September 2005

Dienstag, 27.09.2005

Drehkolbendichtleiste?

„Standards of living / They´re rising daily
But home oh sweet home / It´s only a saying

But what goes on / What to do there“

Bryan Ferry, In Every Dream Home a Heartache


„Du bist von allem ein Teil“ (Der Mongoloid im Stelenfeld)

Presseinformation
Regisseurin des Spots der Kampagne „Du bist Deutschland“ („Sozialmarketingkampagne“, Pro bono, 30 Mio Euro)

Dr. Clarissa Ruge

Geboren 1969. 1992-98 Studium der Politischen Wissenschaften, Philosophie und Kommunikationswissenschaften, parallel Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule München. Von 1995 bis 1999 freie Journalistin u. a. für Tagesspiegel, Süddeutsche Zeitung, Berliner Zeitung, Die Woche. Ab 1998 mehrere TV-Dokumentationen. 2002-2004: Promotion zum Thema „Moderne Vergangenheitsbewältigung totalitärer Systeme“. Seit 2004 Lehrbeauftragte an der Ludwig-Maximilians-Universität, München.

Filme (Auswahl)
1998 Die Farbe der Wahrheit
1999 Vergewaltigt, Verschleppt, Verschwunden
2001 A Woman and a Half – Hildegard Knef
2005 Hemingway-Exit (Arbeitstitel)

Preise
1999 Axel Springer Preis für Junge Journalisten – Preis für herausragende Leistungen
2000 1. Platz „Profi“ – Deutscher Menschenrechtspreis
2002 Bundesfilmpreis (Nominierung)

Freitag, 23.09.2005

New Serienkritik

Pampering life, life–our patient.

arte-Themenabend Das Gesetz der Serie:

In den letzten Jahren ist die Fangemeinde hochwertig produzierter amerikanischer Fernsehserien wie „Six Feet Under“ oder „24“ weltweit stetig gewachsen. Es scheint, als habe die Fernsehserie dem Spielfilm den Rang abgelaufen. Die Dokumentation wirft einen Blick hinter die Kulissen.

Eine Reihe hochwertiger Fernsehserien findet in den letzten Jahren großen Anklang beim Publikum. Auf der ganzen Welt ziehen ihre Geschichten die Zuschauer in den Bann, begleiten sie im Alltag und beeinflussen ihre Vorstellung von Liebe, Sex und Politik. Nie zuvor waren TV-Dramen und -Komödien so ausgefeilt wie heute. Mit den Kitschserien, die früher ein Auffangbecken für die Versager der Filmindustrie waren, haben sie nichts mehr zu tun.

Die Dokumentation gibt aufschlussreiche Einblicke in die Welt des amerikanischen Hochglanz-Fernsehens und macht mit einigen der imponierendsten Figuren bekannt, die für solch innovative Serien wie „Friends“, „24“, „Die Sopranos“, „Six feet under“, „Alias“, „Sex and the city“, „The Shield“ und „Lost“ verantwortlich zeichnen.

Olivier Joyard und Loïc Prigent werfen einen Blick auf einen noch wenig bekannten Aspekt von Hollywood und decken die komplizierten Mechanismen auf, aus denen diese überaus populären, weil nur allzu menschlichen Fiktionen entstehen. Wie gelingt es, ein TV-Projekt in der Branche durchzuboxen? Warum spiegelt das Fernsehen das Leben der Menschen von heute besser als jedes andere Medium wider? Die Beantwortung dieser Fragen trägt zum besseren Verständnis der Hintergründe eines Machtwechsels bei, der den wichtigsten Industriezweig von Los Angeles völlig auf den Kopf stellt.

