Oktober 2003

Freitag, 31.10.2003

Bauchdecke, revisited

Als jemand, der selten genug in Science-Fiction-Filme geht und das Genre immer aus einigen Lichtjahren Distanz, dann aber gerne beobachtete, kam mir der Alien-Director’s Cut ganz gelegen. Irgendwann in den Achtzigern hatte ich den Film auf Video gesehen, zusammen mit Freunden, deren Alter ebenfalls deutlich unterhalb der FSK-Grenze lag. Gemeinsam warteten wir Chips kauend auf den Moment, an dem John Hurts Bauchdecke von innen gesprengt wird, davon hatten wir alle schon gehört oder gelesen, das war die Sorte Geschichten, die in der großen Pause erzählt wird. Auch jetzt, passenderweise erneut voll drin in den Achtzigern, war eine ähnliche Anspannung wieder da, als Hurt, aufgewacht aus der Betäubung, scheinbar befreit vom krebsähnlichen Monstrum, das ihm straight into the face gesprungen war und doppelt hungrig, beginnt, sich die unappetitlichen Space-Spaghetti hereinzuschaufeln, gierig, weil es nicht mehr nur er selbst ist, der da ernährt werden will. Aber der explosionsartige Moment, dieser Geburtsaugenblick, in dem der Mann als kurzfristige Leihmutter das Alien in veränderter Form zur Welt bringt und ziemlich wirr, blutig und diffus, aber vielleicht deshalb doch überraschend Geburt und Phallus, Tod und Leben, Schmerz und Befreiung zusammenschießen, ohne genau verrechenbar zu sein, entlädt sich dann in ein Lachen über den kalkulierten Slapstick-Effekt, wenn der komische, bissfreudige Dildo hysterisch über den runden Tisch schießt und irgendwo in den Winkeln des Raumschiffs verschwindet.Das Raumschiff heißt hier bekanntlich „Mother“ und nicht HAL 9000, und mit Ripley und Lambert sind zwei Frauen an Bord, eine davon überlebt als einzige. Daran kann man den Abstand zwischen 1968 und 1979 ebenso messen wie an den Zuschreibungen von Klassenzugehörigkeit: Parker (schwarz) und Brett (weiss) schuften unter Tage, schweißen die Elektronik, die Captain Dallas bei seiner erstaunlich amateurhaften Landung auf dem fremden Planeten ruiniert hat, und feilschen um Prämien. Revolutionär ist das nicht, eher sozialdemokratisch, wenn am runden Tisch (Grosser Krisenstab) bei der Lagebesprechung zusammen gegessen und gescherzt wird. Wie auch immer man die Genderpolitik des Films deutet – ob hier die Frauen nichts anderes sind als die besseren Männer oder ob in Ripleys Entschluss, das Mutterschiff wohl oder übel zu sprengen nur die weibliche Version des Vatermords der Urhorde am Anfang von 2001 zu sehen ist: Vom intergalaktischen Service-Personal in Kubricks Film hin zur resoluten Kommandofrau hat sich offenbar etwas verschoben in Richtung Sichtbarkeit. Sigourney Weaver und die Urhorde: Gorillas im Nebel, das inoffizielle Alien Sequel.

Freitag, 24.10.2003

… und der Penny wird genommen und das Bett wird gemacht,
es wird keiner mehr drin wohnen in dieser Nacht.

Gerade aus DOGVILLE gekommen. Großartiger Wurf – das muss ihm der Neid schon lassen – aus einer Songzeile solch einen Aufriss zu machen – und durchzuhalten. „Und dann werden sie mich sagen hören: Alle!“ – ist ihm ausnehmend gut gelungen. Mit dem anschließenden „Hoppla!“ hapert es allerdings noch ein wenig.

… und man sagt: Was lächelt die dabei?

Das schönste HOPPLA finde ich nach wie vor das von Hildegard Knef auf der Aufnahme aus den Sechzigern – eine Mischung aus Lakonismus, Überraschung und Verschmitztheit. Juliette Gréco macht es zu engagiert, als wäre sie selbst das Fallbeil. Georgette Dee, denkt man zunächst, findet einen neuen Zugang, bleibt aber in Manierismen stecken. Sie alle üben die gerechte Rache. Und da Gerechtigkeit schon gar keine Rolle mehr spielt, ist sie weit schöner und reiner, eine Kinderallmachtsphantasie – ihr werdet büßen, was ihr mir angetan habt. Brecht zumindest hat das Lied einem verzogenen Gör in den Mund gelegt – und belässt es bei einem solitären Lied. Einzig die Zuarbeiter von Mackie Messer loben es als wahre Kunst.

… und sie wissen immer noch nicht, wer ich bin.

Kleine stämmige Jungs, richtige Biester also, die von ihrer Lehrerin geschlagen werden möchten, sind irgendwie auch nur Regisseure.

