerungsfilme „Schindlers Liste“ und „Soldat James Ryan“ klauen, basteln, zitieren sich ihre „Einzigartigkeit“ und „Authentizität“ zusammen aus gängigen filmischen Versatzstücken. Krieg aus zweiter Hand. Und genau dagegen gibt es nichts einzuwenden. Was könnte Film anderes sein?

Aber jeder Blick auf die Techniken, mit denen ein Spielbergfilm versucht seine Inszeniertheit zu übertünchen und nahelegt ihn als realistisch anzusehen, wird von offizieller Filmpolitik und ihr ergebener Kritik manisch gemieden. Warum? Weil Holocaust, Krieg und Erinnerung fundamentale, ernste Themen sind. Weil Film auch soziale und geschichtliche Verantwortung haben und pädagogisch wirken soll. Und all dies soll nun nicht ausgerechnet Scheißfilmen aus Hollywood überlassen bleiben. Was man in Kino und Fernsehen aber auch nicht will, sind unpopuläre Positionen, Intellektuelles, Quotenkiller.

Und so kommt in Deutschland eine ernsthafte Diskussion über das Verhältnis zu Film und Erinnerung nicht nur nicht zustande, der hiesige Filmdiskurs öffnet dem Irrsinn Tür und Tor. Fester Bestandteil vieler Filmkritiken und Äußerungen zum Film sind Verachtung für und Verhohnepiepelung von US-Actionreißern. Weil man das, was man für gut, wahr und wertvoll hält meint schützen zu müssen, distanziert man das Spektakelkino und übertüncht dabei, daß Actionreißer und vermeintlich anspruchsvolle Filme denselben Konstruktionsweisen folgen. Es sind alles Spielfilme, Erzählfilme, Fiktionen, Märchen mit Sympathen, Unsympathen, Konflikten, Spannung und Action.

Das Böse in diesem Diskurs entsteht, insofern ist er ein Klassiker, durch Konstruktion eines Feindbildes, eines Anderen, auf den das Schlechte, also das Inszenierte, die populistischen Schemata und Effekte im eigenen Lieblingskino, projiziert werden kann. Mit anderen Worten: Jenseits von Einfältigkeit und öffentlich rechtlichem Irrsinn, ist kein Unterschied auszumachen zwischen einem Spielbergfilm und einem Scheißfilm. Das ist nicht meine Entdeckung, es könnte eine Binsenweisheit sein, eine absichtsvoll verdrängte, aus bald 40 Jahre alten Filmkritiken von Frieda Grafe.

1995, als das Kino 100sten Geburtstag feierte, erklärte Jean Luc Godard, welch ein Glück es für seine Generation gewesen sei, in den 50ern mit dem Nachdenken über Film und dem Drehen von Filmen beginnen zu können. Das Kino war noch relativ jung, die Kinoindustrie noch nicht perfektioniert, die grundsätzlichen Fragen und Probleme noch offen. Genau dieses Glück übertragen die Texte Frieda Grafes auf ihre Leser. Schön ist, wie ernst sie das Publikum als Gegenüber nehmen, was sie ihm zutrauen. Sie sind eine Einladung, die grundsätzlichen Fragen des Kinos, wie sich das Filmen zu Menschen und zur Geschichte verhält zum Beispiel, offen zu halten, zu diskutieren und dabei ein Verhältnis zu Film und Vergangenheit immer wieder zu entwickeln.

Andreas Kilbs Einzigartigkeitsurteil zu Spielberg ist in allem das Gegenteil. Es ist keine Schwärmerei, dazu ist es zu sehr im Ton von Sachlichkeit und Allgemeingültigkeit gehalten; es regt auch nicht an, irgend etwas zu diskutieren, es ist das letzte Worte zum Geschichtsfilm. Es gibt nur eine Erklärung für eine solche Äußerung: Es geht gar nicht um Geschichte, es geht um Geschichte, wie sie gegenwärtigen Zwecken in den Kram paßt. Nicht „Filme kämpfen um Erinnerung“, es kämpft der Kritiker um Autorität und öffentliche Stellung. Also wird Kino dingfest gemacht und normiert. Hierarchien und Maßstäbe werden eingeführt und guter Geschmack, all das, was ein Filmkritiker meint öffentlich kontrollieren zu müssen.

Weil Frieda Grafe nicht so überheblich ist, sich für einen besseren Zuschauer als andere zu halten, klebt sie immer wieder illusionsstörenden Schwarztext in ihre Filmkritiken. Autoritätsgesten und Allgemeingültigkeit ridikülisierende Passagen: „Wenn Frauen über Filme schreiben, die Männer über Frauen machen, sollte man dem Geschriebenen so wenig trauen wie dem Gefilmten – je nachdem, ob man Mann oder Frau ist.“

1926 in 1976 Die Eigenschaft der Bilder, die man realistisch nennt, sieht Frieda Grafe auch da, wo es allgemeine Vorstellungen am wenigsten erwarten: In den zum Teil bis heute als reines Kommerzkino verachteten Genrefilmen Hollywoods. Zum Beispiel bei Howard Hawks oder Fritz Lang. Fritz Lang, dem Siegfried Kracauer in seinem zum filmwissenschaftlichen Standardwerk avancierten Buch „Von Caligari zu Hitler“ vorwirft, daß er Menschen zu Ornamenten, zu dekorativen Versatzstücken herabwürdigt: „ein Kino reich an Spektakel, arm an Gefühlen“, „Triumph der Verpackung über armselige Inhalte“ so Kracauer über Lang.

Frieda Grafe widerlegt Filmgeschichtsschreibung, in dem sie Bilder montiert. In dem 1976 erschienen Fritz Lang Band der blauen „Reihe Hanser“ stellt sie seitenweise Einstellungen und Motive aus zeitlich weit auseinander liegenden Filmen des Regisseurs nebeneinander. Die Filmkritikerin schreibt auf, was Montage ans Licht bringt: Die von diversen Filmhistorien in wichtige (die im Deutschland der 20er entstandenen „Kunst- und Autorenfilme“) und weniger wichtige (die im Exil in Hollywood entstandenen, „angepaßten Genrefilme“) unterschiedenen Filme Langs sind in Bildern und Themen verbunden.

Dinge wie Geld, Häuser, Treppen, Türen, Telefone, Maschinen, Schriftzeichen sind bei Lang nicht einfach oft im Bild, sie sind Handlungsträger. Seine Figuren sind flach, holzschnittartig, seine Geschichten erzählen, was, wenn man sie auf ihre Handlungen reduziert, alle Filme erzählen: Von Liebe, Angst, Haß, Verbrechen, Tod. Seinen Bildkompositionen kann man entnehmen, wie er seine Themen angeht. Etikettierungen wie Autorenfilm oder Genrefilm sind da nicht mehr als unbefriedigende Annäherungen.

Entwicklung des Films und Entwicklung der Reflexion des Films sind, bedingt durch die Zeit und die Folgen des Nationalsozialismus, an Deutschland vorübergegangen. Die Folge: Länger als in anderen Filmkulturen dominieren bürgerliche Vorstellungen von Kunst die Filmbetrachtung. Die Fixierung auf glaubwürdige Geschichten und authentische Figuren verstellt den Blick darauf, wie Regisseure an und mit den Bildern arbeiten.
„Wenn die Autobusse zu Ketten lichtspeiender Ungeheuer wurden/ die kleinen Autos zu huschenden Leuchtfischen einer wasserlosen Tiefsee/ hatte er je etwas anderes gekannt, als die grauenhafte Nüchternheit dieser Häuser, in denen nicht Menschen wohnten, sondern Nummern, kenntlich an riesigen Tafeln neben den Haustüren?/ eine Rakete schrieb in den samtenen Himmel.“(7)
Das ist, in den Worten Thea von Harbous, die mit Fritz Lang die Drehbücher zu seinen Filmen erarbeitete, was Film besonders gut kann. Keine realistischen Abbilder zeigen, sondern materialisierte Ideen. In Zusammenarbeit vieler Beteiligter gefertigte Blicke. Im Fall des von Thea von Harbou oben beschriebenen Films „Metropolis“ sind es Blicke auf etwas, daß es nicht gibt, daß sich allenfalls abzeichnet: die Zukunft. Der Geist der Zeit, Wunschträume, Faszination und Angst vor Technik sind den Bildern beigemischt. Frieda Grafe: „In ihren Bildern und Formen zeigen Langs Filme, die neue Welt, die im 20ten Jahrhundert dabei ist zu entstehen. Nicht Lang mit seinem Hang zum Ornamentalen (Kracauer) drängt die Massen in dekorative Muster, die Muster sind Formen, von denen unsere Gesellschaft geprägt ist. Die dann in Erscheinung treten, wenn man ohne beschönigenden Humanismus vor den Augen die Gesetze hinter der Vielfalt des Alltäglichen sucht.“(8)

An Langs legendärem Science Fiction Film „Metropolis“, fällt auf, wie sehr technologische Zukunftsvision und Märchenstoff ineinander fallen. Was im Urteil der Filmgeschichte als schwülstige, abgestandene Geschichte dasteht, zielt viel tiefer: Es gelingt Fritz Langs Bildern das märchenhafte der Wissenschaft wahrzunehmen und wahrnehmbar zu machen. Die Phantasmen, Erlösungshoffnungen, Todessehnsüchte, in denen positivistische technische Weltbilder und deutsche Mythologie dieselbe Beschaffenheit haben.