Serienschmiede – Hollywood, arte, 22.10h
Dokumentation, Frankreich 2005,
Stereo, 54 Min.
Synchronfassung, Erstausstrahlung
Regie: Loïc Prigent

Mittwoch, 14.09.2005

Rund ums Fernsehen, München, Kojak, Danger Freaks

Im benachbarten Siedlungshäuschen ohne Villenanspruch lebt Claus. Er ist Einzelkind. Seine Eltern sind großzügig. Er hat einen Cassettenrekorder, mit dem er den Ton von Fernsehsendungen aufzeichnet. Während wir an der Marionettenbühne im ausgebauten Speicher basteln, läuft zur Unterhaltung Fantomas oder Kojak. Dialoge, Musik, Geräusche rekonstruieren die Plots. Als uns die Marionetten zu läppisch werden, drehen wir die Filme zum Tonfall auf Super 8, Geldfälscher, Überfälle, Raub in Anzügen und mit Hüten von Claus‘ Vater, Sonnenbrille und halt der Lolly. Claus ist Tonmeister im Musikbusiness geworden.
Ein halbes Jahr nach Markteinführung hat Claus einen Videorekorder. Er zeichnet Actionfilme auf, vor allem aber die Serien über die Herstellung von Actionfilmen, über Stuntmen und Pyrotechnik: Danger Freaks, Verrückt nach Gefahr und Colt Seavers, Ein Colt für alle Fälle.
Wir gucken die Szenen im Einzelbildmodus an, studieren Handwerkszeug und Abläufe, nähen Feurschutzanzüge, Sprungkissen und bauen Sprengsätze aus Wasserrohren und Unkraut-Ex, ermitteln anhand der Zähflüssigkeit und Farbe die Rezeptur für ein Wassergel aus Tapetenkleister. Im Garten setze ich Claus in Brand und lösche ihn unter den Apfelbäumen, reiße ihn vom Fahrrad und schleudere ihn in den Jägerzaun des elterlichen Anwesens, bin verantwortlich für die koordinierte Zündung der Minen im Panzertestgelände, zwischen denen im Morgengrauen er grundlos flüchtend den Vorbildern nacheifert und seine Bewährung sucht, bevor Krauss-Maffei anrückt. Seine Mutter zwingt er, ihn mit dem 5er-BMW anzufahren, so daß er sich über die Motorhaube hechten kann. Wir filmen das alles mit Super 8. Unsere Ungeduld, bis endlich die Rücksendungen von Kodak Stuttgart eintreffen.

Sonntag, 11.09.2005

Die sekundäre Metafilm-Erfahrung

Heutzutage gibt es in allen Haushalten Videorekorder, und manche jungen Leute sehen sich einen Film zehn- oder zwanzigmal an. Aber rezipiert man einen Film richtig, wenn man ihn sich immer wieder auf Video ansieht, und das auch noch in Privaträumen? …
Ich bin über lange Zeit in Kinos gepilgert, in denen die so genannten Klassiker gespielt wurden, und habe mir eine beträchtliche Anzahl von Filmen angeschaut. Filme wie Hitchcocks Eine Dame verschwindet, den wir zusammen in einem Pariser Vorstadtkino gesehen haben. Die jungen Cineasten heute sehen sich einen Film auf Video wieder und wieder an und können lauter Tiefsinniges zu den Details einer Szene sagen. Aber ich für mein Teil habe solchen Diskussionen nie etwas Produktives abgewinnen können.
Wenn man bestimmte Szenen eines Films in kurzer Zeit mehrmals sieht, kann sich jeder, und mag er noch so mittelmäßig sein, ihre Komplexität vor Augen führen. Man kann nicht nur den Protagonisten in der Bildmitte, sondern auch die Bewegungen der Personen in dessen Hintergrund wiedergeben. Absolut lächerlich. …
Ist das die angemessene Art, Filme zu sehen? Erfährt man so jeden Moment eines knapp zweistündigen Films? Gelangt man wirklich zu einer profunderen Rezeption, indem man das, was man beim ersten Betrachten nicht richtig gesehen hat, nachträglich in einem weiteren Durchgang erfasst? Sieht man ab dem zweiten Mal nicht gleichsam den Metafilm des Films, den man beim ersten Mal gesehen hat? Ist es nicht eine ganz andere Art der emotionalen Erfahrung als die, wenn man durch einen neuen Film berührt wird? Die sekundäre Metafilm-Erfahrung also…
Deswegen möchte ich einen Film machen, den man sich nicht mehrmals angucken muss. Ich möchte einen Film machen, in dem man mit wachen Augen alles beim ersten Mal erfasst. Ich greife dabei aber nicht auf solch spießige Mittel wie ständige Close-ups zurück, mit denen man dem Betrachter vorschreibt, was er zu sehen hat. Das Prinzip ist, im Bild die Szene als Ganzes wiederzugeben. Und all denen, die den Film anschauen, Zeit zu lassen, damit sie die Szene in all ihren Details erfassen können. Bisher habe ich der Öffentlichkeit allerdings noch nichts in dieser Art präsentiert. Bisher waren meine Filme Einzelteile. Und weil die, die meinen schließlich realisierten ganzen Film sehen, diesen von selbst ganzheitlich sehen werden, müssen sie ihn auch nicht noch einmal sehen. Doch diese ganzheitliche Erfahrung wird ihre Sicht auf die Welt verändern…

