Donnerstag, 08.07.2004

Straub / Huillet / Cézanne

UNE VISITE AU LOUVRE

2004

PAUL CÉZANNE IM
GESPRAECH MIT
JOACHIM GASQUET
1989

UNE VISITE AU LOUVRE (EIN BESUCH IM LOUVRE) – Frankreich/Deutschland 2004 – R+B: Danièle Huillet & Jean-Marie Straub, nach dem Kapitel 2 Le Louvre des Buchs »Cézanne – Ce qu’il m’a dit« von Joachim Gasquet – K: William Lubtchansky – Bühne: André Atellian – Beleuchtung: Jim Howe – Ton: Jean-Pierre Duret – Stimme: Julie Koltaï – 47 min, OmU

PAUL CÉZANNE IM GESPRAECH MIT JOACHIM GASQUET – Frankreich/Deutschland 1989 – R+B: Danièle Huillet & Jean-Marie Straub, nach den Kapiteln 1 Le Motif und 3 L’Atelier des Buchs »Cézanne – Ce qu’il m’a dit« von Joachim Gasquet – K: Henri Alekan – Beleuchtung: Louis Cochet, Hopi Lebel – Ton: Louis Hochet, Georges Vaglio – Stimmen: Danièle Huillet, Jean-Marie Straub – 63 min

Ich bin Cézanne

Nie mehr einen Film in Museen, hatten wir uns geschworen; zu viele Schwierigkeiten mit den Kulturfunktionären, zu viel Unverständnis für das, was sie nahezubringen verpflichtet sind, die Malerei, zu viel Verachtung für das Kino.

Dennoch überfiel uns das unwiderstehliche Verlangen, eine Fortsetzung des Wegs, den wir mit unserem CÉZANNE von 1989 eingeschlagen hatten, zu versuchen, auf andere Weise natürlich – zurückzukommen auf die Malerei und auf Frankreich, nach dem Theater, Sizilien und dem Deutschen der ANTIGONE …

Wir werden wieder sehen müssen, besser sehen, wirklich sehen, Leinwände, die wir nicht kennen, und Cézanne wird uns dabei helfen, mit seinem durchdringenden Blick wie dem von Leonhardt in die Anordnung einer Partitur von Bach, die Pläne zu entdecken;

– eine Struktur aufbauen müssen, die Illustration, Erzählung und filmische Materie sei, der Materie der Malerei dienend (mit Hilfe von Alekan, falls der Tod uns keinen Streich spielt);

– vielleicht Piccoli überzeugen müssen, aus Spaß, wegen Rivette, aber auch deshalb, weil er seit langem mit Straub arbeiten wollte, und es lustig wäre, ihn sprechen zu lassen, ohne ihn zu sehen – ihn sagen zu lassen „Ich bin Cézanne“.

So könnte dieses Abenteuer EIN BESUCH IM LOUVRE UM 1900 beginnen (nach den Dreharbeiten zu unserem CÉZANNE sagte Alekan: »Das sind die wahren Abenteuerfilme«):

»Ich mag die Primitiven nicht.
Ich kenne Giotto wenig. Ich müsste ihn sehen …
Ich bin jetzt schon zu alt, um mich in Italien herumzutreiben.«

Und so könnte es enden:

»Wer versteht Courbet?
Man steckt ihn ins Gefängnis in diesem Keller.
Ich protestiere. Ich werde die Zeitungen aufsuchen, Vallès …
Man lasse diese Leinwand an ihren Platz bringen, in das Licht. Dass man sie sieht!
Wir haben in Frankreich ein solche Maschine und wir verstecken sie.
Man lege Feuer an den Louvre, dann …
Sofort … Wenn man Angst hat vor dem, was schön ist.
Ich bin Cézanne.«

Man muss den Zwischenraum bauen, und Ihr könnt uns dabei helfen.

Danièle Huillet
1994 als Bittbrief geschrieben …

***

Paul Cézanne im Gespraech mit Joachim Gasquet

Der erste Cézanne-Film von Jean-Marie Straub & Danièle Huillet ist ein Dokumentarfilm, der sich nicht blutsaugerisch gegenüber seinem Gegenstand – der Malerei! – und seinen Protagonisten (dem Maler und seinem viel jüngeren Bewunderer) verhält. Der Film zeigt und bespricht die Arbeit des Malers so, dass filmisch ein Ausblick eröffnet wird, was Malerei heute sein könnte – ein Ausblick, wie ihn nur wenige in den letzten Jahrzehnten innerhalb ihrer Malerei aufzeigen konnten (Bridget Riley, Martin Kippenberger und Vlado Kristl in seinen Filmen und in seiner Malerei).

Cézanne taucht bei Jean-Marie Straub schon viel früher (1968) auf, als Straub sich öffentlich für die Filme von Peter Nestler ausspricht. Nestler, selbst Zeichner und Maler, zeigt bis heute in seinen (Dokumentar-) Filmen (ZIGEUNER SEIN, DIE DONAU RAUF, FLUCHT, DIE VERWANDLUNG DES GUTEN NACHBARN u.v.m.) immer wieder Gemaltes quer durch die Zeiten und von Leuten, für die Kunstgeschichtsschreibung meistens nur die Schublade »Naive Malerei« bereit hält. Wichtig ist der politische Zusammenhang, in dem man die Malerei in Peter Nestlers Filmen sehen kann. Ohne diese Vor- und Zusammenarbeit mit dem Freund und Kollegen wäre Straub-Huillets Film nicht das, was er ist: Er zeigt Cézannes Malerei als eine an die normalen menschlichen Grenzen stoßende, alltägliche Arbeit, die ein ganzes, langes Leben ausfüllt.

Das Verhältnis Film und Malerei hat eine Geschichte, die losging, lange bevor die im Film verwandte farbige Reproduktionsmöglichkeit des Gesehenen und die Möglichkeit des gleichzeitigen Hörbarmachens von Tönen und gesprochenen Texten erfunden waren. In der blockhaften Montage werden unterschiedlichste Momente einer bereits im Stummfilm begonnenen »Malerei-Filmgeschichte« (Dreyers MICHAEL!) auf verschmitzte, »übersetzte« (z.B. durch die Frauenstimme, die Cézanne spricht) Art und Weise bewahrt.

Man merkt auch, dass die Zeit-Kunst Film der Malerei möglicherweise näher steht, als man gemeinhin annimmt. Die im Film extrem lang gezeigten Schnappschüsse des grauhaarigen Malers machen deutlich, dass die Verwandtschaft zwischen den technischen Reproduktionsmitteln Photographie und Film vielleicht eher äußerlich ist. Straub-Huillets (und Peter Nestlers) Filmarbeit hat mehr mit dem langsamen, schichtenweisen Verdichten einer am sichtbaren Gegenüber interessierten Malerei zu tun, als mit den Bildern, die von immer leichter zu handhabenden und unauffälligeren Apparaten geliefert werden. Wie vorsichtig, fast geheim das bereits langandauernde Liebesverhältnis zur Malerei behandelt wurde, zeigen der Rouault‘sche Blitzsonnenaufgang in der CHRONIK DER ANNA MAGDALENA BACH oder die im Baum sitzende Nephele in DALLA NUBE ALLA RESISTENZA, einem der letzten Gemälde Nicolas Poussins entsprungen. (Gegenbeispiel: LA VILLE LOUVRE [1990] von Nicolas Philibert. Hier erscheint das filmisch reproduzierte Selbstporträt Poussins genauso obszön wie die Filmbilder der vor der Kamera aufgestellten ReinigungsarbeiterInnen des Museums.)

Der Cézanne-Film endet mit einer Einstellung, die jene bereits seit Jahrhunderten befestigten Grenzziehungen und Ausschlussverfahren der bürgerlichen (Kunst-)Welt noch einmal neu, deutlich sichtbar – und auch für sich selbst – ins Bild setzt. Jedes emanzipatorische Bildermachen, hier die Annäherung an das Werk von Paul Cézanne (und eine mögliche Weiterführung), ist nur von außerhalb, d.h. nur durch das genaueste und listigste Einhalten dieser Distanz möglich.