Deswegen schätzen die Nouvelle Vague Regisseure Fritz Lang und bauen sich bei der Betrachtung seiner Filme ihre Idee vom Kino: Weil er mit Filmen fürs Massenpublikum – „Die Nibelungen“, „Metropolis“, „Frau Im Mond“, das ist mit heutigen Produktionen wie „Krieg der Sterne“ oder „Matrix“ vergleichbares Spektakelkino – die spezifische Möglichkeit der bewegten Bilder nutzt, aufzuzeigen, was Worte schwer fassen können: „Die reale Macht von Formen, Strukturen, Phantasmen, wie sie unser gesellschaftliches Leben prägen. Sein Thema ist der artifizielle, auch mit den Mitteln des Kinos gemachte, historische Charakter der Realität selbst“(9)

Fritz Lang sieht, wie Godard, wie Frieda Grafe und andere, den Film auf großer Leinwand in ausdrücklicher Konkurrenz zur Presse, den Nachrichten, den Werken der Historiker und den Verlautbarungen der Wirtschafts-, Macht- und Bildungselite, anders gesagt, den Institutionen zur Herstellung von Wirklichkeit und Vergangenheit.

Nachrichten, TV-Dokumentationen, Zeitungsberichte vermitteln das Gefühl der Teilnahme, das Gefühl mit den großen Ereignissen der Welt unmittelbar verbunden und informiert zu sein. Sieht man Nachrichten, TV-Dokumentationen, Zeitungsberichte als Medien, die zu bestimmten Zwecken und mit bestimmten Regeln arbeiten, dann sind sie serielle Verfahren zur künstlichen Herstellung von Ereignissen zur Bewältigung in Wohnzimmern.

Macht man sich Fritz Langs Blick zu eigen, dann sind auch die Rationalisierungen historischer und wissenschaftlicher Werke nicht davor gefeit, Ausprägungen ideologischer Vorstellungen zu sein. Bloß halten sich ihre Autoren und Konsumenten für die kultiviertesten unter den Wohnzimmerbewohnern. Frieda Grafe: „Der große Verlierer dieser Formatierungen ist die Politik. Die heimische Verfügbarkeit bagatellisiert die Komplexität der Weltprobleme und bringt die zu ihrem Verständnis notwendige Aufmerksamkeit auf null. In Filmen auf Breitwand bekommt man davon eine Ahnung selbst noch bei den hirnrissigsten Staatsaktionen und die weniger gegängelten Augen haben unentwegt zu tun.“(10)

Sätze von Frieda Grafe, die keinen einfältigen Gut Böse Gegensatz konstruieren. Es geht nicht darum „die Massenmedien“ zu geißeln oder die „dumme kleine Mattscheibe“. Im Gegenteil, wie Fritz Lang Spektakelkino macht und Godard TV-Sendungen, so schreibt Frieda Grafe für Zeitungen. Zu Problemen mit den Medien kommt es, weil in ihnen so viele arbeiten, die dem Publikum nichts zutrauen, es verachten und von oben herab behandeln. Fritz Lang: „Das Elend mit dem, was man die Industrie nennt ist, daß es gar nicht darum geht ein, Publikum zu überzeugen. Ich liebe das Publikum, aber ehe ich es überzeugen kann habe ich die Zwischenträger zu überzeugen, die von nichts ein Ahnung haben.“(11)

Spektakelfilme sehen, wie Fritz Lang und andere sie anlegen für die große Leinwand, ist Realitätsgewinn. Die Kamera ist das „dritte Auge des Menschen“, das Auge für das, was unter den Tisch fällt. Sie kann Unsichtbares zu sehen geben: Was Menschen bewegt und in Bewegung setzt. Oder auch Verdrängtes: wie filmische Wahrnehmung und die, die wir unsere subjektive, eigene nennen sich gegenseitig durchdringen.
Und so ist Spektakelkino größer und bunter als das Leben, das heißt, realistischer, als genormte und formatierte Realitäts-, Menschen- und Geschichtsbilder es dem Publikum zumuten.(12)

Die Gegenwart ist das banalste und verkommenste Stadium der Geschichte. So sieht es jedenfalls oft aus, wenn Kinoliebhaber zurückblicken. Ist Trauer über die vergangene Größe des deutschen Films angebracht? Ist der Faden wirklich gerissen? Ist da niemand, in Deutschland, der derart hellsichtige Bilder für großes Publikum produziert wie einst Lang oder auch Faßbinder?

„Und Kluge setzt eine Linie fort, ein Bildverhältnis, das Rosselini realisierte, als er vom Film zum didaktischen Fernsehen wechselte. Filmregisseur als Beruf und nach Regeln Kunst zu machen ist für ihn ein bürgerliches Ideal. Wissenszuträger und Vermittler, auch Übersetzer, im Fernsehmedium zu sein, das ist für ihn die dringlichste Forderung nach der Erkenntnis, daß mit dem Fernsehen die Bewußtseinsindustrie in die Phase der Heimarbeit getreten ist. (..) Kluge greift auf ein archaisches Genre zurück. Er unterhält sich sokratisch vertraulich.“ Mit diesen Sätzen über die Fernehsendungen des Alexander Kluge, läßt Frieda Grafe ihren Beitrag zu einer Geschichte des deutschen Films enden.(13)

Kann man deutsches Privatfernsehen als Fortsetzung der deutschen Filmgeschichte sehen? Frieda Grafe tut es. Weil ihre Kinoliebe nicht auf Erfolg, Ruhm, schon Gesehenes fixiert ist, sondern einen Blick für Ausdrucksmöglichkeiten und Formen entwickelt hat. Man kann Alexander Kluge betrachten als Fritz Lang im TV. Seine Sendungen sehen als deutsches Genre, in dem Gespräche Action sind. Als Breitwandfernsehen durch das im Wohnzimmer, wie bei Fritz Lang im Kino, Wirklichkeit und Geschichte wahrnehmbar wird, die die an die Macht gebundenen öffentlich rechtlichen Bilder als Wirklichkeit und Geschichte nicht zulassen.

Man macht sich nicht beliebt mit solchen Wahrnehmungen und Sätzen. Sie besagen, daß kritisches Agieren im politischen Bildraum etwas ganz anderes ist, als diese oder jene politische Einstellung, dieses oder jenes nationale, nostalgische, moralische, pädagogische Bedürfnis auf der Leinwand wiederfinden zu wollen und die Bilder damit zu degradieren: zum Bebildern und Begaffen dessen, was man zu wissen glaubt. Und sie besagen, daß die hier dominante Kinoliebe auf allen möglichen Seiten steht, bloß auf einer nicht: Auf Seiten des Zuschauers, der Bilder als Möglichkeit sieht, die Lage zu erkennen.

???? „Zutritt, Zutritt Damen und Herren, ruft Liesel Karlstadt…“ zitiert Frieda Grafe aus einem Film von Max Ophüls. Und voilà, das ist er, „Die verkaufte Braut“, mein Lieblingstext von Frieda Grafe.

Klar habe ich überlegt, ist das angemessen, einen Lieblingstext herauszustellen, ein Oeuvre derart voll von verschiedenen Aspekten, unzulässig auf eine Perspektive, meine, zu verkürzen. Aber, warum nicht die Gelegenheit nutzen und öffentlich Reklame machen? Zum Beispiel für eine Filmkritik, die man betreten kann, wie ein Boulevardtheater am Ku‘damm oder am Broadway.

„Zutritt, Zutritt Damen und Herren, ruft Liesel Karlstadt…“ zitiert Frieda Grafe nicht nur aus Max Ophüls Film „Die verkaufte Braut“, sondern übernimmt dessen Stil. 1970 geschrieben, einen Musikfilm von 1932 würdigend, liefert ihr Text – zur Einstimmung – tatsächlich Noten aus dessen Partitur.

