2003

Samstag, 18.10.2003

„[…] Bei den Abspannfotos (überwiegend Welfare-Doku eben) dachte ich eigenartigerweise an Wiglaf Drostes Worte über die angeblichen Jubelpalästinenser, arme Schweine seien eben oft auch Schweine. Vielleicht weiß von Trier das selbst nicht, aber so nihilistischer Universalismus, denke ich jetzt, liegt viel eher in der Perspektive des Werks als irgendwas Geographisches. Eine Aufwertung Kerneuropas u.ä. Schmutz ist dem Film nur bezüglich der Produktionsmittel eingewoben (Arte, Canal+, WDR, die Üblichen). […]“

boltzmann, Dogville. Anmerkungen.

Dienstag, 07.10.2003

Fernseh-Hinweis

Mi 8. Oktober – 3Sat – 22:25
LAST MINUTE JAMAIKA
D 2003
Mit Annika Herr und Claudia Grimm
Buch und Regie: Klaus Lemke

Sonntag, 05.10.2003

Kategorie des Zusammenhangs – Filme im Spätsommer

Das Rauschen der Toilettenspülung eröffnet den Film. Die unverdauten Reste drängen sich so in den Vordergrund, während der Blick freigegeben wird ins Abseits, auf eine Art Nicht-Raum, von dem aus sich die Wohnung erschließt – eine Tür und Lichteinbrüche von der Seite deuten darauf hin. Eines Morgens, der Prozess des Aufstehens. Halten sich die Personen in der Küche an der Spüle auf, erfährt die Filmhandlung wesentliche Wendungen. Dieser Ort befindet sich in extremer Unterbelichtung. Das kinderlose Paar, unverheiratet, unabhängig mittels einträglicher Lohnarbeit, erlebt eine Krise, ausgelöst durch die Ankunft des etwa siebenjährigen Sohnes des Mannes aus erster Ehe. Dessen Mutter kann sich vorübergehend nicht um ihn kümmern. Musik gibt es, sehr selten zwar und aufs Äußerste hermetisch – eine einzelne Geige wird bis auf den Nerv gequält. In diesen Augenblicken meint man zu ahnen, was Krümmung des Raumes bedeuten kann. Als Geste der Revolte schließt sich der Sohn auf dem Klo seiner Zieheltern ein. Wiederlesen, was Kaja Silverman in Bezug auf die Einleitungssequenz von WEEKEND zum Zusammenhang von Ausscheidung und Geld geschrieben hat, fällt mir ein (Silverman/Farocki: VON GODARD SPRECHEN, Berlin 1998). Musch-muschi (o.ä.) wird in Japan offenbar zur Eröffnung des Telefongesprächs gesagt und muss soviel wie HALLO!? bedeuten. Soviel Japanisch lernt man in diesem Film. Zahlreiche Ferngespräche legen die Einübung einer Formel nahe. Nach der Abreise des Sohnes und durchlittener Krise offenen Ausgangs öffnet sie die Jalousien und Rollos der Fensterfront, um den Morgen hereinzulassen. Diesmal steht sie im Gegenlicht. m/other, Suwa Nobuhiro, Japan 1999

Zunächst fällt die Schäbigkeit auf, das betont ästhetisch Unzusammenhängende, der schlampig behandelte Ton, so dass im Prozess der Herstellung von DIE VERDAMMTEN nicht Viscontis Absicht gelegen haben mag. Ein italienischer Regisseur macht einen Film über eine deutsche Industriellenfamilie am Beginn des verfassten Faschismus, in dem der Patriarch zunächst mehr an einen Mafia-Boss erinnert, als an deutsche Stocksteifheit. Schauspieler aus aller Herren Länder sprechen mit ihren landesspezifischen Akzenten ungeniert Englisch und behaupten den Alltag großbürgerlicher Dekadenz. Helmut Berger spricht österreichisch Englisch, Helmut Griem deutsch und Ingrid Thulin noch hölzerner. Originalton und nachsynchronisierte Sprachaufnahmen wechseln innerhalb laufender Dialoge merklich hörbar ab. Aber es scheinen nicht die Farbtropfen auf den Bildern der fünfziger und sechziger Jahre zu sein, die die Authentizität der Herstellung nachweisen sollten und die man Warhol erst ausreden musste, bevor er seinen Stil fand. Es war einfach der Mühe nicht wert, möchte man meinen. Alle Grandezza in der Aussage. Ohne es belegen zu können, scheint mir, hat dieser Film eine Welle losgetreten von Nachfolgern, die Faschismus, exotischen Sex und Formen der Dekadenz über die siebziger Jahre in eins bringen wollten. Ruppigkeit der Form als gesetzter Anti-Naturalismus, also doch wieder Tropfen. Fassbinder wird seinen Visconti gesehen haben. Schmierig-verdichtende Zooms, die in einer psychologisierenden Bewegung aus einer Raumtotalen auf dem Gesicht eines Darstellers landen, der dann Ausdruck ausdrückt. Puppenspiele. Und doch sind es gerade diese Posen, eingekratzt, worin der Film seine Nachhaltigkeit entwickelt. Es darf nicht mehr berühren, weil zu schick gedacht und zu kurz, aber es tut es. Film als Oper, die des Singens als brechendem Artefakt des Alltags gar nicht mehr bedarf.