S. 153-154 aus dem gerade erschienenen Roman „Tagame. Berlin – Tokyo“ von Ôe Kenzaburo, in dem er sich mit seiner langjährigen Freundschaft mit Itami Juzo (der auch der Bruder seiner Frau war) beschäftigt, dessen Alter Ego Gorô dies sagt.

Donnerstag, 08.09.2005

Kino-Hinweis

Wer Thom Andersens Montage „Los Angeles Plays itself“ noch nicht kennt, kann den Film morgen um 19.00 Uhr im Kino sehen. Danach unterhält sich Nils Plath mit Norman Klein über den Film, Los Angeles und Kalifornien. Die Filmreihe ist Teil des Internationalen Literaturfestivals, Schwerpunkt Kalifornien.

Neben Andersens Film laufen in der in der kommenden Woche „Criminals“ (USA 1996, Regie: Joesph Strick, Gespräch mit C.K.Williams, Do, 8.9., 22.30h), „Affliction“ (USA 1997, OmU, Regie: Paul Schrader, Gespräch mit Russell Banks, Fr, 9.9., 22.00h), „Double Indemnity“ (USA 1944, OF, Regie: Billy Wilder, anwesend Kevin Starr, So, 11.9., 22.30h), „El Valley Centro“ (USA 2000, OF, Regie: James Benning, Gespräch mit David Mas Masumoto, Di, 13.9., 22h, „Was vom Tage übrig blieb“ (USA/UK 1993, dtF., Regie: James Ivory, Gespräch mit Kazuo Ishiguro, Mi, 14.9. 19.00h).

Alle Filme im Filmkunst 66, Bleibtreustrasse 12.

Dienstag, 06.09.2005

Langtext-Hinweis

Im August wurde im Fernsehen „Remorques“ von Jean Grémillon gezeigt; ein Anlass, in den beiden Filmkritik-Heften zu lesen, die Peter Nau geschrieben und zusammengestellt hat. Am Ende des ersten Hefts, Juni 1982, heißt es über Grémillons frühe Filme: „Was diejenigen der Filme betrifft, die am Anfang dieses Textes, auf den Spuren von Jean Grémillon, keine Erwähnung gefunden haben, so ging es in ihnen, die entstanden sind zwischen 1923 und 1926, um folgendes: den Straßenbelag; die Fabrikation des Fadens; vom Faden zur Nadel; die Herstellung des künstlichen Zements; das Bier; das Kugellager; die Parfüms; das Ausziehen der Glühbirnen; die Ausbildung von Straßenbahnfahrern; die Elektrifizierung der Strecke Paris-Vierzon; die Geburt der Störche; die Stahlhütten der Marine und von Homecourt; eine Seereise über den Atlantik.“ Im zweiten Heft, April 1983, ist ein Text aus Grémillons Nachlass abgedruckt, den man jetzt – ein Dank dafür an Peter Nau – auf unserer Langtextseite lesen kann.