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Die bekannten Zeichen, mit denen versucht wird Musik auf Papier zu bannen, legen einem ja tatsächlich nahe, eine Filmkritik als Gesangstext anzusehen. Und so sieht der Leser sich von Beginn der Lektüre an verschiedensten Tönen ausgesetzt, einem Informations-, Assoziations-, Anspielungs- und Zitatquantum pro Filmkritik -Absatz, das die abgegriffene Formulierung von den zum Tanzen gebrachten Verhältnissen vielleicht erstmals verständlich macht.

Im Verlauf von „Die verkaufte Braut“ wird aus Rezensionen zitiert, die 1932 zum Film von Max Ophüls erschienen. Die haben einiges zu monieren. „Von der Oper ist nicht viel übrig geblieben (…) zuviel einander überlagernde und widersprechende Stimmen und Stile, statt der Sache selbst“ heißen die Verdikte. Was gemeint ist: Ophüls hat ein kanonisches Werk der Kultur behandelt wie gefundenes Material, es sich auf sehr eigene Weise angeeignet. So, daß es gängigen Vorstellungen von richtiger Oper und richtigem Film widerspricht. Frieda Grafe: „Bei Smétana (das ist der Komponist der Ophüls‘ Film zugrunde liegenden Oper „Die verkaufte Braut“; Anm. d. Verf.) findet schließlich doch das Geld zum Geld, der wahre Sohn, der Erstgeborene, bekommt die Frau, die ihm gebührt. Verlacht und verjagt werden der geldgierige Kuppler und die böse Stiefmutter. Ophüls macht daraus ein Tableau, daß jeder Vorstellung von rechtmäßigem Erbe, Folgerichtigkeit, Eigentum und Kontinuität hohnlacht. Ophüls hat die Geschichte durch und durch erotisiert, schön schlüpfrig gemacht und vieldeutig. Er vergewaltigt, schiebt zurecht, kürzt ab, läßt weg, stopft aus, dichtet aus, fälscht um und was sonst noch zum Wesen allen Interpretierens gehört.“(14)

Die Nachrufe auf Frieda Grafe betonen einvernehmlich, wie bedeutend einst die Zeitschrift war, für die sie schrieb, in der auch der Text zu Max Ophüls erschien: die „Filmkritik“. Bedeutend. Sofort hat man eine Heldengeschichte, ein Ehrfurcht einflößendes Kulturdenkmal vorm geistigen Auge. Wenn Grafe schreibt, als könnten Worte singen und tanzen, dann ist Filmkritik in etwa das, was ein Sidekick im Disney Zeichentrick ist. Eine dieser Nebenfiguren, die mit Schindluder und Schabernack dem tragenden Ernst der klassischen Vorlagen der Disneyfilme und den Hauptfiguren regelmäßig die Luft raus lassen.

Wie Max Ophüls Vergangenheit und kulturelles Archiv produktiv macht, in dem er sich gerade nicht an die institutionalisierten Rahmen, die sterilen Zwänge zur Bewahrung von Bedeutung, Größe, Kultur, von angemessener Reproduktion und Konsum hält, so erweitert Frieda Grafe den Spielraum der Filmkritik, in dem sie etwas von dem, was im Film der Vergangenheit sich ausdrückt, in eigenen Ausdruck verwandelt. Sie kürzt ab, läßt weg, stopft aus, dichtet aus, fälscht um, schiebt zurecht.

Das Vergnügen besteht darin, daß Frieda Grafe auf einer Buchseite verschiedenste Zeiten und Orte übereinander legt und ich als Leser mich nicht gradlinig, sondern kreuz und quer durch die Geschichte bewege. Ich bin beim Film, in dem ich in der Operngeschichte bin, bei Beurteilungsmaßstäben des deutschen und englischen Feuilletons der 30er und 50er und anschließend im Zirkus (die Veränderungen, die Fotografie und Kino in den Künsten bewirkt haben, werden von einer Zirkusreklame präsentiert, die klingt wie Schlagertext: „Fotogrrafiiiiierrren, das Spiegelbild auf Papier, das ist nicht gemalt, das ist keine Magie, das ist Wissenschaft“). Ich bin beim Film, in dem ich mich bei realistischen französischen Romanciers des 19ten Jahrhunderts aufhalte und immer mal wieder in die Medientheorie der 60er springe („Realismus ist ein literarisches Verfahren, kein Rezept zur Beschreibung von Realität. Deshalb gibt es kein Modell mit Anspruch auf Priorität, nur Bilder von Bildern“).

Schließlich gelange ich zu Karl Valentin. Der spielt in Ophüls Film von 1932, starb 1948, und ist 1970, in Frieda Grafes Text, sehr lebendig. „Einer, der immer stolpert, der den scheinbar sichersten Vorgang und einfachsten Ausdruck zum Verhau macht; auf alle Fragen fand er seine eigenen Antworten.“ Ein Scharlatan, der nicht weiß, wie Kino funktioniert. Der, weil er nicht dumm ist und ein guter Beobachter und ein Ausprobierer, sich frei macht von den stereotypen Abläufen, Redewendungen, Vereinbarungen des Kinobetriebs. Das ist Karl Valentin, das ist Max Ophüls, das ist Frieda Grafe und es ist eine Rolle, die der Filmkritik von 2003 gut anstünde.

Es ist wie stille Post: Nicht die Geschichte stellt die Verbindung her zwischen Vergangenheit, Oper, Film, Wissenschaft, Zirkus, Kritik und Gegenwart, sondern die musikalischen Noten. „Alles ist so gut wie richtig“, das ist in Ophüls Film der Gesang von Kezal dem Kuppler, den die Spießer und Besitzbürger nicht leiden können, weil er respektlos zusammenbringt, was nach ihrer Anschauung nicht zusammengehört.
Ich kenne einige hiesige Filmkritiker und Filmwissenschaftler, die Musicals würdigen oder „frivole“ Positionen zu Geschichte und Film einnehmen, aber niemanden, der wie Frieda Grafe aus der Ästhetik des beschriebenen Films eine Ästhetik des Schreibens zum Film entwickelt hätte. Sprache in Schnitten, Sprüngen und musikalischen Bewegungen, Sprache als Vernetzungstechnik. Filmkritik, die eingefahrene, unproduktive Hierarchien aufhebt. Zum Beispiel die zwischen Kunst (primär) und Kritik (sekundär). Was „Die verkaufte Braut“ heißt, kann eine Oper von Smetana, ein Film von Max Ophüls, eine Filmkritik von Frieda Grafe sein.

Eine Filmkritik, die in Frage stellt, was die Öffentlichkeit sich so unter Ende und Tod vorstellt. „Ein Ende gibt es da nur, wenn man willkürlich eins setzt“ heißt es in Frieda Grafes „Die verkaufte Braut.“ Was kann das heißen? Ich lese eine aktuelles Feuilleton der FAZ, in dem Dominik Graf ein Loblied auf Der Reigen und Lola Montez singt, zwei Arthur Schnitzler Verfilmungen von Max Ophüls. „Denn Ophüls konnte seine großartigen Erzählexperimente (…) endlich auch zu Publikumsgold verwandeln. Eine Zusammenarbeit im üblichen Sinn war es aber nicht: denn der Autor Schnitzler ist leider schon gestorben, als der Regisseur Ophüls ihn erstmals 1932 verfilmte.“

Was ist das immer mit all diesem Tod und Ende im Denken der Leute? Wieso sollte eine übliche Zusammenarbeit zu Ende sein, wenn jemand stirbt? Wie sollte man Frieda Grafes musikalische Spielerei denn anders nennen, als Zusammenarbeit mit lauter Toten (Regisseuren, Sängerinnen, Komikern)? Bei ihr ist Vergangenheit nicht vergangen. Sie schreibt nicht einfach über Max Ophüls, bewertet ihn nicht, läßt ihn nicht Denkmal groß erscheinen und nimmt ihn nicht zum Anlaß den Verlust von Größe in der Gegenwart zu beklagen. Sie läßt sich von Ophüls Kunst berühren, benutzt, beklaut, wiederholt diese. Und fordert dazu auf, dasselbe mit ihrem Text zu tun.

Ihre clownesken Montagen sind nicht nur witzig oder gekonnt, sie sind auch Umgang mit Schrecken und Verzweiflung. Sie schlagen den Nazis und anderen Todeshörigen ein Schnippchen. Die ins Exil verjagte oder vernichtete jüdisch deutsche Filmintelligenz der 10er und 20er – Ophüls, wie viele andere – kann so, zumindest im Medialen, in Texten und auf Filmbildern, die deutsche Gegenwart der Bilder, Töne, Denkweisen und Filmkritiken mit gestalten. Ein Ende gibt es da nur, wo man willkürlich eins setzt.

