Donnerstag, 28.10.2004

Viennale’04 (Teil 1)

Wien,
Montag bis Samstag,
18. bis 23.10.04

Am Montagnachmittag aus dem Fenster des EC in Tschechien Leute zu Fuß auf der Landstraße ihren Weg gehen gesehen; währenddessen ununterbrochenes tschechisches Rauchen in dafür vorgesehenen Raucherabteilen. Schließlich Wien Südbahnhof. Kopfbahnhof. Stadt der Ringe und Gürtel, wärmer als Berlin und beleuchteter.

Menzelgasse, mein Lager in Wien
– Im 16. Bezirk. Ottakring.
– Ach, neben der Brauerei.
– Ja. Und neben der Keksfabrik.
– Dort, wo der Hausfrauenstrich ist.
– Der Gürtel.
– Die Menge an Straßenbahnen.
– Suppe im Kent. Malt Whiskey im Rhiz.

Filmmuseum Urania Stadtkino Metro Gartenbaukino

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Apichatpong Weerasethakul: SUD PRALAT (Tropical Malady) (Thailand/F/D/I 2004)

SUD PRALAT ist der tollste Film, den ich während der Viennale gesehen habe in den 5 Tagen. SUD PRALAT leuchtet mysteriös.
Knörer hat, das sehe ich am Computer der Viennale-Pressestelle, auf Interviews mit Apichatpong Weerasethakul verlinkt.
Die muss ich noch lesen.

Es gibt am Anfang eine Geschichte von Soldaten im Dschungel. Sie gehen in Gräsern entlang eines Waldes, es scheint kein Kampf zu sein, aus dem sie kommen oder in den sie ziehen. Es ist eher ein Ausflug, der entspannte Teil eines Manöver oder Teil eines unaufgeregten Dienst. Die Soldaten machen Erinnerungsfotos mit Digitalkameras von sich und einem menschlichen Körper. Deutlich auf der Tonspur hört man die sirrenden Geräusche der digitalen Apparate. Den Körper erkennt man erst nach einer Zeit, die Kamera ist ein paar Meter von der Gruppe entfernt und die Gräser wachsen hoch und die Kamera erhebt sich nicht über die Gräser. Dass der Körper tot ist, erkennt man noch später, die Soldaten tragen die Leiche zu einem Haus auf dem Land. Die Szene ist fragmentarisch aufgebaut, durch Schnitte unterteilt, die das vorhergehende Positionsfinden der Kamera betonen, als dauere die Handlung länger als deren Abbildung. Keines der Bilder wirkt klassisch komponiert, weil die de-linearisierenden Jump-Cuts die unterschiedlichen Blickwinkel und Einstellungsgrößen hervorheben. Die Bilder sind nicht in einer klassischen Grammatik aneinander gelegt, Bewegungen gehen von einem Bild zum anderen ins Leere, nachfolgende und vorhergehende Kadrierungen verzahnen sich nicht zu einem laufenden Fluss mit eindeutiger Bewegungsrichtung. An dem Haus angekommen, verbringen die Soldaten dort die Nacht, Geschichten werden erzählt und einmal gibt es ein Bild von der Leiche, die nun nur noch als Schema und Kontur von der einsetzenden Dunkelheit zu unterscheiden ist. Später scheint der Film die Leiche vollkommen zu vergessen. Der Film scheint sich nicht an sie und die Soldaten zu erinnern. Es folgt nun die erste Hälfte des Films, eine fragmentarische Geschichte vom Leben in einer Stadt, irgendwann später.

Diese erste Hälfte des Film, nach dem Prolog mit den Soldaten, ist größtententeils städtisch und hell. Die zweite Hälfte des Film ist größtenteils dunkel.