Wovon UMILIATI erzählt, kann ich gar nicht sagen, denn die Darsteller sprechen Italienisch (siehe dazu die Besprechung des Films von Jacques Rancière). Italienisch klingt mir wohl im Ohr, verstehen tue ich es nicht. Weil die Lektüre der Untertitel keinen Blick mehr erlaubte, gab ich das Lesen alsbald auf. Zu Beginn wird aus Papieren rezitiert, über und über mit Anmerkungen versehen. Die Einstellungen gestatten, diese Notizen zu sehen. Was für eine fade Konzeptidee, dachte ich zunächst. Später dann lösen sich die Darsteller davon ab, sprechen frei, in einem Duktus, wie man ihn in Straub/Huillet-Filmen erwarten würde. Kategorie der Radikalität. Manfred Blank erzählte die Anekdote aus KLASSENVERHÄLTNISSE: – auf einem Balkon stehend, hatte er einen ellenlangen Monolog zu sprechen. Die Einstellung hätte Tafeln außerhalb des Bildes ohne Weiteres erlaubt, aber Straub/Huillet bestanden auf der auswendig gelernten Wiedergabe des Textes. – Nach den anfänglichen Titeln wird die Einleitungsmusik minutenlang über Weißfilm zu Ende geführt. Soviel Musik war nie (Musik: Edgar Varèse). Nun könnte man ein solches Vorgehen als pubertär rebellische Aktion abtun, als ein gegen-konventionelles Handeln, also doch wieder an die Konvention gebunden. Der nachfolgende Film macht allerdings deutlich, dass mehr Tiefe zu Grunde liegt. Sollte ich berichten, wovon er handelt, dann würde ich angeben, von Pathos und Schönheit, und zwar in einer Weise, die einen diese Worte unverschämt im Munde führen lässt. Und wenn es nicht wie das Lallen eines Bekehrten klingen würde, könnte man zu dem Wort Befreiung ausholen. Davon handelt der Film allerdings nicht. Er scheint mir ein Stück befreite Sinnlichkeit zu sein.

Donnerstag, 02.10.2003

„… der eine wunderbare Moment, wo Rose, jetzt bin ich dran, aus ihren Schuhen schlüpft, auf Strümpfen im Kreis der Männer steht, Tommy, der gerade das Armdrücken verloren hat, die Zigarette aus dem Mund nimmt, sie zwischen Daumen und Zeigefinger hält wie ein Kerl, die Glut nach innen, und nach einem tiefen Zug, so you think you’re a big tough man, eh? let’s see you do this, sich aufrichtet und ihr Gewicht, bis sie zu schweben scheint, und höher über den Planken des Schiffs, als es die Möglichkeit ist, langsam auf die Zehenspitzen stellt, die es einen kurzen und doch so langen Augenblick lang triumphierend halten, ehe Rose Jack, der ihren Rockzipfel gehalten hat, lachend in die Arme fällt.“

Uwe Nettelbeck, Titanic Revisited

Mittwoch, 01.10.2003

„Für die, die denken, dass sie meine Ideen für ihre Zwecke benutzen können, es gibt einen Copyright-Vermerk für alle Moana-Seiten. Und außerdem gibt es niemand in Deutschland, der so schnell dreht, wie ich.“

Rudolf Thome, Bedienungsanleitung

Mittwoch, 10.09.2003

Fernseh-Hinweis
Heute, 10.9.
arte, 22:45 Uhr
Claire Denis, Trouble Every Day
Frankreich 2001