Ich muß nur ein Buch aufschlagen, dann ist auch Frieda Grafe alive and kicking. Jederzeit meine cinephilen Selbstgewißheiten kritisierend mit einem Filmdenken, wie man es schöner nirgendwo gewoben und formuliert finden kann: „Es gibt bei Ophüls keinen Hauptdarsteller, keinen Star und kein Thema, kein Sujet bekommt das Recht sich so aufzuführen. Die Hauptsachen sind die Nebensachen. Abschweifung ist alles, damit nur das Sujet sich auflöse und die Vorstellung von erschöpfender und runder Darstellung. Allem nachlaufen, vergnügungssüchtig.“

Keine Zeit, ein Raum Willkommen in der Vulgärmoderne! Vulgärmoderne, aus diesem Begriff – er ist übernommen aus der US amerikanischen Kunstdiskussion – versucht Frieda Grafe in der Einleitung zu ihrem posthum erschienenen Buch „Filmfarben“ ein Kriterium zum Verständnis des Kinos und einer vom Kino dominierten populären Kultur zu entwickeln.

Vulgär ist Kino, weil es eine Mischform ist. Zusammengesetzt aus allen Formen zwischen Shakespeare, Music-Hall, Avantgarde und Massenkunst, beseitigt das Kino die bis dahin gültigen Hierarchien zwischen high and low art, E und U. Und so entsprechen seine Eigenschaften partout nicht den Definitionen der Theoretiker der Moderne, mit denen diese dem Kino vorschreiben, wie es sein müßte, um als versierte moderne Kunst zu gelten.

Wann genau die Vulgärmoderne in Deutschland begann, ist nicht zu ermitteln. Ernsthafte Arbeit zu ihrem Verständnis begann nicht in Feuilletons, Unis oder Theatern, sondern bei einigen Schreibern der kleinen Zeitung Filmkritik. Nicht bei denen, die beurteilten, welchen Rang man den neuen Filmen aus Frankreich zubilligen sollte, sondern bei denen, die versuchten das Neue an ihnen zu beschreiben.

Plötzlich entwickelte sich eine neue Sprache. Durchsetzt von amerikanisch, englisch, französisch, italienischen Starnamen, Satzbrocken, Zitaten, Theorievokabeln. Frieda Grafes Sprache dokumentiert den Weg Nachkriegsdeutschlands. Die neue Verliebtheit eines Teiles seiner Bewohner in Entertainment, Film, Pop, neue Perspektiven und Theorien. Und das diese Verliebtheit eine ernst zunehmende Sache ist.

Bei dem Versuch, mir im öffentlichen Klima der Adenauerwelt einen Ort vorzustellen, der die Entstehung dieses neuen Deutsch begünstigt hätte (das in den Ohren derer, die Deutschsein als Auszeichnung empfanden, kein Deutsch war), komme ich nicht auf Orte wie Redaktionen, Universitäten, auch auf Kneipen nicht. Ich komme auf Kinos. Und ich komme auf Küchen. Letzteres will ich kurz erläutern. Ich möchte Frieda Grafes Arbeit nicht auf biographische Aspekte reduzieren, kann es auch gar nicht, weil ich nichts über ihr Privatleben weiß. Auf Küche komme ich, weil Frieda Grafe sich in einem Text zu Herbert Achternbuch, dessen herablassenden Äußerungen zu Hausfrauen widersprechend, als Hausfrau bezeichnet, die mit seinen Filmen und Texten etwas anzufangen weiß. Und ich komme darauf, weil ihre Schriften mehrfach durch die Küche kommen. Von der Godard-Begeisterung, der schreibenden Mitarbeit an der Veränderung von deutschem Kino und deutschem Publikum, geht es zu einem Buch über Gertrude Stein, deren Schreiben, durch einen gemeinsamen Haushalt, den sie mit der kochenden Alice B. Toklas einrichtet, sich verändert.(15)

Schließlich kommt es zu einem Buch über „Der Geist und Mrs. Muir“, einen Film von 1946, in dem eine Frau und Mutter in der reglementierten viktorianischen Welt des 19ten Jahrhunderts versucht mittels Schreiben gegen diese Beschränkungen anzuarbeiten, ohne Hoffnung diese zu überwinden.
Der Film ist ein Konfektionsprodukt aus Hollywoods Studios. Eine Romanverfilmung, die sich der Arbeit und dem Einfluß vieler verdankt. Der Autorin des dem Film zugrunde liegenden Romans, dem Drehbuchautor, dem Regisseur, dem Produzenten, den Studioregeln. Ein Film jedoch, der von weiblichem Schreiben handelt und dadurch auch seine Entstehungsbedingungen in Hollywood reflektiert. So ist „Der Geist & Mrs. Muir“ ein glücklicher Moment der Kinogeschichte. Das hat auch mit dem Titel gebenden Gespenst zu tun: „Captain Gregg ist kein üblicher Poltergeist, das sieht man, wenn er das erste Mal nicht in Mrs Muirs Träumen, sondern in ihrer Küche in Erscheinung tritt, beschworen von ihren ärgerlichen Beschimpfungen: ein feiger Geist – wer hat denn so was schon gehört.“(16)

Küche tut dem Geist gut. Er ist nicht heilig, erhaben, zum fürchten oder anders beeindruckend. Er wird, wie alles in der Küche, benutzt, um damit zu arbeiten. Er ist, das macht der Film deutlich, eine raffinierte Erfindung der Frau. Die schreibt in seinem Namen ein Buch über Seefahrt, weil in der Männerwelt Schreiben, das ernst genommen wird, anders nicht zu haben ist.

So revolutioniert Mrs. Muir nicht die Welt – wer hätte das je schreibend getan. Aber ihr Schreiben unter falschem Namen ist ein persönlicher Befreiungsakt. Eine Möglichkeit, sich nicht ökonomisch lähmen und zum Schweigen bringen zu lassen. Mrs. Muir sorgt dafür, daß es bessere Bücher gibt. Und wer weiß, welche Wirkungen Schriften erzielen, was Leser mit ihnen alles anzufangen wissen?(17)

Schreiben, Kunst gar, als Hausfrauenarbeit? Hausfrau, Küche, das sind Worte, die Wertigkeiten programmieren. Von Hitchcock ist die Bemerkung überliefert, Kinozuschauer ertrügen auf der Leinwand nicht Hausfrauen bei ihren alltäglichen Tätigkeiten. „Völker, die den Geist in dem hausfraulichen Sinne eines durch zentrale Belieferung stillbaren Wohn-, Siedlungs-, und Heimbetriebs lehren, sind degeneriert“ heißt es bei Gottfried Benn.

Vom Zuhause ist in Filmen wichtig: Das Wohnzimmer (Raum für Kultur, ernste Worte und Feiern), das Schlafzimmer (Raum für Lust, öfter noch, für Ehepflicht), Dachboden und Keller (Räume für Erinnerungen und Verdrängtes), Treppen (Raum für Begegnungen, Zufälle, Fluchten). Küchen werden in Filmen allenfalls hastig durchquert. Kein Ort für Helden, große Geister und Ideen.

So ist die Küche im Film beinahe unsichtbar. Ein fremder Ort. Das hat zu tun mit der herrschenden Auffassung von Arbeit. Küche ist ein Raum für bloßen, lästigen Lebenserhalt. Unkreative, unproduktive Arbeit für Bedienstete oder unbezahlte Frauen. Verachtet gegenüber dem, was diese Arbeit vergessen, verdrängen, überwinden hilft: Geistarbeit, Kunst, Krieg, Seefahrt.

Sind die herrschenden funktionalen Auffassungen von Küche nicht töricht? Ein Weitermachen altvorderer Auffassungen in neuem Design? Ist Küche nicht schon immer die denkbar schönste Kombination aus verschiedenen Traditionen, Kulturen, Zeiten? Rezepte werden nicht auswendig gelernt, sondern ausprobiert. Stets wird beim Kochen zugleich etwas übernommen, etwas verworfen, etwas Eigenes hinzugefügt. Etwas übernehmen heißt etwas erweitern und Eigenes kann überhaupt nur in Verquickung mit Anderem entstehen.

