Dezember 2005

Donnerstag, 29.12.2005

2005 – 25 Filme, 1 Serie (Kino, DVD, TV)

In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod (Kluge) # Red Eye (Craven) # Crimson Gold (Panahi) # Oh Fantasma (Rodrigues) # L’Intrus (Denis) # Le Cochon, La Rosière de Pessac (68/79), Mes petites amoureuses (Eustache) # Barluschke (Heise) # Panic in the Streets, Wild River (Kazan) # The 40 Year Old Virgin (Apatow) # Montag kommen die Fenster (Köhler) # Assassination Tango (Duvall) # Prima della rivoluzione (Bertolucci) # Les Amants réguliers (Garrel) # Meat (Wiseman) # Napoleon Dynamite (Hess) # Les Yeux sans Visage (Franju) # Force of Evil (Polonsky) # War of the Worlds (Spielberg) # Fingers (Toback) # De battre mon coeur s’est arrêté (Audiard) # The Wedding Crashers (Dobkin) # West Wing – The Bartlet Years (Sorkin)

2005 – 23 Filme (Kino, Galerie, DVD, Fernsehen)

Thom Andersen: Los Angeles Plays Itself (USA 2003) # Judd Apatow: The 40 Year Old Virgin (USA 2005) # Alain Bergala: Le cinéma – Une histoire des plans (F 1996) # Busby Berkeley: Dames (USA 1934) # Bruce Baillie: Mass for the Dakota Sioux (USA 1964) # Lucile Chauffour: Violent Days (F 2003) # Claire Denis: L’Intrus (F 2004) # Raymond Depardon: Profils Paysans – Le quotidien (F 2004) # Harun Farocki: Aufstellung (D 2005) # Anna Faroqhi: Das Haus und die Wüste (D 2005) # Stefan Hayn und Anja Christin Remmert: Malerei Heute (D 1998-2005) # Jared Hess: Napoleon Dynamite (USA 2004) # Hong Sangsoo: Keuk jang jeon (Tales of Cinema; Südkorea/F 2005) # Hong Sangsoo: Kangwondo El Him (The Power of Kangwon Province; Südkorea 1998) # Kwon-Taek: Chukje (Südkorea 1996) # Klaus Lemke: Träum weiter, Julia (D 2005) # Liu Jiayin: Niu Pi (Oxhide; China 2005) # Pier Paolo Pasolini: Appunti per una orestiade africana (Notizen für eine afrikanische Orestie; Italien 1969) # Hugo Santiago: Invasión (Argentinien 1969) # Volker Schreiner: Counter (BRD 2004) # Andy Warhol: Screen Tests (USA 1963-66) # Klaus Wyborny: Sulla (BRD 2002) # Yi Yi-Fan: Yan Mo (Before the Flood; China 2004)

Sonntag, 25.12.2005

Was nach Deleuze kommt. Was die Kunst vom Film will, aber trotz Godard nicht bekommt.

„[…] Hitchcockian practice seems capable of epitomising at once the lost power of cinema now lying in its grave (Godard’s thesis) and the power of an old cinema that for decades has been substituted for a new one (Deleuze). How can Hitchcock’s cinematographic practice sustain both statements, and what is the relation of that practice to an essence of the cinematographic image?

[…]

a cinematographic image is actually a complex thing, a combination of several functions: the image connects and disconnects. It implements a representational function by subjecting the visual elements to the logic of a narrative or symbolic plot, and it engenders an aesthetic logic of suspension and infinitisation. In Deleuzian terms I would say that each image functions both as movement-image and time-image. Every film is composed not of images but image-functions that both supplement and contradict each other. This is true in the case of Hitchcock’s classicism as it is in that of Rossellini’s modernism. There is no shift from an ancien régime of cinema to a modern age. There a simply different ways of putting more or less into play the tension between different image-functions.

[…]

Godard may well have thought of himself as the last of the Mohicans mourning the death of cinema and predicting the reign of darkness. Paradoxically, he might have foreshadowed something quite different: a new trend of symbolist art […].“

Jacques Rancière: „Godard, Hitchcock, and the Cinematographic Image“. In: Michael Temple (Hg.): Forever Godard. London 2004, S. 214, 227, 231.