Die zweite Hälfte des Films handelt im Dschungel. In hohem Gras, in tiefen Wäldern. In einer Nacht. Die Farben der zweiten Hälfte des Films wirken zunächst monochrom, nach einer Zeit erkennt man mehr als ineinander übergehende Schemen in ihnen. Es gibt ein sehr dunkles, fast schwarzes Nachtblau; ein sehr tiefes, sattes, blauschwarzes Grün; und es gibt ein mehrfach abgestuftes Schwarz. Es gibt die Farbe menschlicher Haut. Von den Farben unterscheidet sich die Kontur des Mannes. Der Mann ist einer der beiden Männer, von denen der erste Teil des Film handelte. Der Mann verfolgt die Transformation eines Tigers in einen Menschen, vielleicht aber auch die eines Menschen in einen Tiger. Zwischentitel mit Emblemen, die über den Bildern der Nacht zu lesen sind, erzählen die Geschichte eines bösen Geistes, der die Gestalt eines Tigers, aber auch die eines Menschen annimmt. Der Mann, dessen städtisches Leben in der ersten Hälfte des Film gezeigt wurde, steht in einem Verhältnis, das nicht eindeutig ist, zu der in den Zwischentiteln erzählten Geschichte des Geistes. Vielleicht spielt auch der andere Mann, dessen Verhältnis zu dem ersten erzählt wird, in diesem Teil des Film eine Rolle, aber man sieht ihn nicht. Es ist alles sehr unklar. Aber es wäre undeutlich, diesen Teil der Geschichte mit dem Ausdruck mise en abyme zu bezeichnen. Es ist anders, physischer. Ein Tiger steht in der Nacht auf einem starken Ast eines Baumes. Der Tiger spricht in die Gedanken des Mannes, aber man sieht nicht wie der Tiger spricht. Tiger können auch in diesem Film nicht sprechen. Man sieht zunächst in einer Totale die Form eines Baumes und erkennt nach einer Weile, dass ein Tiger auf einem Ast des Baumes steht. Man sieht dann den Tiger frontal in einer bildfüllenden Großaufnahme zu der Kamera blicken. Es ist beim Sehen eine ungeheure Neuigkeit in den Bildern des Tigers, nie zuvor habe ich Formen und Farben eines Tigers wie in diesem Film gesehen.

Das Ungeheure des ganzen Films rührt nicht von einem revoltierenden Schnitt und auch nicht von einer vollkommen neuen Art, Bilder zu machen oder auszustellen; und auch rührt das Ungeheure des Films nicht von der Geste, vollkommen neue Bilder machen zu wollen oder der Ausstellung dieser Geste, wie es westlich geprägten Avantgardebehauptungen zu eigen wäre. Es geht dem Film nicht um Setzungen solcher Art. Der erste Teil des Films nach dem Prolog ist in einer tatsächlichen und auch als Westeuropäer nachvollziehbaren städtischen Welt angesiedelt. Die Bilder des ersten Teils erzählen mit geraumer Distanz von üblichem Leben und einer latent homosexuell geprägten Annäherung zweier Männer. Der Schnitt betont das Episodische, Alltägliche, in der Realität verankerte dieser Bilder und Geschichte. Die Bilder und ihre Montage sind geprägt von einem ausgeglichenem Verhältnis zwischen dokumentierter Wirklichkeit und aus ihr geschälter fiktionaler Erfindung. Erst nach und nach schält sich das Interesse des Films an der Beziehung der beiden Männer heraus, erst nach und nach spürt man in den Bilder bisher Unangesprochenes. Das unausgesprochene Latente der Beziehung verlangt nach Erklärungen, zumindest nach einem neuen Focus, und wie auch immer man es anstellte: nun müßte Dramaturgie das Kommando übernehmen.

An dieser Stelle setzt der zweite Teil des Films nach einer kurzen Konjunktion ein. Der zweite Teil des Films setzt an einer Stelle ein, an der die Beziehung der beiden Männer zu einer so spannenden und die Erzählung prägenden werden würde, dass die Weiterverfolgung des bisherigen elliptischen Erzählverfahren zwar möglich, aber wie eine erzähltechnische Veranstaltung von provokativer Vorenthaltung daherkommen würde. Die Konjunktion vom ersten zum zweiten Teil verhält sich wie der Prolog mit den Soldaten im Dschungel zum ersten Teil: sie scheint keine Beziehung zu besitzen zum Nachfolgenden. Was sie leistet: sie bildet einen vorläufigen und akzeptablen Schluß des ersten Teils, das Ende des Elliptischen. Sie bildet dem zweiten Teil eine Basis.