Stefan Hayn, 18. Januar 2004

***

Wie wir leben müssten

Die Straubs materialisieren sich so restlos in ihren Filmen, dass Raum und Zeit ihres physischen Lebens dafür gerade hinreichen.
Wir sind Filmtiere, diese Selbstbeschreibung suggeriert, sie können nicht anders, sie handeln nach einem – immer reflektierenden – Trieb.
Konsequente, unerbittliche Hinrichtung auf das, ähnlich wie bei Cézanne, so auch hier, nicht vollendbare Werk.
Wie dort, so auch hier, genaueste Wahrnehmung der die Themen liefernden Verhältnisse und deren Überführung in eine stringent strukturierte bildnerische Weite.

Die geschaute, die erfahrene Wirklichkeit wird durch hellwaches Empfinden und Gewichten des Dokumentars, des Künstlers, verdichtet und so ausgeweitet.
Es entstehen dichte, suggestive Entwürfe von Natur und Menschennatur in Bild bzw. in Bild und Wort, deren Appellcharakter die einen stört, die anderen aus ihrer gewohnten Gewöhnlichkeit aufstört, aufweckt.
Beider (Straub/Huillets wie Cézannes) Arbeit verdankt sich lebenswichtiger Notwendigkeit.
Rilke nannte so etwas bei sich die grosse Arbeit und sah sein übriges Leben davon stets bedroht; Meier-Graefe schrieb über Cézanne: Er malt, wie wir leben müssten.

Wie wir leben müssten !
Sagt, weist das den Menschen nicht schon Antigone ( in DIE ANTIGONE DES SOPHOKLES NACH DER HÖLDERLINSCHEN ÜBERTRAGUNG FÜR DIE BÜHNE BEARBEITET VON BRECHT 1948 [1991] ),
oder Empedokles ( in DER TOD DES EMPEDOKLES ODER WENN DANN DER ERDE GRÜN VON NEUEM EUCH ERGLÄNZT [1986], und in SCHWARZE SÜNDE [1988] ) ?
In diesen und in ihren anderen Filmen zeigen uns Danièle Huillet und Jean-Marie Straub, wie Menschen tatsächlich leben und miteinander umgehen.
Als wenn sie die Erde durchpflügten auf der Suche nach Humanem, das immer wieder in sie eingebracht wird und doch immer wieder als verschüttet sich herausstellt.

In zwei Filmen wenden sich die Regisseure Paul Cézanne zu ( in PAUL CÉZANNE IM GESPRAECH MIT JOACHIM GASQUET [1989], und in EIN BESUCH IM LOUVRE [2004] ).
Nach anderthalb Jahrzehnten sind sie, in ihrem derzeit letzten Film, zu dem Maler zurückgekehrt, dem sie den höchsten Rang in der gesamten neueren Malerei zuerkennen.
Wen, der etwas von Cézanne und etwas von den beiden Regisseuren weiß, kann das wundern !
Julius Meier-Graefe hätte das wohl auch nicht gewundert: Cézanne realisierte sich so restlos in seiner Malerei, dass von seiner Person nur die Maske eines menschenfeindlichen Maniaks zurückblieb.

Cézannes angestrebte réalisation – was ist das ? – was wäre das ?
Lückenlose Verwirklichung seiner inneren Vorstellung vom motif in der Natur auf der Leinwand.

Und warum war er niemals sicher, das zu schaffen?
Weil er ehrlich war.
Weil das nicht gelingen kann.
Denn die Vorstellung im Kopf ist und bleibt offen, und die Darstellung in Form und Farbe ist in jeder Hinsicht fixiert, (ab)geschlossen.
Das eine ist empfunden, bedacht, das andere gemacht, nach je seinem eigenen Gesetz.
Daher, um das Unvereinbare zu vereinen, wenigstens miteinander zu versöhnen, immer wieder das lange Arbeiten am selben Bild.
Daher die Variationen um den jeweils selben Gegenstand.
Cézannes Lebensarbeit erscheint so auch als ein Werk von Variationen über das Thema Cézanne.

Die Montagne Sainte-Victoire hat seinem Blick standgehalten und wir nehmen sie seitdem dennoch in vielerlei Gestalt wahr.
Gleiches gilt für das »Objekt« Paul Cézanne, das der Maler sein ganzes Schaffensleben lang darstellte.
Viele dieser Selbstportraits vermitteln den Eindruck von gewachsener Landschaft; jedenfalls scheinen die gemalte Natur und die gemalte Menschennatur oft nicht weit auseinanderzuliegen.
Insofern ist Paul Cézanne bildübergreifend, d.h. werkimmanent, réalisation geglückt, in der unterschiedliche Ausprägungen von Leben auf der Erde näher zueinanderrücken.

Ingo Hohnhold, 4. Mai 2004

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Der Marmor hat geblutet

Über UNE VISITE AU LOUVRE von Jean-Marie Straub & Danièle Huillet

„Der graue Himmel der Abstraktion wie von Blitzen durchzuckt; das Licht stark genug für alles Filigran der Dinge. (…) Wie die gelben Nachmittage ihres Glücks uns wohltun! (…) Und wie uns der maurische Tanz beruhigend zuredet!“
Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner (über Carmen)

„Das Leben! Das Leben! Ich führte nur dieses Wort im Munde. Ich wollte den Louvre verbrennen, ich armer Narr! Man muss durch die Natur zum Louvre kommen, und durch den Louvre zur Natur zurück … Aber Zola hat mich trotz allem sehr gut erfasst in seinem Roman L’oeuvre, erinnern Sie sich vielleicht, wie er da herausschreit: »Ach! Das Leben! Das Leben! Es fühlen und es wiedergeben in seiner Wirklichkeit, es um seiner selbst willen lieben, darin die einzig wahre Schönheit sehen, ewig und wechselvoll …«“
Joachim Gasquet, Cézanne