Samstag, 24.12.2005

„John, that’s the richest gift a body could have. – You’ll find your presents in the cupboard under the china-closet.“

Dienstag, 13.12.2005

Herbst 1997

Ich erinnere mich an einen Besuch in der Mediathèque de Paris.

Ich erinnere mich an die großen Ledersessel vor den Bildschirmterminals.

Ich erinnere mich an die Lautsprecher, die statt Kopfhörern links und rechts neben dem Ohr angebracht waren.

Ich erinnere mich an den abgedunkelten Raum.

Ich erinnere mich an das Murmeln.

Ich erinnere mich, dass die Tastatur nach dem Alphabet organisiert war und nicht nach der geläufigen Anordnung der Buchstaben.

Ich erinnere mich, wie lange ich brauchte, um eine kurze Anfrage einzutippen.

Ich erinnere mich an die Roboter, die hinter den Glasscheiben die Videokassetten aus dem Archiv holten und in die Videorecorder schoben.

Ich erinnere mich, dass ich mir einen Film von Chris Marker über die Gewerkschaften im Jahr 2084 auf den Monitor bestellte.

Ich erinnere mich, dass ich mich vor Jacques Lacan erschreckt habe, bevor sich der Schreck in ein ungläubiges Lachen auflöste.

Ich erinnere mich, wie Lacan wirren Blicks „La mort“ ausruft.

Ich erinnere mich, wie er leise „Elle est toujours là“ hinterherflüstert.

Ich erinnere mich, dass der Lacan-Film von Benoît Jacquot war.

***

Das Ubuweb ist seit einer Weile wieder da. Neben dem Lacan-Film sind dort u.a. Filme von Beckett, Debord, Ivens, Landow, Mühl, Pelechian, Jack Smith, Smithson, Vertov und Vienet zu finden.

Samstag, 10.12.2005

Dar-denned

wie leicht man selbst dem stumpfsinnigen Reflex erliegt, seine Erwartungen
ans Kino nach Oberflächenreizen auszurichten

M. Althen über „L’Enfant“, FAZ vom 17.11.2005

Der, der diese Bemerkungen schreibt, (ich) hat gerade frische Kleidung angezogen. Mercerisiert-baumwollene Unterwäsche, frischgewaschene Jeans, frische Socken, gelüfteter Wollpullover, seit mehreren Tagen ungetragen. Ich bin barhäuptig. Es ist also davon auszugehen, daß sich kein Schmutz in den Fasern meiner Kleidung versteckt. Ich bin zuhause. Die DSL-Leitung gestattet mir jederzeit den Blick in jenen Raum mit den schmalen Fenstern weit oben, in dem David Lynch seinen „Daily Report“ aufzeichnet. Caché.

Diese Umstände erläutern meinen Blick auf „L’Enfant“. In dem Film geht es um Verstecke. Verstecke sind Räume einer bestimmten Abgeschlossenheit. Sind Verstecke geheim? Nicht unbedingt (im übrigen ist längst bekannt, daß offene Geheimnisse am besten versteckt sind). Verstecke können auch bekannt und akzeptiert, gleichwohl unangetastet sein. Sie sind Zonen, deren Zugang geregelt ist, aber nicht ausschließlich der Abwehr einer interessierten Intentionalität dienen. Verstecke leisten Kompartimentierung. Räumlich, physisch, sozial, logisch.

Spoiler (2. Grades: ich verrate noch nichts, aber ich verrate, daß noch was ganz Anderes kommt): es geht gar nicht um die folgende Liste der Verstecke in „L’Enfant“ — ich will eigentlich nur über (Sie kennen sie jetzt aber noch nicht) die Pointe am Schluss (dieser Bemerkungen, nicht des Films) reden. Ich verrate also: nicht Tränen — Blumen!

Das „offizielle“ Versteck (der Karton). Die offene Strasse, das Gehen, Wandern, Schieben unter freiem Himmel. Das Gehen und Stehen im Regen.
Der Bauch, in dem das Kind gerade noch war; die nicht sichtbare Hand auf dem Bauch. Der, die Kinderwagen (sein unsichtbarer Innenraum). Der Baby-Overall (Anonymitäts-Dispositiv: die vielen Baby-Darsteller im Abspann).

