Freitag, 29.10.2004

Viennale 04 (Teil 2)

Wien,
Samstag bis Montag
23. bis 25.10.04

Lisandro Alonso: LOS MUERTOS (Argentinien 2004)

Während Michael sich schon wieder auf der Heimreise befunden hat – und in Prag die entbehrten CoF gleich stangenweise in die Arme schließen konnte – gab es in Wien noch einige „schöne Projektionen“, wie man dort zu kalauern pflegt. Zu sehen war, das sei nachgereicht, ein weiteres Dschungelstück. Lisandro Alonsos zweiter Spielfilm LOS MUERTOS erscheint mir in dem Maße materialistisch, wie die zweite Hälfte von SUD PRALAT allegorisch ist: nämlich objektiv, um eine Unterscheidung aufzugreifen, die Bert in der aktuellen Kolik (Sonderheft 2/2004) neu produktiv macht. Das Kino der Objektivität gehört demnach jenen Filmemachern „die sich an Instanzen abarbeiten, die sie sich nicht selbst auferlegt haben“ (S.52); es ist nicht per se mit naturalistischen Ästhetiken oder wirklichkeitsnahen Sujets identisch und kann insofern grundsätzlich auch mythologische und hyperbolische Verfahren zum Einsatz bringen. Mir fällt spontan kein jüngerer Film ein, der die Vorstellung einer allegorischen Wahrnehmung so konsequent objektiviert, wie SUD PRALAT. Alonso gehört zwar auch zu den Objektiven, aber eher zum geerdeten Pol. Das zeigt sich vor allem daran, wie er die beiden komplementären Lebensräume seiner Hauptfigur Argentino Vargas – Gefängnis und Urwald – über die Beobachtung konkreter Alltagspraktiken, die primär der Befriedigung von Grundbedürfnissen dienen, aufschließt, ohne dabei so eine unangenehme survivalistische Feierlichkeit legitimieren zu wollen, die sich dann ja vermutlich auch formal anders artikulieren würde. Die Objektiven bevorzugen in der Regel ohnehin induktive Herangehensweisen: „Die Einstellungen verdanken sich dort nicht einem Genießen, auch nicht einem Wissen, das dem Bild vorausliegt – die Bewegung des Films ist vielmehr genau mit der Erschließung des Wissens identisch“ (ibid.). In SUD PRALAT ist dieses Wissen ein allegorisches (ein Tiger leuchtet), in LOS MUERTOS eine Frage des Überlebens (eine Ziege wird geschlachtet).

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Arnaud Desplechin: LEO – EN JOUANT « DANS LA COMPAGNIE DES HOMMES» (Frankreich 2003)

Das bedeutet andererseits aber nicht, dass ausagiertes Stilbewusstsein und offene Selbstreflexivität unbedingt subjektives Kino, falsches Genießen und defiziente Welterschließung anzeigen müssen. Diesen Eindruck hatte ich zumindest bei Arnaud Desplechins LEO – EN JOUANT „DANS LA COMPAGNIE DES HOMMES“, der (mindestens) drei Ebenen ohne Manier beständig ineinander schiebt: die erzählte Geschichte, die Dreh-Proben auf einem DOGVILLE-artigen Minimal-Set und Kommentare der Schauspieler zu Edward Bonds herrschaftskritischem Theaterstück, auf das der Film referiert. Dabei geschieht es mitunter, dass ein Gegenschuss aus der Proben-Ebene kommt, obwohl die Szene ansonsten in der ‚ersten’ Diegese spielt. Es geht Desplechin aber weniger um V-Effekt und Bewussthalten jener Prozesse, über die Figuren erarbeitet werden, sondern vor allem um die Macht- und Rollenspiele der erzählten Figuren. Diese sind einerseits verstrickt in undurchschaubare Waffenexport- und Übernahmegeschäfte, andererseits aber auch neurotisch fixiert auf familiäre Beziehungsmuster, die sich danach sehnen, genuin ödipal und tragisch zu sein. Die „new princes of global capitalism“ (Desplechin nach dem Film) tragen ihre Charaktermasken aber nicht nur als Arbeitskleidung – gerade wenn sie sich abseits der professionellen Räume der Hochfinanz bewegen und ein immer diffuser werdendes ‚Privates’ suchen, fehlt ihnen jene Rollenbegabung, die Fallhöhe im klassischen Sinn erst stiftet.

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John Ford: THE WINGS OF EAGLES (USA 1957)

Zu lernen war weiterhin, dass Genre-Hybride keine Erfindung der ‚Postklassik’ sind (ein Begriff, der ohnehin nie wirklich trennscharf operiert). John Fords THE WINGS OF EAGLES beginnt als turbulente Militärklamotte (John Wayne chargiert zeitweilig wie ein wegen zu exzessiver Albernheit verstoßenes Stooges-Mitglied), wechselt zweimal so unvermittelt wie beherzt ins Melo, täuscht kurz Screwball an, vereitelt die Remarriage dann aber schließlich via Kriegsfilmwerdung, wenn dem nur fast gezähmten Paar die Weltgeschichte – Pearl Harbor statt zweiter Honeymoon – in die Quere kommt. Zusammengehalten wird dieser großartige Irrsinn wie so oft vor allem durch den Körper von John Wayne, der zwischenzeitlich in einen Rollstuhl verbannt wird, nur um am Ende eine durch Autosuggestion bewirkte Genesung zu erleben, die mit der Auferstehung des US-Militärapparates nach der Pearl-Harbor-Paralyse ziemlich deutlich parallelisiert wird, was dann ja auch wieder eine objektive Qualität wäre.

– Simon Rothöhler –

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