Sollte Sie plötzlich die ungute Anwandlung ankommen, diesen Film, wie es so schön heißt, »erzählen« zu wollen, so sähe das nach gar nichts aus: Gemälde des Louvre in starren Einstellungen, mit einer Off-Stimme, die sie kommentiert, eingerahmt von zwei Schwenks und interpunktiert von einem Blick auf die Seine, vom Museum aus. Über den Film selbst hätte man damit überhaupt nichts gesagt. Dem Besucher gegenüber, dem es ein leichtes wäre, mit einem ungenierten »Da könnte man ja gleich mit einem Museumsführer in den Louvre gehen« zu kontern, müsste man präzisieren, dass der Führer in diesem Fall Cézanne selbst ist, jener Cézanne jedenfalls, den uns Joachim Gasquet überliefert hat. Aber man geriete auf Abwege, wenn man sich darauf einließe. Dieser Film, wie alle großen Filme, erzählt (sich) nicht: er macht sehen, er gibt zu sehen, er macht hören, nährt das Auge, das Ohr, den Geist, das Herz – alles auf einmal, und alles ist eins. Und falls Sie darauf beharren wollen – ja doch, der Film erzählt etwas. Er erzählt, wie glücklich es macht, zu schauen. Und, davon ausgehend, wie glücklich es macht, zu leben – wenn man nur zu schauen wüsste. Ja, nichts geringeres als die Lust, auf der Welt zu sein, vermittelt sich hier, diese Lust zu leben, die einem Roman von Zola den Titel gibt, die aber all das, was je ein Schriftsteller darüber sagen könnte, durch ihre unauflösbare und geheimnisvolle Einfachheit übersteigt – Lebenslust, Lust auf der Welt zu sein, Lust, kurz gesagt, einzutauchen in die Welt, sich überschwemmen zu lassen von ihr, Freude über die simple Tatsache, dass die Wirklichkeit an sich existiert und reich an tausend Substanzen, tausend Farben, tausend Nuancen ist. All dies mit nichts als Gemälden (und einer Skulptur) aus dem Louvre, gefilmt in starren Einstellungen, mit einer kommentierenden Stimme aus dem Off – in nur siebenundvierzig Minuten. Wieder muss man nur die Ohren und Augen weit öffnen, und die kinematographische Kunst der Straubs wird sich davorspannen. Wie in all ihren Filmen arbeiten sie auch diesmal (und hier besonders explizit) daran, die Wahrnehmung ihrer Zuschauer zu erweitern, freier zu machen und gleichzeitig zu verfeinern, indem sie darauf setzen, dass das eigene Dasein (auf der Welt, in der Polis) durch das richtige Sehen und das richtige Hören, kurz, durch das richtige Gefühl (für die Welt, die Polis) hindurchgeht: wenn man etwas schlecht tut, dann deshalb, weil man es schlecht wahrnimmt – oder um einen Titel von Beckett zu parodieren: schlecht gesehen schlecht getan. Hier – geschärft durch Cézannes Worte, die Gasquet überliefert hat und die von Julie Koltaï gesprochen werden – unterscheiden unsere Augen, inwiefern denn Ingres »kein Blut hat« und er, »weil er unbedingt die ideale Jungfrau malen wollte, keinen Körper mehr gemalt hat«, David, »schlechter Maler«, »die Malerei getötet hat«, Tintoretto aber der Maler ist, Delacroix »die schönste Palette Frankreichs bleibt, und niemand, unter unserem Himmel (…) mehr als er den Charme und das Pathos zur gleichen Zeit gehabt hat, die Schwingung der Farbe«, Courbets Beitrag »der Geruch der nassen Blätter, der Mooswände des Waldes, (…) das Murmeln der Regen, der Schatten der Haine, der Gang der Sonne unter den Bäumen, das Meer und der Schnee, den er gemalt hat wie niemand«, gewesen ist. Unsere Ohren hören, und also sehen unsere Augen: das Gehör vertieft das Sehen, das Ohr führt das Auge. Die absolute Starre der Einstellungen, die als Negation des Kinematographischen selbst erscheinen könnte – nicht das geringste kinetische Geschehen in diesen Einstellungen, weder Bewegung noch Veränderung des Lichts –, führt dazu, dass diese zu ihrem Kulminationspunkt geführte Starre sich paradoxerweise zu beleben beginnt. Denn einerseits wandern unsere Augen über die Leinwand, gehen auf die Reise im Gemälde auf der Leinwand; andererseits, und vor allem dann, wenn das Bild vibriert, wirbelt, wenn »die Volumen kreisend ineinandergreifen«, wenn »die Flügel schlagen, die Brüste schwellen«, wenn »das Blut peitscht, kreist, singt in den Beinen«, kurzum, wenn das Werk lebt, übernimmt die kinematographische Einstellung dieses Leben, sieht sich belebt von der Bewegung des Werkes selbst. Indem sie das Verlangen des Malers, wie es in ihrem CÉZANNE von 1989 formuliert wird, verwirklichen, gelingt es den Straubs hier wiederum, nichts als eine »empfindliche Platte«, ein »Registrierapparat« zu sein, absolut transparent, eins mit dem, was sie filmen, es in seiner nackten Wahrheit enthüllend. Wie vor dem Jüngsten Gericht erscheinen die Bilder vor uns, und diejenigen, die, siegreich, »alle Sinne verzücken«, heben sich von selbst ab von jenen, wo der mit seinem Ich zu sehr beschäftigte Künstler nur seine Geringheit eingebracht hat. Wir sehen: die Evidenz der Schönheit, hervorgegangen aus der Empfindung des Wahren, Vollkommenheit der Empfindung. Ein Zustand von Hellsichtigkeit, wie Cézanne es nannte, ist erreicht.

Wenn wir im Kinosaal sind, sind wir im Auge des Malers – und, vielleicht, in seinem Geist. Wir sehen mit ihm, wir fühlen wie er: durch welch seltsames – hybrides – Verfahren gelingt es einem Text, den Gasquet geschrieben hat, sich so getreu wie möglich der Aussagen Cézannes erinnernd (»ich werde nichts erfinden als die Anordnung, in der ich sie darbiete«, schreibt Gasquet in seinem Vorwort), hier wiedergegeben von Julie Koltaïs Stimme mit ihrem einnehmenden Timbre und rhythmisch durchgearbeitet von den Straubs, eine Anschauung und ein Denken heraufzubeschwören? Das ist das Mysterium des Films und eines seiner Wunder. Um gut zu sehen im Museum, muss man sich lange vor dem Bild aufhalten, und vor allem muss man zum Stift greifen und zeichnen (mein erster Lehrer am Gymnasium sagte »zeichnen heisst, in seinen Kopf eingravieren«). Hier jedoch gravieren sich die auf Film gebannten starken Gemälde ohne diese Vermittlung in unsere Köpfe – und wenn wir aus dem Kinosaal kommen, sind wir ganz erfüllt von ihnen: sie sind von nun an Teil unserer selbst. Ein anderes Wunder. Was die anderen Gemälde betrifft, die nur schablonenhaft sind, Idealitäten, Systeme des Geistes, Literatur (ein anderes Wort für Schweinerei, wie Artaud sagte), oder jene, die durch schlechte Farben, verkauft von schlechten Drogisten, verraten werden, so verschwinden sie (»Es wird eines Tages nichts mehr davon übrig bleiben … Wenn Sie das grüne Meer, den grünen Himmel gesehen hätten …«), wir sind von ihnen wie entbunden. Was macht denn diese Gemälde von »falschen Malern« so dürftig, was fehlt ihnen? Sie sind arm an Realem. Das Ich hat hier Vorrang vor der Welt. Das ist also das ›Aus‹ für jene, die, wie man es im CÉZANNE von 1989 hörte, »nicht diesen Baum, Ihr Gesicht, diesen Hund sehen, sondern den Baum, das Gesicht, den Hund«. Das ›Aus‹ für Ingres und das ›Aus‹ für David, der mit seiner Ermordung Marats an das »dachte, was man über den Maler sagen, und nicht, was man von Marat denken würde«. Dieser Film ist eine Apokalypse: es rollen Köpfe. Und wenn die Siegesgöttin von Samothrake, ganz aus Marmor, wie sie ist, enthauptet blutete, so lebten diese schlechten Maler ihrerseits blutleer: lebende Tote. Und der Ruhm gebührt Veronese, Giorgione, Delacroix, Courbet, deren Gemälde die Süße und das Glück des Existierenden in seiner Gänze wiedergeben, sie sind es, die »die Unermesslichkeit, den Strom der Welt in einem kleinen Zoll Materie« unterzubringen vermögen, sie sind es – und hier ist der Cézanne von Gasquet nahe am Nietzsche von Der Fall Wagner –, die uns besser machen: »Diese blassen Rosen, diese rauhen Kissen, dieser Pantoffel, all diese Durchsichtigkeit, ich weiß nicht, das geht Ihnen ins Auge ein wie ein Glas Wein in die Kehle, und man ist sogleich trunken. Man weiß nicht wie, aber man fühlt sich leichter. Diese Nuancen erleichtern und reinigen. Wenn ich eine üble Tat begangen hätte, würde ich davortreten, mich wieder ins Gleichgewicht zu bringen.« Begreift man endlich, mit welcher Liebe zum Realen, welcher Lebensfreude diese Einstellungen geladen sind? Nie wird man ausreichend betonen, wie sehr der berühmte Straubsche ›Widerstand‹ sich auf eine Bejahung stützt. Die Macht ihres ›Neins‹ leitet sich immer direkt ab von ihrem überwältigenden ›Ja‹. Aller Romantik entgegengesetzt, würde man in ihrer Abweisung vergeblich nach irgendeinem Überdruss am Leben oder einer Neigung zum Spleen suchen. Immer handelt es sich für sie wie für Cézanne oder das wiederversöhnte Paar in VON HEUTE AUF MORGEN darum, dem Hier und Jetzt den Vorrang vor dem Anderswo zu geben. Immer geht es darum, diesen aufgeweichten Gemütszustand, der sich in flauen und nebligen Landschaften des Irrealen ergeht, zu bekämpfen: nur das Reale zählt, nur die existierenden Dinge sind wichtig. Und wenn man »den Louvre abbrennen« sollte, dann deshalb, weil er nicht zum Ruhm des Existierenden da ist, weil von den Lebensschätzen, die in ihm geborgen sind, mehr verdorben als entborgen werden. Das ›Nein‹ gilt den Verneinern des Realen.