Fallen in Küchen nicht Sinnlichkeit und Denken zusammen? „Ich kann, wenn mich die Lust auf Safranreis ankommt, schwer unterscheiden, ob ich mir die Farben oder den Geschmack ausmale.“ Weil Frieda Grafe solche Küchenbeobachtungen ernst nimmt (und damit Farben als künstlerisches Ausdrucksmittel des Kinos), kommt ihr Buch Filmfarben, das bislang einzige deutsche Buch zu diesem Thema, eher aus der Küche, als aus den Räumen, in denen man sich Filmbücher sonst ausdenkt.

Gehört zur Küche nicht schon immer ein Gutteil heimische Fadheit und nationale Emphasen relativierendes Ausland? Wie traurig die hiesige Küche ohne Gewürze, Gerüche, Gerichte, Geschmäcker, Flüssigkeiten, Räusche aus der Fremde. In Klaus Theweleits „Orpheus und Eurydike“ ist das in den 40ern und 50ern permanent in Mutters Küche laufende Radio ein sanfter, berieselnder Gegenpol zum Brüllen klassischer deutscher Väter, zu Gesetzen des Deutschseins. Eigene Anfänge, Offenheiten, die Liebe zu Popmusik und Jazz begannen für Theweleit in der Küche. „Möglicherweise ist auch Mrs. Muirs Geist eine vom Radio inspirierte drahtlose Erfindung, die Stimme aus einer anderen Welt“(Grafe).

Küche = Raum für viele Töne, Geschmäcker, Farben, Rezepte. Schon immer Raum der Vulgärmoderne.

Klaus Theweleit: „Wo Männer in Jahrhunderten gedrillt wurden, den öffentlichen Raum, den Raum des Handelns, der Gesetze und der Sinnverkündung mit ihren Reden und Schriften zu füllen, waren Frauen auf Beobachtungs-, Zuhör-, und Wahrnehmungstätigkeit verlegt. In ihrer ungleich besser entwickelten Fähigkeit des Zuhörens und Anteil nehmenden Erinnerns liegt einer der Gründe für ihre Überlegenheit als Analytikerinnen“ (Orpheus & Eurydike).
Gemeint sind Pschoanalytikerinnen, diejenigen also, die im ersten für Frauen zugelassenen intellektuellen Beruf arbeiteten. Man kann genau so gut Autorinnen, Filmkritikerinnen, Künstlerinnen sagen.

„Die immer neue frische Bereitschaft zum Reagieren. Die Situation vorm Essen, so stellte sie sich vor, daß Künstler sich verhalten müßten vorm Neuen. Uninhibited response, feel readily.
Die Gleichheit aller Gegenstände vorm Künstler.
Die Alltäglichkeit.
Das Leben und das Schreiben total vermischt.
Die Einfachheit verbunden mit komplizierter Professionalität.“(18)
Frieda Grafe über Gertrude Stein. Wie neue Sensibilität, neues Schreiben und neue Kunst aus einem alten und zugleich ständig sich verändernden Raum kommen, der Küche.

Daß sie genau diese Situation vorm Essen sind; daß in ihnen Bereitschaft für Neues und komplizierte Professionalität sich immer wieder in die Quere kommen und gegenseitig durchdringen; daß in ihnen alle Arten von Sprachen, Diskursen, Perspektiven, Zeiten vermischt sind und erkennbar mitschreiben an mit Frieda Grafe gezeichneten Texten; daß sie keine Geschichte mit wenigen Helden und vielen Nebenfiguren, mit Anfang und Ende erzählen, sondern ein Geflecht von Beziehungen, Spuren und Wissen entwerfen; darin liegen die Gründe für das wunderliche Nichtaltern der Texte Frieda Grafe.

Welch Geschick, welch komplizierte Professionalität allein notwendig ist und was das kostet, viele Mitglieder einer (Film-)Familie, mit ihren Eigenheiten und Macken, an einen Tisch zu bekommen, das beobachtet Verena Mund anhand von „Ist das Leben nicht schön“, dem bekanntesten aller Weihnachtsfilme. Genauer, anhand von Mary Bailey, der Ehefrau der Hauptfigur George Bailey: „Marys Leistungen erscheinen denn auch eher unauffällig und reichlich kurz auf der Bildfläche (wie das so ist mit Mütterarbeit). Was das jedoch für eine Arbeit gewesen sein muß, all die Leute zusammenzutrommeln, wieviel Logistik, Anstrengung und Einfallsreichtum notwendig waren, bei den Wetterverhältnissen und der Kürze der Zeit – das könnte glatt den Stoff für einen Actionfilm hergeben.“(19)

Kann man sich ein endloses, keinesfalls zielloses, Tischgespräch vorstellen, eines, in dem keine Stimme der anderen den Platz wegnimmt? In dem sie alle in ihrer zweifelhaften Widersprüchlichkeit unverzichtbar und vernehmbar sind, die Stimmen der Erfolgreichen, der Randständigen und der Verlierer, der erinnerten und vergessenen Stars, Spinner, Regisseure, Filmfans, Möchtegerns, Produzenten, Wahnsinnigen, Wissenschaftler und Kaputtgegagenen. Kann man sich ein Gespräch vorstellen, in dem Thea von Harbou, Bud Boetticher, Alice B. Toklas, Siegmund Freud, Reklamowitz Klimbinski, Quentin Tarrantino, Walter Benjamin, Ida Lupino, Groucho und Karl Marx, Ulla Stöckl, Julia Kristeva…und und und… die zahlreichen Berührungspunkte ihrer Arbeiten diskutieren, und, in dem sie, Störgeräusche und Disharmonien inklusive, selbst die Zusammenhänge herstellen?

Ein Gespräch, das nie stattfand, denn die Genannten haben ja nicht zur gleichen Zeit gelebt? Eins, daß es nie geben wird, weil so etwas in unserer profilneurotischen Wirklichkeit einfach nie stattzufinden pflegt? Das aber doch laufend stattfindet. Im Kino. Und das aufgeschrieben vorliegt, weil die Filmkritikerin Frieda Grafe die Fähigkeit hatte, ihren offenen Augen und Ohren das Denken und Schreiben zu überlassen. Für Filmkritik und Filmwissenschaft steht entscheidendes noch aus: Von Hausfrauen und Müttern lernen.(20)

Vortrag, gehalten in der Murnau Gesellschaft, Bielefeld, am 10.12.02.

Großer Dank an Manfred Bauschulte, Michael Baute, Christiane Heuwinkel, Rembert Hüser, Verena Mund, Heide Volkening.

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ANMERKUNGEN
(1) „Meine Kritikerideale waren, möglicherweise, falsch gewählt, weil keine richtigen Professionellen – lange Zeit Godard in Frankreich und in Amerika Manny Farber“ (Frieda Grafe, Autorenfilm/Autorenkritik, in: Die Macht der Filmkritik). (zurück)

(2) Frieda Grafe: „Souvenirs“, in Spiegel Special „100 Jahre Kino“ (zurück)

(3) Frieda Grafe, „Was die Nouvelle Vague war“, in Die Republik, Nr. 72-75 (zurück)

(4) „Eine Nuß aufknacken ist wahrhaftig keine Kunst. Deshalb wird es auch niemand wagen ein Publikum zusammenzurufen und vor ihm, um es zu unterhalten, Nüsse knacken. Tut er es dennoch und gelingt seine Absicht, dann kann es sich eben doch nicht nur um bloßes Nüsseknacken handeln. Oder es handelt sich um Nüsseknacken, aber es stellt sich heraus, daß wir über diese Kunst hinweggesehen haben, weil wir sie glatt beherrschten und daß uns dieser neue Nußknacker erst ihr eigentliches Wesen zeigt, wobei es dann für die Wirkung sogar nützlich sein könnte, wenn er etwas weniger tüchtig im Nüsseknacken ist als die Mehrzahl von uns“ (Franz Kafka, „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“). (zurück)

(5) „Godards Film vom Krieg; Les Carabiniers“, in Frieda Grafe/Enno Patalas, „Im Off“ (zurück)

(6) ebd. (zurück)

(7) Thea von Harbou, in Fred Gehler/Ullrich Kasten, „Die Stimme von Metropolis“ (zurück)

(8) Frieda Grafe, „Fritz Lang“, Hanser Reihe Film, Band 7 (zurück)

(9) ebd. (zurück)

(10) Frieda Grafe, „Als die Breitwand sich auftat“ in Die Zeit, 12.03.1993 (zurück)

(11) Fritz Lang, in „Die Stimme von Metropolis“ (zurück)

(12) Eine schöne Idee, die auch aus dem Kino hervorgeht: Breitwandbücher und Breitwandtexte! Man sehe sich Frieda Grafes Arbeiten zu Herbert Achternbusch oder Fritz Lang an; in ihnen ist die alte Bilderfeindlichkeit der Bücher beseitigt. Die Bücher/Texte werden nicht einfach von Bildern illustriert, sondern die Bilder kommentieren den Text oder sich gegenseitig; oder sie schaffen etwas Drittes zwischen Text und Bild, das nicht dasteht und nicht abgebildet ist, sich aber für den Leser, der auch Zuschauer ist, ergibt in der Montage. So kann man zeigen, in Büchern, wie Filme arbeiten.