Samstag, 30.08.2003

Buch-Hinweis

„Ob sich vorstellen ließe, daß Walter Benjamin mit dem Passagenwerk fertig geworden wäre, hätte er alle Texte, die er in der Bibliothèque Nationale gelesen hat /lesen wollte, auf CD-Rom gehabt, und alle Bilddokumente/Abbildungen des Cabinet des Estampes digitalisiert gespeichert, mit Motiv-Erschließungen?“ (Helmut Färber: Fragen gestellt am Mittwoch, 7. Februar 2001).Keine Antwort darauf, aber diese und andere Fragen sind im Band „Suchbilder. Visuelle Kultur zwischen Algorithmen und Archiven“ (Hg. von Wolfgang Ernst, Stefan Heidenreich und Ute Holl, Berlin: Kadmos 2003) nachzulesen. Wiederveröffentlicht ist dort, neben anderen Beiträgen des gleichnamigen Symposiums vor zweieinhalb Jahren, auch Jörg Beckers Text „Der Ausdruck der Hände. Ein filmischer Terminus“.

Dienstag, 29.07.2003

Sehen und Sterben II

Liebe in Zeiten des Krieges

II. Weltkrieg; Häuserkampf in Frankreich nach der Landung der alliierten Truppen; zwei Männer im Nahkampf auf Leben und Tod wälzen sich am Boden einer Wohnung im ersten Stock einer Mietshausruine. Neben ihnen liegt ein röchelnder angeschossener amerikanischer Soldat im Sterben, der fürderhin nur noch eine Rolle als Hindernis einnimmt. In der Hektik des Kampfes gerät die Kamera immer wieder aus dem Lot. Der in diesem Augenblick noch sehr lebendige zweite Amerikaner, Private Mellish, kann die Oberhand in dem herrschenden Handgemenge gewinnen und zückt sein Messer gegen den Deutschen.

Private Mellish:
God! … God!
You damned … (unverständlich)

Aber das Glück wendet sich. Der deutsche Soldat kann den Amerikaner auf den Rücken werfen und ihm das Messer abnehmen, um ihn nun seinerseits damit zu bedrohen. Bald schon schwebt die Spitze des Messers über dem Herzen von Private Mellish, der kaum noch Widerstandskräfte mobilisieren kann.

Deutscher Soldat:
Gib auf! (fast unverständlich, dann aber en face und sehr deutlich mit süddeutschem Akzent)
Gib auf!
Du hast keine Chance!
Lass es uns beenden!

Die Messerspitze kommt immer näher und kratzt den Amerikaner ein erstes Mal ins Brustfleisch. Private Mellish gerät in Panik.

Private Mellish:
What’s up, what’s up!?
Stop it! Stop it!

Über einen Zeitraum von 40 Sekunden versenkt nun der deutsche Soldat das Messer im Herzen von Private Mellish, der nur nach Luft schnappen kann, manchmal röchelt und zu schlucken versucht. Schuss/Gegenschuss – der Deutsche untersichtig, en face – der Amerikaner liegend auf dem Rücken, also aufsichtig zu sehen, schräg über Kopf, Gesicht und eindringendes Messer immer gleichzeitig im Bild.

Deutscher Soldat:
Es ist doch einfacher für Dich!
Viel einfacher!
Du wirst sehen, es ist gleich vorbei.
Schschsch … schschsch … (wie, um ihn zu beruhigen)

Bei den letzten Lauten ist der Mund des deutschen Soldaten fast am Mund des Sterbenden. Schweiß trieft ihm vom Gesicht über die Nase, von wo er in Tropfen auf den Amerikaner fällt, der nunmehr tot ist. Der unbeteiligte Dritte verharrt seit geraumer Zeit regungslos neben den beiden, oft im Vordergrund des Bildes. Private Mellish liegt hingestreckt da wie ein vom Kreuz genommener Jesus unter dem deutschen Soldaten. Halb auf ihm liegend, halb aufgestützt betrachtet dieser sein Opfer. Die Szene ist unterschnitten mit mindestens drei weiteren Erzähleinheiten des in den Häusern und in den Straßen tobenden Kampfgeschehens. Im Bundeswehrjargon der hiesigen Privates (= Schützen) würde sie der Einfachheit halber unter der Überschrift GEFICKT laufen.
(SAVING PRIVATE RYAN, S. Spielberg, USA 1998, ca. ab 2:17:00)