Ein Wort noch. Eine Hypothese. Bezeichnet dieser BESUCH IM LOUVRE UM 1900 nicht den Geburtsakt des … Kinematographen? Cézanne stirbt; zehn Jahre später dreht Griffith THE BIRTH OF A NATION. Schauen Sie, sagt Cézanne, wie der verlorene Kopf der Siegesgöttin von Samothrake schon ganz im übrigen Körper enthalten ist: wir sehen einen Teil und wir können uns das Ganze vorstellen. Geburt der Kadrage, Geburt des Außerhalbs [hors-champ]: »Ich brauche nicht den Kopf zu sehen, um mir den Blick vorzustellen.« Mehr noch: diese Statue, »das ist ein ganzes Volk, ein heroischer Moment im Leben eines Volkes«, ihr Blut »ist in Bewegung, es ist die Bewegung der ganzen Frau, der ganzen Statue, des ganzen Griechenlands«: indem die Straubs die Statue vor dem Hintergrund einer Mauer von Quadern dekadrieren, geben sie uns eine Vorstellung des Volkes hinter seiner Siegesgöttin, lassen sie es uns sehen bis hin zu seiner Absenz – Geburt dessen, was man modernen Film nennt, eines Außerhalbs innerhalb der Tiefe der Einstellung selbst. Diese Quelle schließlich, die Ingres nicht zu malen verstanden hat, die, »weil sie Quelle ist, aus dem Wasser, aus dem Felsen, aus den Blättern hervortreten müsste«, und die zu Beginn des Films als schlechte Malerei vorgestellt wird, diese Quelle, wie Cézanne sie sich erträumt, wo also die Elemente sich gegenseitig durchdrängen, der Felsen seine steinerne Feuchtigkeit mit dem Marmor des nassen Fleisches austauschte, diese Quelle … ist das nicht die letzte Einstellung, der Schwenk im Unterholz von Buti, der den Film beschließt – was aus diesem BESUCH IM LOUVRE nicht nur den letzten Teil eines mit ARBEITERN, BAUERN begonnenen Triptychons machen würde (ein Triptychon der Transfiguration, eingeleitet und beendet mit Bachs Kantate Mit Fried und Freud fahr ich dahin: »Ein unbegreiflich Licht erfüllt den ganzen Kreis der Erden«), sondern das Manifest des Kinematographen Lumière.

Jean-Charles Fitoussi, La Lettre du Cinéma 26 (Mai 2004)

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Eine wilde Liebe zur Malerei

Eine physische und moralische Eigenschaft bei Straub: dieses römische Wort, das so schwer ins Französische zu übersetzen ist, virtus. In der Härte, wie es den ersten Anschein hat, oder im bis zur Evidenz fest geführten Blick; aber in der Klanglichkeit der Bassstimme eines Cellos … aber die Form selbst, die Folge der Einstellungen, mit Schwarz unterschnitten, aber der Gesang, der im Vordergrund von der Stimme aufrechterhalten wird, wobei die Arbeit des Ausdrucks und der Zäsuren immer ein Oratorium und, um die Wahrheit zu sagen, eine Komposition durch symmetrische Massen rhythmisiert hat, bei der die Wiederaufnahmen von Motiven, von melodischen Entwicklungen, die Abwesenheit jedes Bruchs im Ton, die Abwesenheit von Ornamentierung, wo all das in einer Reihe von Beispielen, einer Fiktion am Nullpunkt, einen Gesang oder ein gesungenes Sprechen mit sich führt, wie in der Erzählung der Mutter in SICILIA! In diesem, in seiner Kunst konzessionslosen Kino, enggeführt aus einer Ökonomie der Mittel aus Passion, habe ich immer die Wiederholung der Rezitative der Passion von Bach oder das symmetrische Spiel der Stücke des Wohltemperierten Klaviers begreifen wollen. VON HEUTE AUF MORGEN: Schönberg, der die bei Bach exponierte Melodie, die Intervalle und die nackte Stimme neu schreibt. So jedenfalls habe ich immer die sehr präzise Arbeit der Artikulation des Sprechens bei Straub gehört. Der Lyrismus, die inhärente Leidenschaft und ihre kalte Exaltation.

Die Äußerungen Cézannes werden mit dieser vordergründigen Ruhe gelesen; die Desartikulation des Textes, das Versetzen der Zäsuren, die Kunst, die Stimme nicht sinken zu lassen, heben sie in einer wunderbar vollendeten Partitur auf, erweitert durch einen außerordentlichen Takt der Gnade in den Saiten eines Satzes von Bach, mit dem der Film endet. Vibrierende Saiten nach diesem wunderbaren Vortrag in einer Altstimme.

Aber etwas anderes noch. Die Parteinahme für die in festen Einstellungen in ihren Rahmen gefilmten Gemälde, manchmal mit Reflexen beladen, gibt die wirkliche Ansicht der Gemälde im Museum wieder. Die Gemälde sind immobil: sie empfangen das brüske, leidenschaftliche, feinsinnige oder brutale Urteil von Cézanne; es ist der Text oder vielmehr: die Rede, welche die Arbeit des Beleuchtens, den Zoom, die Ortsveränderung, die Dekadrage und die Aufteilung der Leinwände macht. Was aber sagt Cézanne? Seine Rede wiederholt die Malerei, führt die Hand, den Meißel, handhabt den Pinsel, verreibt die Farben, zeigt die Luft, das Fleisch und die Gnade, die sich an einer Art Muskulatur der Realität artikulieren. Aber welcher? Dieses außergewöhnliche Bindemittel – immer von einem Gedanken erobert –, zwischen den Affekten und dem Fleisch.

Aber – was tut Cézanne, wenn er in der Malerei Motive, den Strich, die Wucht wiederholt, diese Mischung aus Glückseligkeit und Qual wiederaufleben lässt, durch welche ein Werk wahr ist? Und wahr wie? Dadurch, dass es den Atem nimmt, dadurch, dass es aus Dingen gemacht ist, die wahrhaft unwahrscheinlich und unzusammensetzbar sind, und es mit unverständlichen Arten umgeht: dem Stein, einem Blatt, einem Gewebe, einem von einer feuchten Sonne gesäumten Baum, einem Gewässer, das im letzten Moment flieht und seine Musik hinterlässt.

Was macht dieses Begräbnis in Ornans von Courbet? Das Schweigen, die lastende Trauer, das Schwarz der bäuerischen Silhouetten, das Messgewand des Pfarrers, der Hund, der wie bei Tizian hingesetzt ist; die lastende Trauer musikalisch, aber so lang ausgehalten, dass sie ein Trost ist: die Langsamkeit und die Zeit, die von innen her die Stimmen in ORDET von Dreyer dehnt. Und die Wiederaufnahme des Gehölzes von Courbet! Ist das Cézanne? Das Schönste für mich, dasjenige der gemalten Felsen im Wald von Fontainebleau.

Aber die Straubs? Wer immer so von der Malerei spricht, mit dieser wilden Liebe, mit einer solchen Leidenschaft für die Wahrheit (bedürftig wie wenn man Durst hätte; angesprochen, wie Augustinus von Gott verlangte, zu existieren), der macht das Porträt seiner Kunst. Gibt Straub uns mit diesem Gehölz das Tableau, das er malt? Die letzte Einstellung, der langsame Schwenk nah über die Blätter, die Erde, das Wasser, verschmolzen mit der letzten Partitur des Films (in diesem Film, der ein Oratorium ist), ist das Porträt eines Künstlers, der weiß, dass Paradies und Hölle zusammengehen, und der weiß, dass diese stummen Dinge, von denen ein Frösteln der Blätter, ein herber Geruch von Erde, das Murmeln des Wassers bleibt, dass diese Dinge einmal Menschen waren und dass wir selbst, die wir ein Gedächtnis haben, wissen, dass wir einmal Dinge waren.