Kleidung: der Hut, der verlorene Hut, der Regen. Der Minirock, genuines Dispositiv des Versteckens (bar/bedeckt), die Jacke(n), die nassen Socken, die ausgezogen werden (die nackten Füße), die Kleidung, die im Asyl nicht ausgezogen wird; das Baby, dem nie die Windel gewechselt werden, und das nur ‚zuhause‘ nur teilweise ausgezogen wird.

Die Taschen der Kleidung: in denen alles mögliche steckt: die Beute, das bare Geld (kein Portemonnaie), das Handy, die Zigaretten (kein Alkohol); die gefilzt werden; (hat die Gefängniskleidung Taschen?).

Die Taschen der Beute: die Kiste mit dem Testament (der versteckte Wille), mit Schloss (schlecht geschlossen), mit Draht (sehr schlecht geschlossen); die Tragetasche der Frau, der Geldbeutel.

Wohnungen mit Türen: die Wohnung des Paars, der Mutter, das Asyl (die Gegensprechanlage, die Gegensprechanlage am Mulholland Drive).

Übergabeorte: die Wohnung (die Zimmer mit Türen, die verschlossenen Aufzüge), die Garage (doppelt, mit Rolltür, mit Innenwand, mit Loch).

Die Schwellen (die Zugänge zum Versteck): die Autostrasse, die Böschung, das Einsteigen in den Bus (Hilfe auf der Schwelle), das Dach des Cabriolets, die Schlange am Amt (die versteckte Hilfe), die Telefonistin, die die Nummer der Mutter nicht vermittelt, der Zaun, wo er auf den Motorroller-Knirps wartet.

Die Deckung: vor den Verfolgern hinter dem Stahlzeug, im Wasser, in der Ufer-Baracke.

Die Orte: das Asyl, das Krankenhaus: der Zugang zur Station, die Vorhänge ums Bett (das verbotene Handy); die Polizeistation (Aufzug, Zugangsregelung am Counter), das Gefängnis.

Das Handy: der Bote, Vermittler entlang der Grenze offen (das dauernde Klingeln)/verdeckt (die anonyme SIM-Karte): die Übergabe des Handys durchs Loch in der Wand, die kurzen Gespräche der Versteckten, ohne Spuren (das Aufheben der alten Telefonkarte) — aber es braucht Strom.

Des weiteren: das Aufreissen des Nahrungsbeutels, das nackte Kaffeepulver, das Cabriolet (das Verdeck-Auto), die im Kinderwagen versteckte 1-Euro-Weste, das bare Geld, der von der Polizeidecke bedeckte Junge, die saubere Gefängniskleidung (ohne Taschen?), das bare Geld, das bare Geld.

Und nun die Pointe:
Bei der Übergabe des Kindes muß Bruno die Tür des Zimmers schließen, das zu der leerstehenden Wohnung des anonymen Hochhauses gehört. Das Handy, der Schwellenapparat, steuert die Abläufe. Bruno muss warten. Er steht derweil vor einer Tapete mit einem Muster von kleinen Blumen und Pflanzengruppen. Man kann sagen: eine „realistische“ Tapete für solch einen trostlosen Ort. In diesem Sinne indiziert die Tapete soziale Realität (im Tagesspiegel-Interview wird Barthes‘ „Realitätseffekt“ angesprochen). Lange halbnahe Einstellung. Und dann, mit einem Mal, bewegt sich etwas auf (in?) der Tapete: ein Ohr?, ein Tier?, ein Schmetterling?, eine Ente? Der erste Dardennes-Zoom fährt auf (in?) die Tapete und entdeckt, daß in (hinter?) der Tapete ein unerhörtes Geschehen vor sich geht: der Film vergißt daraufhin Bruno, Sonia, das Kind, das Geld, den Staat, den Regen, und stürzt im folgenden die Blütenbahnen eines blümchenfrischen Lenor-haften Eskapismus hinunter. Dieser Film aber, obwohl die Tapete, wie jede Tapete, wie jede Wand, glatt und flach ist — dieser Film ist versteckt in der Falte eines offenen Geheimnisses, eines Oberflächenreizes. Aus dem Off hört man sagen: „… a little bit of blue skies, lots of clouds, no wind, some rain last night, fifty-eight degrees.“

Donnerstag, 08.12.2005

In dieser Erzählung sind Orte und Personen erfunden. Die einen finden sich auf keiner Landkarte, die anderen leben nicht, noch haben sie je gelebt, auf keinem Fleck der Erde. Und es tut mir leid, dies zu sagen, denn ich habe sie geliebt, als wären sie wirklich. [Vorbemerkung in Natalia Ginzburgs Roman „Die Stimmen des Abends“ (1961)]

Dienstag, 06.12.2005

Kino-Hinweis

„Le petit lieutenant“ von Xavier Beauvois wurde in den November-Cahiers zusammen mit Cronenbergs „A History of violence“ unter dem Label „Retour à la fiction“ euphorisch gefeiert. War die denn je weg, die Fiktion? Oder vielleicht doch nur mal kurz um die Ecke, Zigaretten holen?