HERZENSANGELEGENHEIT: Der vorangehend beschriebene Vorgang kann angesehen werden als Herstellung einer herzlichen Beziehung. Die nationale Krankheitspräferenz der Deutschen befindet sich im Bereich der Herz-Kreislaufprobleme. Da liegt die Vorstellung des Herzens als Motor und Pumpe nahe, aber auch die des Zentrums von Sentimentalität und Schwermut. Dass das Abstellen des Motors somit zu Erlösungszuständen führen kann, ist jedem einsichtig. Die Probleme der US-Amerikaner sind eher solche der Verdauung, die Vorstellungen des Herzens übersüßt. WILD AT HEART heißt es, und Stevie Wonder sang … from the bottom of my heart, diverse andere … directly from my heart to you/ … and what my heart has heard – well, it takes my breath away. Herz und Ekstase sind hier eng konnotiert. In einer INDIANA JONES Episode reißt ein Unhold in Ritualen seinen Opfern das Herz aus dem Leibe. Wenn man es mit dem Messer ansticht, kann man vielleicht am Herzblut partizipieren. Der deutsche Soldat kann nicht wissen, dass er es außerdem mit einem Juden zu tun hat. Regisseur und Drehbuchautor wussten Bescheid.

ZU-TODE-LIEBEN: Aus der komplementären Anordnung des Tötungsaktes zur beschwichtigenden Rede eines Vaters, der seinen Sohn zu Bett bringt oder zum Zahnarzt begleitet, oder zur Ansprache des Liebenden an den Geliebten, gleichzeitig aber auch der Drohgebärde des überlegenen Fremden an den Unterlegenen, der alles fahren lässt, sich überantworten muss, gewinnt die Szene ihre innere Gespanntheit und Morbidität, ganz abgesehen von der Obsession, die Tötung eines Menschen als Quasi-Snuff-Video unter dem moralischen Verdikt von historischem Realismus darstellen zu wollen. Diverse Veteranen müssen in der Begleitdokumentation wieder und wieder bestätigen, dass der Film das Authentischste, das Realistischste ist, was es auf diesem Gebiet gibt. Es war genau so. Gezeigt wird das, was uns in PEEPING TOM immer vorenthalten wurde, der Augenblick des Ablebens. So wie Spielberg die Außerirdischen dereinst in persona auftreten ließ, Juden unter Duschen zeigte, die sich in der Gaskammer wähnen, dann aber tatsächlich nur Wasser aus den Düsen kommt, übertritt er auch hier Grenzen, was ihm in diesem Fall sein Realismusanspruch zu gebieten scheint. Dabei kann aber weniger von einem Wagnis gesprochen werden, als vielmehr dem Versuch, das zunächst Unhintergehbare des Todes dingfest zu machen und zu instrumentalisieren. Verdinglichen selbst der Verdinglichung. Tod mit Sinn füllen. Das Versprechen einlösen. Zeigen, was wirklich ist. Rührt nicht die Faszination, dies ansehen zu dürfen, daher – wenn man nur genau genug hinsieht, bekommt man heraus, was das heißt ‚sterben’ und was jenseits der Schranke liegt? Besser, man sammelt seine Erfahrungen vorher, besser, man weiß Bescheid, man kann ja nie wissen.

Naive Vorstellung oder Kalkül, patriotische Selbstbespiegelungen könnten ohne Mythenproduktion funktionieren, wenn man sie nur einem ‚aufrichtigen, akribischen’ Realismus unterwirft. Und doch werden sie gewinnen. Godard hat darauf hingewiesen, dass PANZERKREUZER POTEMKIN mittlerweile als Dokumentarfilm eingesetzt und auch so gelesen wird, will man Authentisches über die Revolution erfahren. Es vermag „kaum zu verwundern, dass besonders Spielfilmen oder Fernsehserien in unseren Interviews die Rolle zukommt, als Belege für historische Wirklichkeit zu fungieren“ – so die Autoren einer sozialpsychologischen Studie zu Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. (Welzer et al.: Opa war kein Nazi, Frankfurt/M 2002, S. 129) „Das Ereignis ist nicht das, was passiert. Das Ereignis ist das, was erzählt werden kann.“ (Allen Feldman, in: ebenda, S. 128) Und gleichzeitig das Erstaunen der Fernsehgenerationen, die schon wissen, wie ein Krieg auszusehen hat, und bei der Realität mehr Realität einklagen. So der etwas enttäuschte Bericht des 22-jährigen Offiziers Gary McKay aus dem Vietnamkrieg: „Es ist gar nicht so, wie man es normalerweise aus dem Kino oder dem Fernsehen kennt: kein fürchterliches Schreien der Verwundeten, nur ein Grunzen, und dann fällt er völlig unkontrolliert zu Boden.“ (Joanna Bourke: An Intimate History of Killing. Face-to-face killing in twentieth-century warfare, London 1999, S. 26, in: ebenda, S. 227) Einzig die Tatsache, dass es vom D-Day relativ viel Dokumentarmaterial gibt, mag vielleicht dem Ablauf Vorhalt gebieten, der SAVING PRIVATE RYAN automatisch in den Status authentischer Berichterstattung erhebt. Ein Fall wie HOLOCAUST macht da nicht viel Mut.