Cézanne redet; und wie wer? Und was sagt er? Wie Diderot, wie Baudelaire, wie bei den Goncourt, über die Nichtigkeit von Ingres, die schlechte Malerei von David urteilend, und wie sie alle, wie Flaubert, betrübt über die Ungerechtigkeit und die Mittelmäßigkeit eines Jahrhunderts, das von den Liedchen von Béranger gewiegt wird. Und welches Selbstporträt der Straubs? Es ist hier überall; ich hebe indessen diese Art von gewaltsamer, bewegter und bestürzender Verknüpfung hervor, die Tintoretto gewidmet ist:

»Ich wage nicht, es zu sagen … Schweißtriefend ließ er sich von seiner Tochter einschläfern, er ließ sich von seiner Tochter Cello vorspielen, stundenlang. Allein mit ihr, in all diesen roten Reflexen … Er drang hinein in diese Flammenwelt, wo der Rauch der unseren verschwindet … Ich sehe ihn … Ich sehe ihn … Das Licht löste sich vom Bösen … Gegen Ende seines Lebens sagte er, dessen Palette mit dem Regenbogen wetteiferte, dass er nur noch das Schwarz und das Weiß liebe … Seine Tochter war tot … Das Schwarz und das Weiß … Weil die Farben böse sind, sie quälen, verstehen Sie … Ich kenne diese Sehnsucht (…) Hier dieser Sträfling, Tintoretto. Diese Art Elender, der alles geliebt hat, aber dem ein Feuer, ein Fieber alle Begierden verzehrte, sobald sie geboren waren … Ein Sturm ist diese Ruhe …«

Das Weiß, das Schwarz, das Cello, diese Art Fieber.

Jean Louis Schefer, Les Inrockuptibles 433 (17. März 2004)

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Ein Text wird zum Leben erweckt

Die Conversations avec Cézanne (Edition critique présentée par P. M. Doran, Paris 1978) setzen Leser voraus, die in der Kunstgeschichte zu Hause sind und die erwähnten Bilder im Kopf haben. So laufen auch Joachim Gasquets Aufzeichnungen der Gespräche mit Cézanne ohne konkrete Anschauung ins Leere; nur die amerikanische Ausgabe(Joachim Gasquet’s Cézanne. A Memoir with Conversation, New York 1991) bietet Abbildungen (in Schwarz-Weiß). In Danièle Huillets & Jean-Marie Straubs UNE VISITE AU LOUVRE führt uns dagegen eine suggestive Frauenstimme zunächst durch ein schwarzes Bildfeld: »Je n’aime pas les primitifs. Je connais mal Giotto. Il faudrait que je le voie … Je suis trop vieux maintenant pour m’en aller courir l’Italie.« Wer spricht? Eine imaginäre Stimme: Gedanken Cézannes, gefiltert im Text Gasquets. Dann zeigt der Film das erste Objekt. Die Stimme wendet sich an einen Begleiter: »Regardez-moi, ça … la Victoire de Samothrace«. Der Film wird zum Vademecum, und die eigene Wahrnehmung gerät an den Schnittpunkt zwischen Sehen und Hören.

Wie flanieren wir gewöhnlich durch Museen, Galerien, Ausstellungen? Einzelne Objekte ziehen uns an, der Name des Künstler erscheint uns wichtig, wir wollen den Titel des Bildes mit dem Gezeigten in Einklang bringen, und im Ausufern der Assoziationen beginnen wir zu spekulieren. Andererseits ist der Umgang mit Bildern durch erlernte Techniken der Bildbeschreibung eingeübt, die Wahrnehmung durch Fernsehpraktiken gesteuert. In allem steckt auch Bildungsbeflissenheit. Hier aber erfährt man nichts über das Heiligtum auf der griechischen Insel Samothrake, wo die »berühmte« Statue 1863 gefunden wurde, auch nicht, dass sie um 190 v. Chr. an einen hellenistischen Sieg erinnern sollte. Die Stimme lenkt den Blick auf Körper und Bewegung der nur als Fragment geborgenen Figur, die wir mit den Augen Cézannes sehen sollen, ohne dass wir etwas über Cézanne wissen müssen. Dies ist das Faszinosum des Films, sein »Mehrwert« gegenüber dem nur gedruckten Wort. Textauswahl und Kürzungen erscheinen auf den ersten Blick willkürlich, sind jedoch im Hinblick auf die Akzentsetzung des filmischen Diskurses zwingend.

Welches Wissen müssen wir aktivieren, um ein Bild zu verstehen? Paolo Veroneses Gemälde Nozze di Cana setzt die Kenntnis der Geschichte der Hochzeit in Kana (Joh. 2) voraus. Sie gehörte zum Allgemeinwissen, so dass Cézanne und Gasquet darüber nicht zu sprechen brauchen. Es geht um etwas anderes: »Voilà de la peinture. Le morceau, l’ensemble, les volumes, les valeurs, la composition, le frisson, tout y est.« Wir sollen das Malerische an den Bildern erkennen. Da wird mancher, wie auch bei den anderen Gemälden, die Einblendung des Titels vermissen, das Informative, hilfreich Belehrende, aber darauf kommt es bei diesem Rundgang nicht an. Dies wird von Objekt zu Objekt in zunehmendem Maße deutlich. Der Film vermittelt die Spontaneität des Reagierens auf Objekte von starkem malerischen Reiz, die Subjektivität dieses Reagierens aus der Fülle eigener Erfahrung und eigenen Könnens. Cézanne ist als Autorität des Film allgegenwärtig. Man muss seine Ansichten nicht teilen, aber bereit sein zuzuhören. Der Klang der Stimme Julie Koltaïs hält uns in Bann – Sprechkultur par excellence.

Man begegnet in diesem Film manchem »Klassiker«, über den man sich längst eine Meinung gebildet hat, wie Jacques-Louis Davids La Mort de Marat und Jacopo Tintorettos Il Paradiso und entdeckt sie gleichwohl von neuem. So hatte man sie bisher nicht gesehen! Durch die lange Verweildauer bleibt genügend Zeit, sie wieder ganz in sich aufzunehmen. Und es gibt Augenblicke des Erschreckens, wie bei Eugène Delacroix‘ Prise de Constantinople par les Croisés. Das Ereignis ist Geschichte: »Ce n’est pas l’anecdote des croisés … Maintenant il ne reste plus qu’une image.« Bei Gustave Courbets Enterrement, dem Begräbnis in Ornans, verzichtet der Film auf die Inszenierung der von Gasquet geschilderten Episode, Cézannes Empörung über das Verstecken des Bildes im Keller. Aber er setzt dessen Worte programmatisch ans Ende: »Qu’on foute le feu au Louvre, alors … tout de suite … Si on a peur de ce qui est beau … Je suis Cézanne.«

Der große Erfolg des Films in Paris (unerwartet und überraschend für den Verleih) bestätigt ein ausgeprägt nationales Kulturbewusstsein. Die Strategie des Films aber reicht darüber hinaus. Angesprochen werden alle Museumsgänger, deren Wahrnehmungsfähigkeit noch nicht durch Meinungsgeröll verschüttet ist.

Klaus Kanzog, 27.April 2004

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Ein Besuch im Louvre

Ein, wie ich glaube, entgegen allem Anschein arbeitsintensiver Film – eine Arbeit, die, wie in der Malerei, im Werk aufgeht, es zum ›Vibrieren‹ bringt. Der Anschein oder Vorschein: das sind ja bloß abgefilmte Gemälde, versehen mit einem Off-Kommentar (der Stimme Julie Koltaïs, die Textpassagen aus Joachim Gasquets Gesprächen mit Cézanne liest). Wie immer, wenn man genauer hinschaut, ist alles ganz anders …

Eine Transponierung von Text und Gemälden in ein Medium, das sich wie zum ›Gefäß‹ für die andere Kunstgattung macht – und gerade darin genuin kinematographisch ist. Nur die Macher selber werden wissen, was diese Transponierung für Probleme mit sich gebracht hat und wie sie zu lösen waren: es gibt zwar Grundsatzentscheidungen, aber die konkretesten Fragen stellen sich immer erst an Ort und Stelle, wenn die Geräte aufgebaut werden, das Licht gesetzt, die Einstellung eingerichtet wird. Mit diesen alltäglichen, fast banal scheinenden Problemen so umzugehen, daß die ›Idee‹ nicht verloren geht, vielmehr durch sie hindurchgeht, gestärkt daraus hervorgeht, gehört in intimer Weise mit zur Kunst von Huillet & Straub, ja macht sie aus.

An einer Stelle im Film – beim Delacroix-Bild Einzug der Kreuzfahrer in Konstantinopel, dessen Farben nicht mehr leuchten – kommt Cézanne auf die Materialien zu sprechen, mit denen der Maler umgeht, und, damit zusammenhängend, auf die Geringschätzung der Technik. Das Gemälde büßt seine Wirkung ein (»es bleibt nur ein schlechter Abbklatsch«), wenn »schlechte Farben, verkauft von schlechten Drogisten« verwendet werden – eine Lektion, die Huillet & Straub seit langem für ihre eigene Arbeit beherzigen. Ihre Bilder und Töne sind in einer Weise immer auch handwerklich-technisch so unanfechtbar, daß die Grundlage für das, was sie zeigen wollen, gelegt ist.