Sonntag, 19.10.2003

Film-Hinweis

Über die Biegsamkeit des Kopfes und der Gedanken und Wege aus dem Schwerkrafts- und Horizontalitätsgefängnis namens Bildkader. Über das Sehen von Architektur und Raum. Zerteilung und Rekonstruktion von Bewegung durch Montage. Wie hört sich Architektur an? „Ich kann keine Aufgabe formulieren, sondern nur das anbieten, was ich am besten kann: den Raum auf der Fläche repräsentieren. Ich sehe mich als eine qua Vertrag mit der Menschheit ausgehaltene Kameraperson, die ihre Blickresultate zur Verfügung stellt.“ (Emigholz)

62 Gebäude und eine Ruine des amerikanischen Architekten Bruce Goff (1904-1982), fotografiert von Heinz Emigholz. Noch drei Wochen lang im Kino International, Berlin, immer Sonntags um 14.00 Uhr (26. Oktober, 1. und 9. November), dann in weiteren deutschen Städten. Viele Infos auf der Website. Das „Making Of“ zum Film zeigt Emigholz am 29. Oktober im Buchladen „pro qm“, Alte Schönhauser 48.

Samstag, 18.10.2003

„[…] Bei den Abspannfotos (überwiegend Welfare-Doku eben) dachte ich eigenartigerweise an Wiglaf Drostes Worte über die angeblichen Jubelpalästinenser, arme Schweine seien eben oft auch Schweine. Vielleicht weiß von Trier das selbst nicht, aber so nihilistischer Universalismus, denke ich jetzt, liegt viel eher in der Perspektive des Werks als irgendwas Geographisches. Eine Aufwertung Kerneuropas u.ä. Schmutz ist dem Film nur bezüglich der Produktionsmittel eingewoben (Arte, Canal+, WDR, die Üblichen). […]“

boltzmann, Dogville. Anmerkungen.

Dienstag, 07.10.2003

Fernseh-Hinweis

Mi 8. Oktober – 3Sat – 22:25
LAST MINUTE JAMAIKA
D 2003
Mit Annika Herr und Claudia Grimm
Buch und Regie: Klaus Lemke

Sonntag, 05.10.2003

Kategorie des Zusammenhangs – Filme im Spätsommer

Das Rauschen der Toilettenspülung eröffnet den Film. Die unverdauten Reste drängen sich so in den Vordergrund, während der Blick freigegeben wird ins Abseits, auf eine Art Nicht-Raum, von dem aus sich die Wohnung erschließt – eine Tür und Lichteinbrüche von der Seite deuten darauf hin. Eines Morgens, der Prozess des Aufstehens. Halten sich die Personen in der Küche an der Spüle auf, erfährt die Filmhandlung wesentliche Wendungen. Dieser Ort befindet sich in extremer Unterbelichtung. Das kinderlose Paar, unverheiratet, unabhängig mittels einträglicher Lohnarbeit, erlebt eine Krise, ausgelöst durch die Ankunft des etwa siebenjährigen Sohnes des Mannes aus erster Ehe. Dessen Mutter kann sich vorübergehend nicht um ihn kümmern. Musik gibt es, sehr selten zwar und aufs Äußerste hermetisch – eine einzelne Geige wird bis auf den Nerv gequält. In diesen Augenblicken meint man zu ahnen, was Krümmung des Raumes bedeuten kann. Als Geste der Revolte schließt sich der Sohn auf dem Klo seiner Zieheltern ein. Wiederlesen, was Kaja Silverman in Bezug auf die Einleitungssequenz von WEEKEND zum Zusammenhang von Ausscheidung und Geld geschrieben hat, fällt mir ein (Silverman/Farocki: VON GODARD SPRECHEN, Berlin 1998). Musch-muschi (o.ä.) wird in Japan offenbar zur Eröffnung des Telefongesprächs gesagt und muss soviel wie HALLO!? bedeuten. Soviel Japanisch lernt man in diesem Film. Zahlreiche Ferngespräche legen die Einübung einer Formel nahe. Nach der Abreise des Sohnes und durchlittener Krise offenen Ausgangs öffnet sie die Jalousien und Rollos der Fensterfront, um den Morgen hereinzulassen. Diesmal steht sie im Gegenlicht. m/other, Suwa Nobuhiro, Japan 1999