Sonntag, 04.09.2005

Rund ums Fernsehen, München, SciFi

Zur Villa umgebautes Siedlungshäuschen. Im Einbauregal des 70qm-Wohnzimmers ist für den Fernseher ein Klapptürabteil vorgesehen, fast das Doppelte der Bildschirmdiagonale unseres mitgebrachten Kastens. Mein Vater geht jeden Abend stumm rauchend auf und ab. Samstags nach dem Bade hole ich in beiderseitigem Interesse das portable Gerät in mein Zimmer. Ich beginne sauber und schrumpelhäutig z.B. mit Spiel ohne Grenzen. Die Science-Fiction-Film Reihe, die zwei ganze Jahre jeweils nach dem Wort zum Sonntag läuft, bringt mich ins Schwitzen, denn die Bettdecke brauche ich zum Schutz gegen Bodysnatcher und Riesenameisen. Das Testbild nach Sendeschluß ist unerbittlich, der Pegelton heult vor sich hin. Die besten Nächte sind jene mit Rock aus der Grugahalle. Die Musik von Patty Smith oder John Lee Hooker ist im Jetzt.

Freitag, 02.09.2005

FRAME BY FRAME

What shape might film theory take in a post-film world? How might new interfaces – such as the web and more specifically the blog – make possible new structures and discourses of criticism? Whereas a paper book containing a frame-by frame analysis of a two-hour feature film is a practical impossibility, a web site devoted to such a project is unlikely, but possible.

[FRAME 1]

Parameters and Constraints

1. Blue Velvet is approximately two hours long.

2. The analysis is to be conducted frame-by-frame, which is to say: frame step-by-frame step on an Apple PowerBook G4, which turns out to be approximately 24 „frames“ per second.

3. In Blue Velvet there are approximately 172,800 frames, at approximately 24 frames per second. (Everything here – all the calculations – are approximate. I use the word „frame“ here in a sort of metaphorical way. Many thanks to Stuart Willis and Will Luers for input regarding DVD frame rate.)

4. A frame-by-frame analysis of Blue Velvet would take 473 years assuming one frame is presented per day.

5. I hope to offer 2 or 3 frames per week.

6. Annotations are to be no longer than 5 sentences per frame. Sometimes there will be no annotations at all–just the frame.

[Dank an Klaus Volkmer für den Hinweis.]

Substitute for love

„No laughter in the dark . . .“
Madonna, Substitute for Love

Im unten verlinkten Text im Freitag schreibt Matthias Dell: „Es ist ein Irrtum, Filme auf ihre Handlung reduzieren zu wollen, auf ihren Inhalt, ihre Geschichte. Jean-Luc Godard hat einmal über Hitchcocks Filme gesagt, dass man sich an bestimmte Gegenstände erinnern könne, die gelbe Tasche von Marnie etwa, während man vergessen habe, worum es in den Filmen eigentlich gegangen sei.“
Und welcher Gegenstand käme etwa für Marseille in Frage? In der Einstellung (Szene?), die auf die, zumindest bei tiefnächtlicher arte-Rezeption, quälende (aber, „bitte!“, gewiß begründete, motivierte) Strindbergproben-Sequenz folgt, spielt neben dem Rücken der Protagonistin ein teilweise durchsichtiger, teilweise semi-transparenter Wasserball eine wesentliche Rolle. Er wird im sog. Hintergrund von Kindern im Schwimmbecken hin und her geworfen, durchs Bild, und klatscht ab und zu aufs Wasser. Der Ball mag den einen oder anderen Betrachter, quasi proleptisch, an einen anderen Strand (Adria, nicht Provence) erinnern, an eine Stelle (Einstellung? Szene?) in Modiano’s Eine Jugend, nein: in Nabokov’s Gelächter im Dunkeln: „Sie fing an, sich abends zu langweilen; es verlangte sie nach Kinofilmen, schicken Restaurants und negroider Musik. […] Fröhliche Sonnenschirme und gestreifte Zelte schienen in der Sprache der Farben zu wiederholen, was die Rufe der Badenden für das Ohr waren. Ein großer bunter Ball wurde von irgendwoher geworfen und prallte mit einem dumpfen Ton auf den Sand. […] Schlank, sonnverbrannt, mit ihrem dunklen Wuschelkopf und den einen Arm mit dem Glanz eines Armbands noch immer vom Wurf ausgestreckt, erschien sie ihm wie eine köstlich kolorierte Vignette über dem ersten Kapitel seines neuen Lebens.“


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