Wenn man den Filmtext mit der Buchvorlage vergleicht – »Ce qu’il m’a dit« von Joachim Gasquet, geschrieben 1912/13, erstmals veröffentlicht 1921 –, stellt man fest, daß Huillet & Straub sich den Text ›gebaut‹ haben. Ihre Fassung setzt mittendrin an (»Ich mag die Primitiven nicht. Ich kenne Giotto wenig …«), läßt die verbindenden Sätze Gasquets und seine Dialogstimme weg (außer an drei markanten Stellen: knappen Einwürfen, mit der Stimme Jean-Marie Straubs) – was also ein ganz anderer Umgang mit einem Text ist als etwa bei Vittorini. Das mag wohl damit zu tun haben, daß schon Gasquet sein Buch aus Erinnerungen an seine vielen Gespräche mit Cézanne, Briefstellen und Artikeln über den Maler schriftstellerisch frei kompiliert hat – was für die Kunstgeschichtler und Kunstwissenschaftler schon immer ein Stein des Anstoßes gewesen ist. (Die Authentizität gewisser Äußerungen Cézannes wird von ihnen in Frage gestellt. Gasquet selbst hat allerdings nie verheimlicht, daß er sich aller Quellen, die ihm zugänglich waren, bedient hat. Zudem heißt es in seinem Vorwort: »Bei allem Willen zur Objektivität läßt man doch unbewußt auch immer etwas von sich selbst eindringen.« Um dann jedoch zu sagen: »Soweit wie möglich habe ich Cézannes Aussagen wörtlich wiedergegeben. Ich werde nichts erfinden als die Anordnung, in der ich sie darbiete.«)

Huillet & Straub haben bei ihrem Auswählen, Weglassen und Zusammenstellen natürlich ihre Urteilskraft, ihre Kritik und ihr Empfindungsvermögen einfließen lassen, also ihren Cézanne herausgearbeitet und hingestellt. Aber das Phänomenale ist, daß trotz dieser reduzierenden Vorgehensweise am Ende der starke Eindruck bleibt: »So könnte Cézanne wirklich gewesen sein.« (Während die Wissenschaft mit ihrer Art Objektivität, ihrer Faktenhuberei und ihrem papierenen Akkumulieren, um es deutlich zu sagen, einer Schimäre hinterherjagt, die so blutleer ist, daß sie nicht mal wiehert.) Mir scheint, Huillet & Straub waren bei diesem Dialog vor allem auch interessiert an dem von Gasquet festgehaltenen Rededuktus, der durch Worte vermittelten schieren körperlichen Präsenz Cézannes: seinen Ausrufen und Anrufungen, seinen flammenden Aburteilungen und Lobreden. Durch die starken Emotionen, die in diesen, von einer Frauenstimme vorgetragenen Sätzen und Worten umgehen, ist es dann, als ob Cézanne selbst unsichtbar im Raum und vor den angesprochenen Gemälden stünde. Wie so oft bei Huillet & Straub gibt es auch hier, aus der Kälte der Ablehnung und Zurückweisung heraus, eine Steigerung, die etwas Rauschhaftes, fast Ekstatisches hat – sich wie in einen Sinnentaumel (der Farben!) begibt und sich zum richtigen Ausdruck befreit. Eine Evokation durch Bilder und Töne, die alle Kapazitäten – die Höhe des Kopfs und die Tiefe des Gefühls – beansprucht und erfaßt.

Der Künstler (in diesem Fall Cézanne) weiß, was er liebt, was in Beziehung steht zu ihm – demzufolge wird auch sein Urteil dem gegenüber, was ihm nichts sagt, schneidend ausfallen. Er weiß das besser als die Kunstkritik, die abwägt, prüft, kategorisiert und ordnet, – sein Standpunkt ist viel bedingungsloser. Sein Vorhaben ist ja gerade, aus dem Bedingenden heraus zum Unbedingten zu gelangen. Er kann hier keine Rücksichten nehmen – er verleibt sich das ein, was er brauchen kann, wendet es an und schaut nach vorn. (Natürlich gibt es auch Kunstkritiker, die bedingunglos lieben; aber es ist sicher kein Zufall, daß der Schriftsteller und Poet Gasquet erst 23jährig war, als er Cézanne kennenlernte; »ein Junger«, wie Cézanne dessen Vater schrieb, »der nicht darauf aus ist, einen gleich zu begraben.«)

Immer wieder ist man im übrigen (wendet man sich vom normalisierten Betrieb des Zeitungsfeuilletons ab) erstaunt darüber, wie produktiv die Urteile der Künstler gerade in ihren radikalen Hervorhebungen und Ablehnungen sind – ihre Kritik, die kunstimmanente Kritik, ist viel schärfer und oft auch viel fundierter als das, was im Feuilleton geschieht. Nicht nur in der Malerei, auch in der Philosophie, der Literatur, der Musik – der Ausübende schreitet fort durch Anleihen und durch Ausschließungen. (Für Ludwig Hohl sind »höchste künstlerische Potenz und höchste Kritik … ein und dasselbe.«) Wen er sich als Weggefährten sucht, bezeichnet ihn auch: er ist geradezu zusammengesetzt aus dem, was er sich aneignet, und dem, was er ablehnt … er macht daraus, aus seinem Naturell heraus, sein Eigenes. Vielleicht sollte man auch nicht ständig ›Kunst‹ sagen, sondern unten ansetzen: beim Praktischen und Praktizierten, dem gefundenen oder verworfenen Ausdruck – dem Schritt auf dem Weg, dem Unterwegssein, dem ›inneren Reisedasein‹.

Auf eine Stelle im Film und im Cézanne-Text, die sich Huillet & Straub nicht entgehen lassen konnten, möchte ich noch hinweisen: es gibt nämlich einmal, nach den geschlossenen Räumen des Museums, aus der ›Salle des Etats‹ heraus einen Blick nach draußen, auf die Seine – vielmehr auf drei Bäume im Wind und ein Stück fließendes Gewässer. Dazu ist Cézanne mit diesen Worten zu hören: »Im Grunde, wer das nur einfach wiedergeben würde – die Seine, Paris, einen Tag von Paris –, der könnte mit erhobenem Haupt hier eintreten. Man muß ein guter Arbeiter sein. Nichts sein als ein Maler.« Darin klingt eine Bildvorstellung an, die potentiell über das einzelne Bild hinausweist, auf die Unermeßlichkeit des Lebens verweist – und fast so klingt, als ob Cézanne sich den ›Wirklichkeitsabdruck‹ des Films herbeiwünschte … Vielleicht ist das wie ein Ausblick – eine nur angedeutete, noch nicht ausgeführte Vorrede dazu, wie mit den ›Abbildern‹ umzugehen sei.

Das ist gewiß die ›Nahtstelle‹ – und nicht nur oberflächlich –, wo Cézannne und Huillet & Straub sich berühren: wenn Cézanne etwas von seinem Arbeitsprozeß beschreibt, wie er sich der Natur gegenüber verhalten muß, damit ›es‹ passiert, so hat das – fast paradox, angesichts der unterschiedlichen Medien – sehr viel mit dem ersten und letzten Grund der Arbeit der beiden Filmemacher zu tun. Cézanne sagt, es entwische alles, wenn er dazwischenkomme mit einem Gedanken, einer Theorie, einer Deutung – er dürfe sich nicht ablenken lassen, keine Schwäche zeigen, er müsse sein wie eine »empfindliche Platte«. »Der Künstler ist nur ein Behälter von Empfindungen, ein Gehirn, ein Registrierapparat. Wenn er dazwischenkommt, wenn er wagt, er, Mickriger, sich willentlich einzumischen in das, was er übersetzen soll, läßt er seine Kleinheit mit eindringen. Das Werk wird geringwertig.« Und weiter: »Die Kunst ist eine Harmonie parallel zur Natur. Wenn der Maler nicht willentlich dazwischenkommt … verstehen Sie mich wohl. All sein Wille soll von Stille zeugen. Er soll in sich verstummen lassen alle Stimmen der Vorurteile, vergessen, vergessen, Stille machen, ein vollkommenes Echo sein. Dann wird auf seiner empfindlichen Platte die ganze Landschaft sich einschreiben. Um sie auf der Leinwand festzumachen, herauszustellen, wird danach das Handwerk hinzukommen, aber das respektvolle Handwerk … Die Landschaft spiegelt sich, vermenschlicht sich, denkt sich in mir. Ich vergegenständliche sie, übertrage sie, mache sie fest auf meiner Leinwand.« (Sätze, die man – mit der Stimme von Danièle Huillet – im ersten Cézanne-Film der Straubs gehört hat.)