Dieser zweite Teil des Films im Dschungel ist ganz ungeheuer. Man muss sich das anschauen. Er ist zu weiten Teilen im Schuß/Gegenschuß-Verfahren erzählt, die Einstellungsgrößen sind Totalen, Halbtotalen, Halbnahe und Nahe, ganz selten Close-Ups. Die Kamera wackelt nicht, selten wird geschwenkt und nie die Schärfe verlagert. Man sieht den Mann, wie er sich vorsichtig und so leise wie möglich im Dschungel bewegt und man sieht diesen Dschungel in der Nacht. Man müßte über die Töne dieses zweiten Teil des Films schreiben. Gegen Ende des zweiten Teil des Films gibt es ein Bild von einem alleinstehenden Baum am Rand des Dschungels. Die Äste des Baumes leuchten flimmernd. Das kommt von den Glühwürmchen in den Ästen des Baumes in der Nacht. Man kann, wenn man möchte, das Leuchten des Baumes auf den Film beziehen.
(Dienstag, 19.10.2004, 21:00, Urania)

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Ross McElwee: BRIGHT LEAVES (USA 2003)

Der Film ist da und gerechtfertigt durch die Behauptung, eine Recherche zu sein und das Bedürfnis zu befriedigen, ihm eine „transfusion of southerness“ zu verpassen. Er muss deswegen zurück nach North Carolina. So Ross McElwee zu Beginn im Tabakfeld, ein Pflanzenblatt in der Hand haltend. Do not mistake that for a madeleine, das Tabakblatt ist mehr als nur der Impuls des Films. Ross McElwee bewegt sich physisch entlang einer Geschichte der Kultur des Tabak (und der der Medizin, die die körperlichen Folgen des Tabakkonsum behandelt) in die Südstaaten. Buch: Ross McElwee. Kamera: Ross McElwee. Ton: Ross McElwee. Schnitt: Ross McElwee. In SHERMAN’S MARCH, dem Film, der mit Ross McElwee als Protagonist und Autor die Wanderung des Südstaatengeneral als tragikomische Metapher von Südstaaten Exzentrik nachvollzog, sah man noch die bizarre Konstruktion, die McElwee sich dafür gebastelt hatte, der Filmemacher als One-Man-Band und Junggesellenmaschine. Hinzu kommt seither dieser verquere und Melancholie nur als Behauptung und Rutsche für Stimmungen stehen lassende Humor, der diese anachronistische Autarkiebehauptung gegen Einwände schützt: ganz sacht ist der und besorgt darum, nicht mißverstanden zu werden. Am zu erzählenden kapitalistischen Widerspruch ausgerichtet, dass der Tabak (die bright leaves, die den milden Geschmack der Zigaretten ergeben), der die Menschen abhängig macht und durch Krankheiten zerstört, zugleich solch eine reiche Kultur erzeugt hat. McElwees Methode: Sich permanent, nachdem ein Teil der Geschichte erzählt zu sein scheint, ins Wort zu fallen, um den Rest der Geschichte vom Stottern abzuhalten; jedes einfallende große Aber als kleines und dann zu erzählen.
Die Verzweigungen der Situation „ich“ als Erzählverfahren, ein andauerndes Weitermachen – Suchen, Finden, Abstoßen, Integrieren, und vor allen Dingen: Weitermachen. Mäandern, als sei es die natürlichste aller Ausdrucksformen, zu Bildern des Heranwachsens seines Sohn, Super-8 und Videoaufnahmen von vergangenen Familienfeiern, die Filmsammlung des Cousin, Gary Cooper als Tabakbaron in Michael Curtizs Bright Leaf (USA 1950), das spezielle Idiom einer Tabakauktion, die neoklassizistischen Anwesen der Tabakbarone, der McElwee Park, Duke University, eine bizarre Unterhaltung mit einem grotesken Filmtheoretiker, das Tabakmuseum, die automatische Zigarettenstopfmaschine, die Behandlung Krebskranker, ein Blick in die reflektierende Scheibe eines Schaufensters, das Grab des Urgroßvater, eine Familiengeschichte im Konjunktiv, „making special effects without having a special effects department“, die verhinderte Rauchentwöhnung eines befreundeten Paars und ein Hund, der das Selbstporträt des Autors als Versonnenen verhindert, indem er bellend und beißend hineinprescht in das absichtsvoll leergehaltene Bild durch das McElwee, der die Kamera auf ein Stativ gestellt hatte, wandeln wollte.
(Dienstag, 19.10.2004, 13:30, Urania)

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Tabak Austria. Keine Camel ohne in ganz Wien, keine Pall Mall, keine Luckies. Verboten!
-Warum, seit wann?
-Weiß nicht, seit zwei Jahren vielleicht.