Zunächst fällt die Schäbigkeit auf, das betont ästhetisch Unzusammenhängende, der schlampig behandelte Ton, so dass im Prozess der Herstellung von DIE VERDAMMTEN nicht Viscontis Absicht gelegen haben mag. Ein italienischer Regisseur macht einen Film über eine deutsche Industriellenfamilie am Beginn des verfassten Faschismus, in dem der Patriarch zunächst mehr an einen Mafia-Boss erinnert, als an deutsche Stocksteifheit. Schauspieler aus aller Herren Länder sprechen mit ihren landesspezifischen Akzenten ungeniert Englisch und behaupten den Alltag großbürgerlicher Dekadenz. Helmut Berger spricht österreichisch Englisch, Helmut Griem deutsch und Ingrid Thulin noch hölzerner. Originalton und nachsynchronisierte Sprachaufnahmen wechseln innerhalb laufender Dialoge merklich hörbar ab. Aber es scheinen nicht die Farbtropfen auf den Bildern der fünfziger und sechziger Jahre zu sein, die die Authentizität der Herstellung nachweisen sollten und die man Warhol erst ausreden musste, bevor er seinen Stil fand. Es war einfach der Mühe nicht wert, möchte man meinen. Alle Grandezza in der Aussage. Ohne es belegen zu können, scheint mir, hat dieser Film eine Welle losgetreten von Nachfolgern, die Faschismus, exotischen Sex und Formen der Dekadenz über die siebziger Jahre in eins bringen wollten. Ruppigkeit der Form als gesetzter Anti-Naturalismus, also doch wieder Tropfen. Fassbinder wird seinen Visconti gesehen haben. Schmierig-verdichtende Zooms, die in einer psychologisierenden Bewegung aus einer Raumtotalen auf dem Gesicht eines Darstellers landen, der dann Ausdruck ausdrückt. Puppenspiele. Und doch sind es gerade diese Posen, eingekratzt, worin der Film seine Nachhaltigkeit entwickelt. Es darf nicht mehr berühren, weil zu schick gedacht und zu kurz, aber es tut es. Film als Oper, die des Singens als brechendem Artefakt des Alltags gar nicht mehr bedarf.

Wovon UMILIATI erzählt, kann ich gar nicht sagen, denn die Darsteller sprechen Italienisch (siehe dazu die Besprechung des Films von Jacques Rancière). Italienisch klingt mir wohl im Ohr, verstehen tue ich es nicht. Weil die Lektüre der Untertitel keinen Blick mehr erlaubte, gab ich das Lesen alsbald auf. Zu Beginn wird aus Papieren rezitiert, über und über mit Anmerkungen versehen. Die Einstellungen gestatten, diese Notizen zu sehen. Was für eine fade Konzeptidee, dachte ich zunächst. Später dann lösen sich die Darsteller davon ab, sprechen frei, in einem Duktus, wie man ihn in Straub/Huillet-Filmen erwarten würde. Kategorie der Radikalität. Manfred Blank erzählte die Anekdote aus KLASSENVERHÄLTNISSE: – auf einem Balkon stehend, hatte er einen ellenlangen Monolog zu sprechen. Die Einstellung hätte Tafeln außerhalb des Bildes ohne Weiteres erlaubt, aber Straub/Huillet bestanden auf der auswendig gelernten Wiedergabe des Textes. – Nach den anfänglichen Titeln wird die Einleitungsmusik minutenlang über Weißfilm zu Ende geführt. Soviel Musik war nie (Musik: Edgar Varèse). Nun könnte man ein solches Vorgehen als pubertär rebellische Aktion abtun, als ein gegen-konventionelles Handeln, also doch wieder an die Konvention gebunden. Der nachfolgende Film macht allerdings deutlich, dass mehr Tiefe zu Grunde liegt. Sollte ich berichten, wovon er handelt, dann würde ich angeben, von Pathos und Schönheit, und zwar in einer Weise, die einen diese Worte unverschämt im Munde führen lässt. Und wenn es nicht wie das Lallen eines Bekehrten klingen würde, könnte man zu dem Wort Befreiung ausholen. Davon handelt der Film allerdings nicht. Er scheint mir ein Stück befreite Sinnlichkeit zu sein.

Donnerstag, 02.10.2003

„… der eine wunderbare Moment, wo Rose, jetzt bin ich dran, aus ihren Schuhen schlüpft, auf Strümpfen im Kreis der Männer steht, Tommy, der gerade das Armdrücken verloren hat, die Zigarette aus dem Mund nimmt, sie zwischen Daumen und Zeigefinger hält wie ein Kerl, die Glut nach innen, und nach einem tiefen Zug, so you think you’re a big tough man, eh? let’s see you do this, sich aufrichtet und ihr Gewicht, bis sie zu schweben scheint, und höher über den Planken des Schiffs, als es die Möglichkeit ist, langsam auf die Zehenspitzen stellt, die es einen kurzen und doch so langen Augenblick lang triumphierend halten, ehe Rose Jack, der ihren Rockzipfel gehalten hat, lachend in die Arme fällt.“

Uwe Nettelbeck, Titanic Revisited

Mittwoch, 01.10.2003

„Für die, die denken, dass sie meine Ideen für ihre Zwecke benutzen können, es gibt einen Copyright-Vermerk für alle Moana-Seiten. Und außerdem gibt es niemand in Deutschland, der so schnell dreht, wie ich.“

Rudolf Thome, Bedienungsanleitung


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