Ist darin ein Widerspruch zu dem vorhin Gesagten, der ›höchsten Kritik‹? Ich glaube nicht. Der Künstler kritisiert so radikal, gerade weil er weiß (erlebt), wie etwas zustandekommt. Von seiner Arbeit her beurteilt er die Arbeit anderer. Wenn er so wahrhaftig sich selbst gegenüber ist wie Cézanne – und so wortmächtig –, sieht er sofort, welche Gefahren einer vermieden oder nicht vermieden hat, welche Schwächen oder Stärken in seinem Bild umgehen. Und darüber hinaus sähe er noch das, was sich eingestellt hat, den Zauber oder das Wunderbare der wirklich großen Malerei. Das wäre dann sein »durchdringender Blick«, den Huillet & Straub an Cézanne so loben.

Johannes Beringer, shomingeki 15 (erscheint im Sommer 2004)

***

Ich werde nie wieder in den Louvre gehen

Eine Montage von Äußerungen von Jean-Marie Straub bei den Präsentationen von UNE VISITE AU LOUVRE in der Cinémathèque Française Paris (Vorpremiere am 15. März 2004) und bei Vorführungen im Kino »Trois Luxembourg« am 19. und 25. März 2004)

Straub: Also reden wir ein wenig von den Toten, man muss von den Toten reden. Hier saß im allgemeinen in der dritten Reihe jemand, den ich wirklich sehr mochte, er hieß Jean Rouch, er war jedes Mal hier, wenn wir hier waren, und er ist nicht mehr hier. [Jean Rouch war am 18. Februar bei einem Autounfall in Afrika gestorben.] Also liegt mir daran, an ihn zu erinnern. Ich habe von meinem Spiegel eine Postkarte von ihm heruntergerissen, die er mir aus Urbino geschickt hat, Urbino, das ist die ideale Stadt, und er hat geschrieben: »Für Jean-Marie, Ehrenbürger der idealen Stadt«, das Datum kann ich nicht lesen, aber diese Karte ist ziemlich alt, sie ist ein Dokument.

Straub zitiert das Vorwort von Joachim Gasquet: Diese Dinge sind sehr heikel. So objektiv man sein möchte, immer dringt unbewusst etwas von einem selbst in sie ein. Auch bin ich kein Maler, und ich habe Angst, so respektvoll ich mich glaube, ganz gegen meine Absicht, die tiefe Lehre, die man aus all den Äußerungen ziehen könnte, falsch wiederzugeben. Dennoch hat sie mein zuverlässiges Gedächtnis mit Ehrfurcht aufgenommen. Ich werde versuchen, sie so aufzuschreiben. Wann immer ich es kann, werde ich die Worte von Cézanne selbst wiedergeben. Ich werde nichts erfinden – nur die Abfolge, in der ich sie präsentiere. Nach langer Überlegung habe ich mich entschlossen, um ihre Tragweite deutlicher aufzuzeigen, sie alle in drei große Dialoge zusammenzufassen. Um drei Unterhaltungen herum, imaginäre, zwischen hundert anderen, die ich in Wirklichkeit mit ihm hatte, auf den Feldern, im Louvre, in seinem Atelier, habe ich all das versammelt, was ich zusammentragen und woran ich mich erinnern konnte, seine Vorstellungen von der Malerei betreffend: So hat er gesprochen, und so – glaube ich – hat er gedacht.

Straub: Es zeigt sich, dass Herr Gasquet der einzige Biograph aller Biographen von Berühmtheiten ist, der eine Biographie geschrieben hat, die nicht das Werk eines Geiers oder eines Schakals ist – das ist nicht nett gegenüber den Geiern und Schakalen, das ist ein bisschen rassistisch. Ich meine, er hat eine brüderliche Biographie geschrieben, die nicht das Buch eines Gelehrten oder eines Grammatikers ist. Er hat eine sehr kurze Biographie geschrieben und es gibt darin diese drei Unterhaltungen. Er hat sie zehn Jahre nach Cézannes Tod geschrieben und er starb selbst vor ihrer Veröffentlichung. Erst zehn Jahre nach seinem eigenen Tod wurde sie veröffentlicht, weil sie niemand wollte. Und dann kamen die Gelehrten, mit dicken Hintern und grauen Haaren, die daran herumknabberten. Brecht hat es schon gesagt in Furcht und Elend des Dritten Reichs: »Es kommen die Herrn Professoren«.

Frage: Sind Sie, als Sie diese Texte gelesen haben von Cézanne in ihrer Überlieferung durch Gasquet, die ganz aufregend ist, sind Sie mit Ihnen einverstanden gewesen oder vermitteln Sie sie nur?

Straub: Nein, ich bin nicht einverstanden mit dem, was er sagt. Es gibt darin Dinge, die mich die Wände hochgehen lassen. Was mich interessierte war, genau diese Dinge zu behalten. Ich mag es zu zensieren, aber ich zensiere nur gefährliche Dinge. Wenn ich in einem Brief von Schönberg an Kandinsky lese »Ich weiß wohl, es wird immer Arme geben, es wird auf Erden nie für alle genug zu essen geben«, dann zensiere ich das, unerbittlich, trotz meiner großen Bewunderung für Schönberg, aber wenn ich lese »die Welt in Malerei verwandelt«, dann lässt mich das die Wände hochgehen, aber ich behalte es, weil es mich interessiert, weil es eben weder meine Arbeit betrifft noch die Politik, und es ist nicht gefährlich, weder in einem psychologischen noch in einem ästhetischen noch in einem moralischen Sinne. Es gibt viele solche Punkte. Was mich interessierte war, dass es sich um einen Text handelt, den ich nicht geschrieben hatte, erstens weil ich dazu nicht fähig gewesen wäre, zweitens weil er viele Dinge enthält, die ich, wenn ich sie geschrieben hätte, wieder gestrichen oder zensiert hätte, einfach weggeschmissen. Das interessierte mich. Etwas zu haben, das mir widersteht.

Frage: Wenn Sie nicht immer mit Cézanne übereinstimmen, haben Sie nicht, als Sie dazu kamen, zwei Fassungen zu machen, die Lust verspürt, einmal den Kommentar von Cézanne zu haben und ein andermal Ihre eigene Sicht auf dieselben Gemälde, in derselben Reihenfolge?

Straub: Nein, weil ich mich nicht für meine eigenen Meinungen interessiere. Das ist der Unterschied zwischen mir und jemandem, den ich außerordentlich schätze, Godard. Ich interessiere mich absolut nicht für meine Meinungen, aber absolut nicht. Wir machen seit 1962 Filme, in denen wir gerade nicht unsere eigenen Meinungen darstellen oder zu verstehen geben wollten, das interessiert uns nicht. Das ist gut für Cassavetes oder Woody Allen und für viele andere, auch für 90% des gegenwärtigen jungen französischen Kinos, die interessieren sich nur für ihren eigenen Bauchnabel.

Straub: Wir haben an diesem Text zweieinhalb Monate gearbeitet und zehn Tage lang aufgenommen. Weil man Geduld braucht, um zu einem Rhythmus, zu einem Sinn zu kommen, der dem Gewicht der Worte entspricht. Das waren nicht acht Stunden am Tag, das waren wenigstens zwei, manchmal vier Stunden am Tag, aber es waren zwei bis vier Stunden am Tag, auch samstags und sonntags. Kein Schauspieler der Welt würde mir dieses Geschenk machen, selbst wenn ich ihm Goldbarren dafür gäbe.