In Frieda Grafes Arbeit zu Herbert Achternbusch ist das Text-Bild Verhältnis fifty/fifty.
In „Meine zwei Jahre mit Gertrude Stein“ ist der Anteil von Frieda Grafes Kommentaren weitaus geringer gegenüber dem Kommentierten.
Auf der linken Seite des aufgeschlagenen Buches finden sich die oft recht spärlichen Kommentare Grafes. Auf der rechten Buchseite ungeheuer dichte, klein gedruckte, montierte Gertrude Stein Stellen, Aussagen, Briefe oder Alice B.Toklas‘ Aussagen und Kochrezepte. Zudem andere Kommentare und Kritiken zu Stein/Toklas, Märchentexte, filmtheoretische Texte, Bilder etc.

Das Lesen dieses Buches kommt der Alltagserfahrung gleich. Während man fasziniert liest, wandert man ja auch andauernd zum Bücherschrank, findet sich Gertrude Stein lesend bei Djuna Barnes, Virginia Woolf, in Bildbänden, alten Zeitungen oder der aktuellen BILD wieder. Nur ist das bei Frieda Grafe im Buch.

Manfred Bauschulte sagt verwegen, Frieda Grafe gehöre zu den AutorInnen, die das Buch neu erfunden haben. Weil das so ist, wollte ich das leider vom Markt verschwundene, von ihm ausgeliehene Gertrude Stein Buch „verlieren“, um es nicht mehr hergeben zu müssen.

Um all das, was hier begeistert behauptet wird, nachprüfen zu können, einige Lektüreempfehlungen:
Frieda Grafe, „Ein Buch ist kein Buch“; Nachwort in: Atonin Artaud, „Heliogabal“;
FG, „Meine zwei Jahre mit Gertrude Stein“, in Die Republik Nr. 18-26;
FG, „Fritz Lang“, Reihe Hanser; Band 7;
FG, „Er macht Film um Film um Film“, in Jörg Drews (Hrsg.) „Herbert Achternbusch“;
FG, „New Look, 13 filmische Momente“, in Jacobsen, Kaes, Prinzler, „Die Geschichte des Deutschen Films“;
FG, „Filmtips“, Kinokontexte 4;
FG, „Farbfilmfest“, in Frieda Grafe „Filmfarben“ (zurück)

(13) Frieda Grafe, „New Look, 13 filmische Momente“, in Jacobsen, Kaes, Prinzler, „Die Geschichte des Deutschen Films“ (zurück)

(14) Zitate in diesem Kapitel sind, wenn anders vermerkt aus Frieda Grafe, „Die verkaufte Braut“, in Grafe/Patalas, „Im Off“ (zurück)

(15) „Meine zwei Jahre mit Gertrude Stein“, in Die Republik Nr.18-26 (zurück)

(16) Frieda Grafe, „Die Geister, die man nicht los wird. Joseph L. Mankiewic: The Ghost and Mrs. Muir“, in „Filmfarben“ (zurück)

(17) Warum das Frieda Grafe Buch ausgerechnet zu einem Durchschnittsindustrieprodukt, einem Frauenfilm, der in niemandes Liste der besten Filme der letzten 100 Jahre Filmgeschichte auftaucht?

Vielleicht ist das Buch zu „Der Geist und Mrs. Muir“ Frieda Grafes Version von „Der Mann der Liberty Valance erschoss.“ Das ist John Fords Film über die Frage, wie man in die Geschichte eingeht. Er enthält jene berühmten Sätze, die immer wieder zitiert werden, wenn Amerikas oder Hollywoods Geschichtsverständnis veranschaulicht werden soll: „This is the West, Sir. When legends become fact, print the legend!“

„Zwischen Wahrheit und Legende sollte man sich immer für letzteres entscheiden“ übersetzt der Filmkritiker Michael Althen in seinem neuen Buch „Warte bis es dunkel ist“ den John Ford Film in eine Methode, eine Liebeserklärung ans Kino zu schreiben.
Und Kurt Scheel schreibt in „Ich & John Wayne“, seiner kleinen Genregeschichte des Kinos: „Der Italowestern ist parasitär und daher nicht von großem Interesse. Wenn ich Western sage, meine ich den klassischen amerikanischen…drei Regisseure haben das Genre geprägt: John Ford, Howard Hawks, Anthony Mann. Und die beiden Stars (James Stewart, John Wayne), die zum erstenmal gemeinsam auftreten in Der Mann der Liberty Valance erschoss.“

Deutsche Kritiker, wie gehabt, in der Position von Erziehern, die, wo es um Liebe zum Kino gehen soll, Unterricht erteilen: Was beim Schreiben zum Film angemessen und erlaubt ist und was nicht. Was richtiges Kino ist.

Folgt man diesen Lektionen, bleiben von der weiten Landschaft, die der Western ist, gerade mal drei Regisseure und zwei Stars (der Rest ist parasitär). Und daß Liebeserklärungen eine Textsorte sind, in der jedes Fünkchen Wahrheit deplaziert ist, sollte das nicht jeden warnen, der mit dieser Form von Verliebtheit in Berührung kommt?

Was ist eigentlich eine Legende? Das Umschreiben von Geschichte. Das Erinnern schönen oder monumentalisieren. „Der Mann der Liberty Valance erschoss“ zeigt beide Seiten. Wozu eine Legende, eine Erfolgsgeschichte nutzt und die Wahrheit, die sich dahinter verbirgt. Ein filmischer Zwiespalt, der nicht aufgelöst wird.
Ich blättere im Buch „Filmtips“. In ihm gesammelt: All die winzigen, für den Tagesgebrauch geschriebenen Empfehlungen, die Frieda Grafe im Laufe der Jahre für die Süddeutsche Zeitung geschrieben hat. Kurze Formen, die die ganze Welt des Kinos enthalten.

Ich begegne in den wenigen Zeilen zu „Der Mann der Liberty Valance erschoß“ einigen Dimensionen, die dem amerikanischen Kino verloren gehen, wenn es in Deutschland zur Legende wird: „In Fords Western aus den 60ern ist die auf amerikanischem Selbsvertrauen basierende erzählerische Unschuld hin. Die Legenden brechen auseinander, die Minoritäten drängen nach vorn. Fords Perspektive wird distanzierter und gerade das wirkt so ergreifend, der Abschied von einer Illusion. (…) Ford widmete seine Filme denen, die in den Annalen seines Landes No credit bekamen, deren Namen niemand erwähnte.“

Frieda Grafes Buch über „Der Geist und Mrs Muir“ läßt jedes übliche Erfolgskriterium links liegen und steuert direkt auf die Eigenschaften des Films zu: „Im Kino ist alles greifbar nahe, auf einer Ebene, und wie in den Rückblenden von Der Geist und Mrs Muir, die nicht in die Vergangenheit zeigen, sondern sie wirksam zeigen in der Gegenwart, als deren lebendigen Teil.“

Was von einer Vergangenheit in der Gegenwart noch wirkt, das ist eine ganz andere Frage, als die, ob einem Film Klassikerstatus zukommt oder nicht.

Was Frieda Grafe vorführt anhand des Films über eine Frau, die ihren Geist raffiniert nutzt, sind Bedingungen für käufliches Schreiben im viktorianischen 19ten Jahrhundert, in der Filmindustrie (Hollywoods) 1946 und heute. Schreiben, wie es von den Verhältnissen diktiert wird und Schreiben als Strategie mit den Verhältnissen umzugehen.

Was ist Mrs. Muir heute? Kein legendäres Genie, kein Großautor, eher eine Medienarbeiterin, vielleicht eine Filmkritikerin. Die unter Bedingungen arbeitet, die geradezu fordern nicht nur Legenden zu erzählen, sondern zuweilen die Grundlagen der eigenen Position zum Gegenstand der Kritik zu machen (und dem Leser transparent). Zum Beispiel, wie Bücher und Texte zum Film ihre Autoren finden, warum man eher Kritikerkarriere macht, wenn man schon wieder von einem kanonisierten Regisseur mit großem Namen schreibt, als über sonst jemanden, der interessant arbeitet.