Fasst sich an der Nase sagt / das beste in der Vase / ist die Kirche im Dorf

Der Film kommt irgendwann im kommenden Jahr in D ins Kino. Vorher, genauer: morgen abend, wird „Le petit lieutenant“ im „Cinema Paris“ gezeigt. Ach ja: Natalie Baye, die Hauptdarstellerin, ist auch da.

Cinema Paris, Kurfürstendamm 211, 19.00 Uhr

Montag, 05.12.2005

TV-Hinweis

Jeden Mittwoch im Dezember: Filme von Raymond Depardon im WDR

10. Strafkammer – Momentaufnahmen (10ième Chambre – Instants d’audiences), Frankreich 2004
07. Dezember 2005, 23.15 – 00.55 Uhr
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Bauernleben (Profils paysans: L’approche), Frankreich 2000
14. Dezember 2005, 23.15 – 01.45 Uhr
*
Paris, Frankreich 1997
21. Dezember 2005, 23.30 – 01.00 Uhr
*
Vom Westen unberührt (Un homme sans l’occident), Frankreich 2002
28. Dezember 2005, 00.00 – 01.40 Uhr

Samstag, 03.12.2005

3.12.2005

Das Telefon klingelte, ein Freund war am Apparat. Er rief von Porquerolles an, drüben vor der Küste. Ein Filmteam habe sich angekündigt, er wusste davon, weil er im einzigen Restaurant der Insel als Koch arbeitete. Ein paar Tage später hatte er genauere Angaben, und er, der Angerufene, der vor kurzem mit dem Studium in Aix-en-Provence begonnen hatte, lieh sich von Freunden eine 16mm-Kamera.
Er nahm eins der kleinen Boote, die außerhalb der Saison zwischen Port de la Tour Fondue und der Insel pendeln. Da er früher als das Filmteam dort war, konnte er mitverfolgen, wie das Material entladen wurde und die Dreharbeiten zügig begannen. Eine Szene am Strand, eine Frau und ein Mann gehen mit Koffern am Ufer entlang. Er sieht das aus dem Schutz der Eukalyptusbäume, hinter denen er wie ein Indianer herumschleicht. Irgendwann traut er sich, einen vom Team anzusprechen, ob er fotografieren und filmen dürfe. Der Gefragte gibt die Frage weiter an den Regisseur, der gibt ein kurzes Zeichen zurück: Ihm ist es egal. Er, der Fragende, macht also Aufnahmen vom Strand, von den Kameras, von den Bäumen. Schließlich nimmt er das nächste Boot zurück.

Damals hatte er keine Ahnung, dass er den Weg des Regisseurs in den nächsten 40 Jahren kontinuierlich mitverfolgen würde. Aber wenn er Pierrot le Fou jetzt sieht, sieht er zugleich sich selbst in dieser einen Szene im Hors-champ unter den Bäumen stehen. Die Filmrolle, die er im Juni 1965 gedreht hat, ist verloren gegangen. Er erinnert sich aber, dass die Luft, die er atmete, dieselbe war, die Anna Karina, Jean-Paul Belmondo und das ganze Filmteam atmeten, auch der, den er damals um Dreherlaubnis gefragt hat: Jean-Pierre Léaud. Und er muss daran denken, dass derselbe Strand jetzt, in diesem Moment, mit denselben Bäumen, so dort noch immer steht, in Porquerrols, vor der Küste.

Alain Bergala erzählt das – in der ersten Person Singular und mit anderen Worten – im Vorwort zu seiner Sammlung von Texten über Jean-Luc Godard (Nul mieux que Godard, Paris: Cahiers du cinéma 1999). Godard wird heute 75. Kann sein, dass ich die Geschichte deshalb hier aufschreibe.


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