Straub: Der Text ist eine Lektion in Ästhetik, Politik und Moral, mit der man nicht unbedingt einverstanden sein muss, aber er ist eine gute Lektion in Ästhetik, Politik und Moral. Und wo findet man das noch heutzutage? Sicher nicht auf France Culture. Das ist alles. Und selbst wenn Sie nicht mit Cézanne / Gasquet einverstanden sind – es ist eine große Lektion in Ästhetik, Politik und Moral.

Frage: Cézanne erwähnt mehrere Gemälde von Courbet, man sieht aber immer nur den Kampf der Hirsche über fünf Minuten. Courbet ist auch noch etwas anderes, hatten Sie da nicht das Bedürfnis, auch andere Bilder von ihm zu zeigen?

Straub: Doch, ich hatte große Lust, noch andere Gemälde von Courbet zu zeigen, wenigstens drei oder vier, die sich zum Teil auch in Berlin befinden usw. Aber ich habe das nicht getan, weil ich einen Film mache. Ein Film ist wie ein Verbrechen, es ist eine Wahl. Man muss wählen. Das ist wie im Leben, wie bei einer politischen Aktion, es ist eine Wahl. Man kann nicht überall Honig sammeln. Jemand, der einen Film macht, ist, leider, keine Biene.

Frage: Ist es nicht elitär, diese Gemälde zu zeigen ohne ihre Titel, die man als Untertitel zeigen könnte?

Straub: Aber nein, das ist ein Irrtum, der Verleiher geht mir seit drei Wochen auf den Geist, weil er eine Liste der Gemälde haben will – und ich will sie ihm nicht geben. Dieser Film ist ein Kriminalroman. Mir sind die Malerei und die Namen der Maler vollkommen egal, bei Cézanne gibt es genug Namen, ich werde da keine hinzufügen, ich werde die Gemälde nicht benennen, um so mehr als man z.B. vom Concert Champêtre letztlich nicht weiß, vom wem es stammt, umso mehr als man vom Combat des Cerfs nicht weiß, welches der eigentliche Titel ist, es gibt mindestens drei. Das ist alles Quatsch. Ich schere mich einen Dreck um Kataloge, mir graut vor Katalogen, Museen und Archiven. In einer Bibliothek bekomme ich nach zehn Minuten das Bedürfnis zu fliehen, in einem Museum ist es dasselbe. Ich werde nie wieder in den Louvre gehen, glauben Sie mir. Gott wird mir die Gnade erweisen, vorher zu verrecken, das sage ich Ihnen.

***

Kassiber aus der idealen Stadt

Äußerungen von Jean Rouch zu den Filmen von Huillet & Straub – aus einem Radio-Feature über die Straubs in der Reihe »Le Bon Plaisir«, gesendet von »France Culture« am 24. April 1993

Straub war kein Cineast der Nouvelle Vague, er war sehr verschlossen, sehr singulär, aber wir, die Filmemacher, bildeten eine Mafia, an der man nicht vorbeikam, das gibt es heute nicht mehr, als wären wir Rennpferde oder Formel 1-Fahrer, die auf den Sturz des Gegners warten, um seinen Ruhm zu bewahren, und er gehört zu dieser Gruppe. Ich habe 1989 den TOD DES EMPEDOKLES vorgestellt, und seltsamerweise in diesem schwierigen, komplizierten Film den alten Text von Hölderlin wiedergefunden, der für mich einer der außergewöhnlichsten verrückten Dichter der deutschen Romantik ist, und ich habe Straub das gesagt, und er war sehr stolz, daß man ihn mit Hölderlin verglich. Ich glaube, daß Hölderlin so war, er war auch streng, undurchdringlich, unerbittlich, und er erfand die Dichtung, er erfand das Machen des Kinos mit diesem seltsamen Übergang, in dem der Dichter plötzlich seine Stimmung wiederfindet, die Empfindung seiner Kindheit, die Nostalgie seiner Kindheit, wo er frei wird, ins Imaginäre einzutreten. Und für mich ist seltsamerweise OTHON, in den heutigen Straßen Roms gedreht mit all ihrem Verkehr … der direkte Eingang ins Imaginäre, so wie es nur sehr wenige erreichen können, es ist schrecklich frech, es ist schrecklich dreist, wenn man den Mut hat zu bleiben …

Woraus bestehen Straubs Filme?

Ja, es ist Handwerk, aber ein Handwerk, das auf der Plansequenz aufbaut, vielleicht waren wir deshalb Komplizen, das heißt ich praktiziere die Plansequenz immer – Straub ist nicht sein eigener Kameramann, aber das ist nicht wichtig –, wenn es einem gelingt eine Einstellung von zehn Minuten mit einer Rolle von zehn Minuten in einer Aaton oder Eclair zu drehen, die einen Anfang und ein Ende hat, dann ist das ein Traum, ein Genuß. Bei ihm ist die Kamera gesetzt, sie bewegt sich nicht, unerbittlich starr, und die ganze Szene wird lebendig, ich glaube, tatsächlich wie im antiken Theater.

In den Einstellungen von Straub gibt es das, was wir eigentlich Fehler nennen, das ist ihm vollkommen egal, eine Wolke schiebt sich vor die Sonne, verschleiert die Szenerie, man dreht weiter, der Kameramann rührt das Objektiv nicht an, rührt die Blende nicht an, und die Szene setzt sich fort, das Spiel der Wolken ist Teil der Inszenierung, die Vögel singen, die Geräusche des römischen Verkehrs mit den Steigerungen zu den Stoßzeiten werden mitaufgenommen und er setzt seine Aufnahmen fort und erzählt eine Geschichte.

Woraus besteht die Energie von Straub, der seine Eigensinnigkeit verfolgt?

Das ist, weil er der Andere ist. Er ist der Andere. Er hat Frankreich unter dramatischen Umständen verlassen, aus offensichtlich politischen Gründen, während des Algerienkriegs. Er floh nach Deutschland. Die Tatsache, der Fremde zu sein, ist außerordentlich, also hat er diese Strenge – und Huillet folgt ihm mit einer außerordentlichen Leidenschaft.

Welcher Film war für Sie bedeutsam, im intellektuellen wie kinematographischen Sinne?

CHRONIK DER ANNA MAGDALENA BACH. Man betrat die Musik von Bach in einer Weise, die die Musik von Bach selbst war. Das war unbestreitbar. Ich schätze Filmmusik überhaupt nicht, aber hier war sie im Film, sie war keine Begleitmusik, sie war Bach selbst.

Verstehen Sie das Zickzack von Straub – es gibt erzählende Filme, politische Filme, Musikfilme und zuletzt die antiken Filme? Gibt es hier eine große Kohärenz oder wird da das Ruder nach links und rechts herumgeworfen?

Ja, aber das ist derselbe Fahrt. Die Reise von Odysseus durch bewegliche Felsen hindurch in einer Meerenge, von der ich nicht mehr weiß, wie sie heißt, zwischen dem Schwarzen Meer und dem Mittelmeer.

Erinnern Sie sich hier und heute noch an eine bestimmte Einstellung?

Ja, in DER TOD DES EMPEDOKLES, die lange Rede, während der das Licht sich ändert und in der er weiß, daß er zugleich verraten und geliebt wird. Für mich ist das der Übergang des Helden in das, was wir in der Ethnographie einen totemistischen Vorfahren nennen. Diese Verwandlung geschieht sichtbar, eine sichtbare Veränderung der Persönlichkeit, ohne daß die Szenerie oder die Kostüme gewechselt werden. Und das ist ganz erstaunlich, es geschieht in einem Augenblick … – das ist die Stimmung, die die Spielregel der Romantik war, die die Spielregel von Hölderlin war: in einem bestimmten Augenblick, plötzlich, ist man da ohne da zu sein. Und vielleicht braucht es einen endlosen Text und endlose starre Einstellungen, und vielleicht gibt es erst am Ende der Geduld die Entdeckung.

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Zusammenstellung: Klaus Volkmer

Dank an –

Johannes Beringer, Markus Nechleba, Helmut Färber, Dieter Reifarth, Inge Classen,
Stefan Hayn, Madeleine Bernstorff, Jean-Charles Fitoussi, Maïté Lembeye, Gisela Rueb,
Carola Regnier, Peter Kammerer, Ingo Hohnhold, Klaus Kanzog

– und an D.H. & J.-M.S.

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