Ford, Hawks, Mann, als die großen Drei, wer wären die heute? Almodovar, Fincher, Lynch? Was sind Liberty Valance und Mrs. Muir heute? Filme, die etwas riskieren. Legenden, die sich selbst kritisieren. Andere Modelle von Filmkritik.
Verabschiedung von Illusionen. Trouble in Paradise. (zurück)

(18) „Meine zwei Jahre mit Gertrude Stein“, in Die Republik Nr. 18-26 (zurück)

(19) Verena Mund, „Weihnachten bleibt der Fernseher aus“, in taz, 24.12.1998 (zurück)

(20) Komplimente an Frieda Grafe sind nur die halbe Wahrheit. Komplimente erwecken den Eindruck, als handele es sich um eine allseits respektierte Autorin und verschweigen die Schwierigkeiten, auf die Filmkritik stößt.
„Patrice Farameh übersetzt ihre Prominenz als ‘Präsenz in den Medien‘. Sie habe nichts dafür geleistet, es sei einfach passiert.“ Dies schreibt die Süddeutsche Zeitung über eine junge Frau, die eine Show moderiert, weil sie eine Ex Freundin Boris Beckers ist. Sie profitiert und der ausstrahlende Sender hofft zu profitieren von dessen großen Namen.

Die Süddeutsche legt nahe zu glauben, Reaktionen auf große Namen statt auf Inhalte und Fähigkeiten, wären typisch für die Welt des Fernsehens. Würde die SZ über Patrice Farameh berichten ohne den Becker Faktor? Die Sätze Patrice Farahmes über Medienpräsenz enthalten das Wertgesetz für Texte. Das definiert nicht einfach den Rang von Texten, das definiert ihren Inhalt.

„Filmartikel“, „Filmtips“. Das sind Namen von Büchern Frieda Grafes und Bezeichnungen für die Textsorten, die sie enthalten. Wie die Dinge liegen, geben die Namen vor, wie man diese Texte liest: Als Sekundärtexte, Texte zum schnellen Verbrauch. Von denen man genaue Wahrnehmung, der Ästhetik der Bilder angemessene, eigenständige Schreibweisen oder Neuerungen im Denken (zum Kino) nicht erwartet. Selbst wenn sie all das enthalten, Chancen gelesen und geachtet zu werden wie ein Werk aus der Uni oder ein Text an prominenter Zeitungsstelle, gehen in einer von Namen für Arbeitsweisen blind gemachten Welt gegen Null.

Als Service nicht doof genug (zuviel Filmsachverstand und leidenschaftlicher Theoriekonsum), für die deutsche Universität zu unseriös (zu dilettantisch, zu unorthodox), ist die Geschichte der Filmkritik, wie Frieda Grafe sie praktizierte, die Geschichte einer öffentlichen Einsamkeit.

Zum Beispiel Filmfarben. Viele Regisseure haben mit Farben gearbeitet, um die Ausdrucksmöglichkeiten des Films zu erweitern, um aus ihm etwas anderes zu machen, als ein bloßes Abbild von Realität. Bewußter Umgang mit Farbe hat Regisseuren von Serienprodukten Hollywoods gestalterische, künstlerische Freiräume ermöglicht. Mit Farbe haben sie ihre Filme facettenreicher, mehrdeutiger machen können. Douglas Sirks Farben zeigen, was er an seinem Publikum, den US Amerikanern, schätzt und was an ihnen er verachtet. Manchen Filminhalt verpaßt man zur Gänze, nimmt man die Farbdramaturgie nicht wahr.

Wir haben Bücher zum Autorenfilm, zu jedem halbwegs bekannten Hollywoodregisseur, zu jedem Genre und seinen Pionieren, zur Moderne und Postmoderne im Kino, bloß Farbe kommt in Filmanalysen und Theorien so gut wie nie vor. Warum nicht? Frieda Grafe: „Schließlich hat mich die Auseinandersetzung mit Farbe auch deshalb gereizt, weil sie oft mit Weiblichkeit in Zusammenhang gebracht wird. ’Farbe muß der Form untergeordnet werden, andernfalls wird die Malerei ins Verderben geführt, wie die Menschheit von Eva‘ sagt der Franzose Charles Blanc. Von der Polemik abgesehen, was festzuhalten ist: Farbe ist äußerlich, sekundär, nie essentiell.“

Charles Blanc, ein Name, wie eine leere, weiße Leinwand. Was die farbig macht und füllt, soll eine Bedrohung, soll äußerlich und nicht essentiell sein?
Macht diese Denkweise weiter? Sind die Gründe dafür, daß aus hiesigen Institutionen so verschwindend wenig gekommen ist zu Filmfarben oder zur Vulgärmoderne, (zu Formen also, die die reale Medienwelt entscheidend prägen) noch gar nicht öffentlich genug gemacht? Kann es sein, daß die dominierenden geistigen Disziplinen viele zum Verständnis von Wirklichkeit notwendige Wahrnehmungen abschätzig, als äußerlich, nicht essentiell, undiszipliniert, eben weiblich, aus dem sogenannten Denken entfernt haben?

Womit wir wieder bei DilettantInnen und Hausfrauen wären. Unerbeten vom deutschen Kulturkarrierebetrieb, in jahrelanger privater Forschung konnte das Frieda Grafe Buch zum Thema Filmfarben nur entstehen. Forschung, die angemessene Kriterien aus der konkreten Geschichte des Kinos und der vulgärmodernen Medienwelt heraus entwickelt, heißt das, ist hierzulande schlecht oder gar nicht bezahlt.

Ihr habt verlernt
Gedanken zu begreifen
und einen Wunsch
ganz einfach zu verstehen
ihr staunt mich an
und lebt nur in Vergleichen
und wollt euch selbst
in mir noch wiedersehen

(Hildegard Knef)

Die Wirklichkeiten aber sind langsam
und unbeschreiblich ausführlich
im Einbilden geht man über sie hinweg
und merkt nicht, daß sie fehlen,
schnell wie man ist

(nach Franz Jung)

He saw my complications
and he mirrored me back simplified

(Joni Mitchell)

Es fällt mir schwer, den vom Leser vielleicht heiß ersehnten Punkt dieses Textes zu erreichen, den man Ende nennt, weil ich Frieda Grafe liebend gern noch viel mehr zitieren würde und sie selbst zu Wort kommen ließe. Um ihre schwer bis gar nicht darstellbare Vorgehensweise nicht auf ein paar Absichten und Intentionen für Auseinandersetzungen unter Filmfetischisten zu verkürzen. Jedenfalls nicht, wenn diese von spezifischen Blödheiten dominiert sind, die Joseph L. Mankiewicz, den Regisseur von „Der Geist und Mrs. Muir“, schon 1946 gelangweilt haben: „Nein, die Rolle des Mannes, die derzeit en vogue ist, interessiert mich als Autor und Regisseur nicht besonders. Er muß sich unentwegt physisch mit seinen Gegnern anlegen – die phantasieloseste Form der Auseinandersetzung.“

“Ob das alles stimmt? Jedenfalls hat es mit mir zu tun. So empfinde ich meine Sprache im Verhältnis zu meinem Körper. Und es bewegt mich mehr als manche sichere Wahrheit.
Wie unwissenschaftlich das ist, hat man mich an der Universität gelehrt; aufnehmen, assimilieren, in sich ziehen, was man gerade gebrauchen kann. Diese geistige Gefräßigkeit.
Erkenntnisse müßten im Bereich der Allgemeinheit belassen werden. Oder aber sie gehörten, unter Verwischung aller Spuren persönlicher Erfahrung, die sie erweitert haben, zurückgeführt in den Bereich der Allgemeinheit. Man sagt den Frauen Unfähigkeit zur Abstraktion, zum Symbolisieren nach. Mir stellt sich das dar als Ungeduld sich auf Interpretationen einzulassen, wo man verändern möchte. Auch ein bestimmtes Vergnügen daran, durch Konfusion Unordnung zu stiften. (…)
Vorrangigkeiten zwischen den einzelnen Arbeitsetappen gibt es nicht, weil es kein visiertes Endprodukt gibt. Ihre Sachen verlaufen nach einer anderen, nicht auf Output bedachten Ökonomie. Ihre Arbeit geht weiter“ (Frieda Grafe, „Ein anderer Eindruck vom Begriff meines Körpers“, in FILMKRITIK 3/76).