„kannst du mir eine stange camel ohne filter mitbringen? es gibt sie nicht zu kaufen in wien. dir ewig dankbar wäre ich, michael“

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McElwee sich vorzustellen als kinematographischen Kaminfeuer-Erzähler, den Onkel, den zu besuchen man sich freut, den verlassen zu können man aber eben so froh ist. Das Erdrückende dieser allumfassenden Freundlichkeit, mit der zu allem und jedem Belangvolles gesagt wird, die „alte Humanität“. Wie er, als sei es noch natürlich, immer von sich auszugehen scheint, als vielfach bedingter Sprecher allerdings, geformt von einer mit jeder neuen Artikulation sich verfeinernden Wahrnehmung, die historischen mit Möglichkeitssinn koppelt. Dessen pathetisches Projekt: die Tradierung von Artikulation. Sich vorzustellen das Treffen Kluge/McElwee – deren spezieller Konservatismus (Leni Peickert als Geschichtslehrerin auf der Suche nach neuen Perspektiven auf das mangelhafte Ausgangsmaterial „Geschichte“).

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MANCHURIAN CANIDATE (USA 1962) von John Frankenheimer

Wenn du denkst, es reicht dem Film nun dessen Zustopfen und Anstauen von Zeichen unausweichlicher Stasis, und dass er jetzt irgendwann für das Fließen der continuity sich entscheiden müsse, legt er noch einen layer of anxiety drängend hinzu. Zieht die Schrauben fester. Kaum eine Bewegung als Bewegungsbild zu sehen, alles ist in Tiefenschärfebildern und diese durchkreuzende Diagonalen inszeniert. Montage von Schwarz und Grau. Keine Öffnung, den Determinanten zu entkommen, seien es innere (Mütter, Frauen) oder äußere (Kommunisten). Pynchons Methode („V“ wird 1961 veröffentlicht) minus Humor. Das Delirierende der Konspiration, der amerikanischste aller Erzählzugänge.

Das finale Hitchcockarrangement aus THE MAN WHO KNEW TOO MUCH: die öffentliche Veranstaltung und deren Score, die Übersetung der heruntertickenden Uhr in eine musikalische Partitur und ein ohnmächtig Einzelner, der um das Bevorstehende weiß. Bei Hitchcock war diese Parallelmontagendemonstration noch ganz der Suspense gewidmet, die Zeichen suchten den Widerhall in einer Grammatik der Musik.
Frankenheimers Aufnahme dieses Verfahrens am Schluß von MANCHURIAN CANDIDATE: eine Wahlkampfveranstaltung, bei der der Killer den Präsidentschaftkandidaten erschießen soll, damit dessen Stellvertreter den Erschossenen in seinen Händen hält für ein wirkungsträchtiges Bild. Die Figuren dabei sind stärker an politisch-psychologische und mediale Ideologien gebunden als bei Hitchcock.
Ein Dispositiv, das 10 Jahre später Pakulas THE PARALLAX VIEW wieder aufnimmt, es von von hot in cool übersetzend. Und de Palma danach in den 80ern und 90ern in fast allen seinen Filmen barock (SNAKE EYES).
Bringen amerikanische Filme dieses Dispositiv alle 10 Jahre neu zur Aufführung, darf man gespannt sein auf Jonathan Demmes Neufassung von THE MANCHURIAN CANDIDATE, die im November in den deutschen Kinos läuft. Auf was die Betonung da gelegt wird?
(Samstag, 23.10.2004, 13:00, Gartenbaukino)

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dass filme meist zur falschen zeit einem begegnen, was die unwahrscheinlichkeit gelungener mitteilung erhöht.
potenziert sich dies auf filmfestivals?
oder begünstigen die als ausnahmesituation, weit weg von unbezahlten rechnungen, pfandflaschen wegbringen und klo saubermachen, das gelingen der mitteilung?
das demokratische von großem nebeneinander und gleichzeitigkeit eines festival gegenüberzustellen dem aufwändig-rituellen des normalen kinobesuch (einen film auswählen; sich verabreden; sich zurechtmachen; die nachtbusverbindungen auschecken; die stundenlange werbung; das popcorn-publikum; die angst vor dem nachfolgenden gespräch; die erwartungen antizipieren des begleiters, den man zum kinogehen überredete, und die eigenen mit dem gesehenen und dem anderen in ein verhältnis rücken; die rückkehr in die übliche welt).
was ist gelungene mitteilung?

(wird fortgesetzt)

– Michael Baute –

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