Freitag, 25.07.2003

Zehn Minuten älter

Nach ungefähr vier Minuten begann man, die Unruhe im kleinen Raum des Schachtelkinos zu spüren. Jemand in der Reihe vor mir drehte sich um und schaute in die Richtung, aus der er das Licht des Projektors erwartete. Irgendwo weiter hinten geriet eine typische Vor-Film-Unterhaltung ins Stocken und versickerte dann ganz. Jemand stieß eine Bierflasche um. Die Werbung und auch die Werbung für die Werbung war vorbei; wenn noch Eis verkauft werden sollte, wäre es jetzt dafür zu spät. Es vergingen weitere drei Minuten. Nichts passierte.Zuerst hatte ich nur flüchtig daran gedacht, aber dann gefiel mir der Gedanke immer besser, dass dies vielleicht schon Godards Episode sein könnte. „Dans le noir du temps“, den Titel hatte ich irgendwo gelesen, sonst wusste ich nichts außer der Dauer von zehn Minuten. Dunkel war es, Zeit verging auch: Alles stimmte. Noch eine Minute später konnte ich es mir schon nicht mehr anders vorstellen. Es kam mir schlüssig vor, dass auf die vielschichtigen Bild- und Tonüberlagerungen der „Histoire(s) du cinéma“, auf die vierstündige Bildexplosion nun eine zehnminütige Bilderlosigkeit folgen müsste. Als hätte er sich und uns soviel Text, so viele Bilder und so viel Musik auf die Seite geschafft, dass wir jetzt noch eine ganze Weile davon zehren könnten im dunklen Kinosaal, durch die Erinnerung an die Geschichten der Geschichte. Rückzug, Askese, ein Echoraum, in dem die Unzahl von Bildern weiterhallt, die er durch den Schneidetisch hatte laufen lassen, angehalten, verlangsamt, übereinandergelegt, beschriftet, verfremdet, besprochen.

Kurz darauf ging der Film dann los, scheinbar gab es nur ein paar Komplikationen beim Einlegen der Rolle, oder der Vorführer hatte sich noch ein Bier geholt, „bei der Hitze“. Für mich war durch die schwarze Zeit vor dem Anfang eine Lücke entstanden, in die sich Godards Film siebzig Minuten später als letzte der acht Episoden hineinfügte. „Dernières Minutes de…“ erscheint da immer wieder auf der Leinwand, in der einfachen Druckschrift, die man seit den Videoarbeiten aus den Siebzigern kennt. Letzte Minuten „des Muts“, „der Angst“, „der Liebe“, „des Kinos“, „der Stille“.
Wahrscheinlich liegt es daran, dass seit Jahren kein neuer Godardfilm mehr im Kino lief; jedenfalls war ich von den Bildern so ergriffen – sagt man das? – wie im Kino schon lange nicht mehr. Wie Notizen aus dem Nachlass kamen mir die verlangsamten Sequenzen vor, von einem, der lebendig, aber zugleich schon mit einem Blick von Außen, von ganz woanders her seine Papiere ordnet, hier etwas markiert, ein Photo zur Hand nimmt, einen Satz von Wittgenstein aufgreift, sich in den bearbeiteten Einstellungen aus „Made in USA“, „Vivre sa vie“, „Le petit soldat“ wiederzufinden versucht. „Les miroirs feraient bien de réfléchir avant de renvoyer une image“ füllt in „2 X 50 ans de cinéma francais“ (1995) mehrmals den Bildschirm. In der Übersetzung geht viel verloren: Spiegel täten gut daran, nachzudenken (zu reflektieren), bevor sie ein Bild übertragen. Auf eine unbestimmte Art hatte ich das Gefühl, dass Godard sich hier vor und – wie Alice, mit deren Rätseln Emily Brontë in „Weekend“ den Ehemann zur Verzweiflung treibt – hinter den Spiegeln befindet. Und der (verfremdende) Spiegel ist er ebenfalls.