So schreibt Frieda Grafe über die Künstlerin Friederike Petzold ohne es zu lassen, über sich selbst zu schreiben.
Diese andere Ökonomie, die keine Vorrangigkeit kennt zwischen einzelnen Arbeitsetappen/Ergebnissen, die zeichnet auch ihre Arbeit aus. Sie schreibt winzige Filmtips für die SZ mit dem gleichen Einsatz, mit dem sie lange Essays schreibt.

Alle ihre Texte machen einzeln Sinn. Spannender ist, und sie scheinen mir so angelegt, sie im Zusammenhang zu lesen, als eine Art Autobiographie eines Sehens, Lesens, Schreibens, körperlichen Empfindens. Wo das hinführt, wenn man die eigenen Emotionen bei einem bestimmten Kameraschwenk verstehen will.

Kann man ein solches Vorgehen noch Filmkritik nennen?
Filmkritik wird dadurch in die Nähe von Alltagserkundung gerückt. In die Nähe des Tagebuchs. Dafür mag die oben zitierte Passage zu Friederike Petzold ein schönes Beispiel sein.

Der Leser einer Filmkritik will erfahren, was es zu sehen gibt. Er will unumwunden wissen, wovon ein Film handelt und ob er sehenswert ist. Aber, kann sie so einfach ignoriert werden, die Frage, wie man sieht?

Im Kino selbst geschieht das übrigens dauernd; viele Filme zeigen offen, daß sie auch aus Erfahrungen und Emotionen geformt sind, die ihre RegisseurInnen beim Sehen im Kino gemacht haben.

Bei Literaten, Politikern, Theoretikern, sogar Theologen sind Tagebücher längst akzeptiert als eminent wichtiger Teil des Werks. Mehr noch: Lange Zeit wurde eingeräumt, daß das Bruchstückhafte von Tagebüchern und Skizzen der modernen Erfahrung am nächsten kommt. Aber wer will so etwas von Filmkritikern veröffentlichen und lesen?

Mit dem Ende der Zeitung Filmkritik gibt es keinen in der Öffentlichkeit verankerten Ort mehr für solch ein Vorgehen im Schreiben.
Vor diesem Hintergrund stelle ich mir Frieda Grafes zunehmenden Rückzug aus der offiziellen Öffentlichkeit vor. Aber, die Worte Rückzug und Öffentlichkeit bergen lauter Mißverständnisse.

Manche sehen einen solch einen Rückzug als notwendige Bedingung an, um wahrhaftiger, genauer zu schreiben, als die vorhandenen journalistischen Möglichkeiten es gestatten. Das Heroisieren von Außenseitern ist, als wolle man Leuten zur Armut gratulieren.

Und die offizielle Öffentlichkeit verwechselt sich selbst mit der Wirklichkeit. Wer hier nicht zu Hause ist, ist nicht von dieser Welt. Das ist die Formel, die jede Sensibilität beiseite schieben hilft. Und jede Vorstellung von den Verhältnissen. Zu denen es gehört, daß oft erst auf der erzwungenen Flucht vor ihnen, zu anderen als ihren Bedingungen, durch das Pfeifen auf ihre Anerkennung gute Arbeit, Schönheit und eine den Verhältnissen angemessenene Genauigkeit der Wahrnehmung entstehen kann.

Mein Leseeindruck: Daß Öffentlichkeit, also redigierende Redakteure, verlangter Nutzen für den Filmmarkt und materielle Zwänge nicht mitschrieben an Texten Frieda Grafes, macht diese so kino- und welthaltig.

Liest man einige aktuelle Filmkritiken und einige von Frieda Grafe merkt man: She really made a difference. Sie berührt, weil da jemand selber denkt, forscht, guckt, probiert und nicht durch feststehende, gefällige Begriffe mich als Leser um das eigene, seltsame, irritierende der Bilder bringt.

Tagebuch? Kunst? Literatur? Haben wir nicht genug wohlige Nischen, in die man das abschieben könnte?

Von einer ausgemachten, „schwierigen“ Individualistin wie Frieda Grafe, ich weiß nicht von wem sonst, kann Filmkritik andere als ihre allzu eingespielten, allzu vorhersehbaren Techniken lernen. Wozu? Um den Umgang mit den Bildern anders zu regeln wie Verdauung: schnelle Identifizierung des Nutzens, schnelle Einverleibung und was bei herauskommt taugt für den Abfall.

P. S.
Natürlich. Habe im Buchladen doch etwas zu Farben im Film gefunden. Vorlesungen von Friedrich Kittler, unter dem Titel „Optische Medien“ im Merve Verlag erschienen.
Darin Sätze wie diese: „Dem Ende des Stummfilms als Folge des ersten Weltkriegs folgte die Entwicklung des Farbfilms als Vorbereitung des Zweiten. Die Röte des Rots von Technicolor, wie ein schöner Buchtitel der sechziger Jahre lautete, war auch die Röte über London, Dresden und Hiroshima.“

Kittlers nicht mehr neue, doch nicht allzu verbreitete Entdeckung: Die künstlerischen, unterhaltenden, spielerischen Aspekte der Medien, die wir alle so genießen, sind ziemlich unwichtig gegenüber den technischen Erfindungen in den Labors der Ingenieure. Für ihn ist der Krieg der Vater aller medialen Entwicklungen, die wiederum unser Denken und Sehen formen. Demnach waren/sind Stummfilm, Tonfilm, Farbfilm, Fernsehen nie Ziele von Entwicklungen, sondern allenfalls Effekte militärtechnologischer Innovationen. Und genau die macht Kittler wahrnehmbar.

Was die Zukunft bringt, ist für Kittler exakt ausrechenbar. Die nächste Zukunft tritt ein, wenn Computer und Fernsehen bald zusammengeschlossen sind. Nüchtern und ohne Bedauern kündigt Kittlers Jenseitsblick das Ende des altmodischen Mediums Kino an und die kommende Arbeitslosigkeit der ans große Kino gebundenen Filmkritik. Letzteres ist ihm, wenn ich es richtig deute, sehr angenehm.

„Spannend wie ein Krimi. Braucht jeder“, schwärmt Axel Werner in der taz von Kittlers Buch. Selbst wenn sich nicht jedes in „Optische Medien“ präsentierte Detail überprüfen läßt, kann man sich diesem Urteil anschließen. Wegen der in der Filmkritik (soweit ich sie einsehe) und bei mir selbst ausgeprägten Ignoranz gegenüber dem technischen Charakter des Mediums mit dem man ja angeblich kritisch umgeht, scheint mir „Optische Medien“ unverzichtbar. Die Blindheit für Technologie und die Fixiertheit auf gefällige Geschichten macht – für jemanden wie Kittler – die gängige Filmkritik zur reinen Phantasterei und Schwafelei. Weswegen man seine Spitzen dagegen akzeptieren muß.

Kittler lesend, sehe ich nicht nur meinen generalisierenden, also per se beschränkten Ausfällen gegen den Akademiebetrieb die Luft ausgehen, ich kann jetzt schon lernen, cinephile Filmkritik wie die Frieda Grafes, als Antiquität zu betrachten.

Aber wird man nur durch Kittlers Medienmaterialismus klug?
Wie unendlich wissend, glücklich oder bescheuert müssen diejenigen sein, die auf Filmbildung, wie Frieda Grafe sie liefert, meinen verzichten zu können.
Filmbildung erarbeitet in der Auseinandersetzung mit den so trivialen wie elektrisierenden Produkten des Starsystems.

Wie die zu Personality verhelfen! Wie sie halfen das Leben im blutigen, grauenhaften 20. Jahrundert erträglich zu machen. Dazu ein letztes Frieda Grafe Zitat: „Man muß das Badekostüm als ein Argument sehen in der Reihe der Ereignisse, die Lucys Befreiungsversuche skandieren. Sie stellt geschlechterspezifische Innerlichkeit und biologisch fundierte Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Frage. Sie spielt mit der unschuldigsten Miene mit Einbildungen, und nicht nur im stillen Kämmerlein. Sie vergnügt sich mit der Schrift. Sie spielt, unterstützt von einer fragwürdigen Vaterfigur, mit dem Gesetz. (…)
Wenn L‘ Aventure de Madame Muir heute im französischen Fernsehen läuft, treibt es statt gefühlsbetonten Frauen sogar eminenten Filmtheoretikern und –historikern die Tränen in die Augen. Es ist ein Phänomen, in dem das Bild dessen, was das Kino einmal war zusammengeht mit dem Glamour einer Frau. Und beiden verspricht der Schluß des Films ewige Jugend und Schönheit (Für die Indiskretion private Geständnisse zu publizieren, bitte ich um Vergebung).“

Kein Adieu.

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