Ein paar Tage vorher hatte ich noch mit M. darüber gesprochen, ob es so was wie „gelungene“ Episodenfilme gibt, die nicht nur als Zeitdokument oder aufgrund einzelner Segmente (wie Teile von „Loin du Vietnam“ oder Fassbinders Klaustrophobie-Flash in „Deutschland im Herbst“) interessant sind, sondern auch als Gesamtfilm funktionieren. Er war skeptisch, und auch mir fielen immer nur tolle Einzelepisoden ein. Aber jetzt im Kino fand ich, dass das Hintereinander etwas für sich hat, wie bei einem guten Sampler, bei dem man sich über die schlechten Lieder freut, weil sie einem zeigen, was man an den guten Stücken hat. Und gerade die Bruchstellen zwischen zwei Filmen machen dann eben doch manches klar: Wenn zum Beispiel etwas noch gedanklich rüberragen will über den Rand, aber vom nächsten Film gleich brutal plattgebügelt wird, wie es am Übergang von Claire Denis zu Volker Schlöndorff besonders unangenehm auffiel.
Denis aktualisiert eine Episode aus „La Chinoise“: In einem Zugabteil unterhält sich eine Studentin, die die gleiche Schirmmütze trägt wie 1967 Anne Wiazemsky, mit Jean-Luc Nancy über das Fremdsein. „Vers Nancy“ heißt die Episode: Nach Nancy im mehrfachen Sinne, und eben auch nach Jean-Luc. Konzentiert, aber zugleich völlig entspannt werden im Gespräch Gedanken hin- und hergespielt, Zweifel artikuliert, Aporien aufgespürt, die keine Sackgassen sind, sondern auf neue Gedanken stossen lassen: Der Fremde als Eindringling, als Gast, von dem Assimilation verlangt wird, der aber zugleich seine Eigenheit behalten soll. Jemand, von dem man erwartet, dass er einen überrascht – eine unmögliche Aufgabe. Im Gang steht währenddessen ein Schwarzer und hört lange mit, bevor er sich schließlich zu den beiden ins Abteil setzt. Man kann solche Fragen von Außen und Innen, von Dazugehören-müssen und Man-selbst-sein-wollen also ganz nüchtern in klaren schwarz-weissen Bildern und wenigen Einstellungen auf die Gesichter und die Landschaft draußen inszenieren (und dabei das Problem von Eigen und Fremd im Verhältnis des Films zur Godard-Vorlage nochmals fast unmerklich verdoppeln.) Dann kommt Schlöndorffs Episode, die so großspurig mit „Enlightenment“ betitelt ist, dass auch die ironische Brechung des Titels am Ende nichts retten kann. Augustinus‘ Reflexionen über die Zeit werden hier einer Mücke in den Mund gelegt und in schwindlig umherkurvende Bilder gepackt, die in jeder Sekunde virtuos Leichtfüßigkeit zeigen wollen – wohl um die stereotype Tumbheit der Bilder vergessen zu machen. Ein Teil des Films spielt auf einem Campingplatz in Ostdeutschland, und es gibt da eine schwangere junge Frau, die ihren Eltern den Vater ihres Kindes („einen Afrikaner“) vorstellt. Skinheads dürfen nicht fehlen, Alkohol und Grillwürstchen sind auch im Spiel – man kann das hier eigentlich abbrechen, jedes weitere Wort wäre zuviel. Die gedankliche Komplexität (und die Lust am Nachdenken), die man im Zugabteil spüren konnte, wird hier zugunsten des flachen Schematismus‘ von Glatze vs. schwarze Hautfarbe rücksichtslos wieder eingedampft.

Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn Schlöndorff den Nicht-Film gemacht hätte, den ich zu Beginn Godard zugeschrieben hatte. Aber natürlich wäre das nicht das selbe Nichts gewesen, ein anderes Schwarz, eine andere Zeit.

Donnerstag, 24.07.2003


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