2005

Montag, 28.03.2005

Willenbrock (Andreas Dresen) D 2005

Das Frollein an der Kasse des Kinos war eine Filmschülerin der Münchner Filmschule; vielleicht ein Job zur Finanzierung des Studiums. Es heißt, daß die Abgänger im Mediensektor unterkommen.
Beim Rüberschieben der Karten aus dem Glasgehäuse sagt sie, es sei nicht gesichert, ob der Film laufen werde; bei bloß zwei Zuschauern komme die Vorführung nicht zustande.
Ich schöpfe Hoffnung, daß es ein langweiliger Film sein könnte – im Sinne eines willkommenen Mangels an Dramaturgie. Dabei spricht der Titel Bände; ohne satte Hebelwirkung ist auch der Wille schwer zu brechen.
Es fand sich dann doch ein halbes Dutzend Leute ein. Der Saal ist derart groß, daß an den Seitenwänden, als Deko, je vier plakative Bilder einst gelaufener Filme in lockerer Hängung Platz finden, wie sie von den beiden in München noch tätigen Malern zur Werbung für die Fassaden der Kinos in Acryl angefertigt werden, ca. 6×4 Meter.
Die aufkeimende Langeweile angesichts der Fernsehspielnummer auf der Leinwand war insofern von der vergnüglichen Sorte, als vergleichbar der Muße, wie sie bei Klobrillengrübeleien sich einstellen kann, wenn keine Zeitung zur Hand ist. (Neulich sprach ein Bekannter vom „Zeitvertreib“, den er im Kino suche.)
Ob man nicht Maße einführen könnte, die wertfrei Auskunft erteilen und zugleich einen Index abgeben; es würde genügen, eine nüchterne Statistik anzufertigen von 5 Minuten eines Filmes:
Wieviele Schnitte? Welchen Anteil an Musik? Wieviel Quasselzeit? Wieviele Sätze, die den Anspruch mit sich herumtragen, in die Sammlung „Erfolgreiche Zitate und Aphorismen von A – Z für Bürgermeister und Kommunalpolitiker“ (weka-Fachverlag für Behörden, Kissing 1998) aufgenommen zu werden? Man hätte dann sowas wie eine Körbchen- oder Konfektionsgröße, die – je nach Vorliebe – beim Stöbern im Kinoprogramm die Treffsicherheit der Wahl erhöhen würde.
Daß nix los war, mag an der Nacht auf Karfreitag gelegen haben; Kino und Religion, verträgt sich das nicht? Oder die Menschen waren auf dem Weg zum österlichen Skifahren.

Sonntag, 27.03.2005

Demokratie der einfachen Herzen

Der lesenswerte amerikanische Kritiker und Essayist Dave Hickey (Air Guitar) fiel mir ein, als wir neulich ASPEN sahen. Frederick Wiseman filmt in dem Nobelskiort in Colorado eine Gruppe diskutierender, weißer, bürgerlicher Amerikaner, Männer und Frauen. Sie sind der materiellen Sorgen enthoben, kann man annehmen. Sie tragen Skipullover und groteske Brillen. Sie haben Zeit, sich mit einem Text von Flaubert zu beschäftigen, dessen Titel nicht ausdrücklich genannt wird – es handelt sich um UN COEUR SIMPLE. Sie fragen sich, was diese Erzählung von einer Bediensteten, die immer für andere da ist und einem Papagei namens LOULOU das Gegrüßet seist du Maria beibringt, für sie bedeuten könnte. Aber ihre Fragen bleiben akademisch, lesezirkelnd, unbeteiligt. Könnte Félicité, so der Name der Frau, auch ein Mann sein – ist also ihr Geschlecht nicht bestimmend für sie? Woran könnte man das ermessen, fragt ein Mann – man müßte wissen, was „a generic woman“ ist. Da müssen alle lachen. Sie fragen sich vor allem, ob Félicité auf eine bescheidene Weise glücklich ist – glücklich vielleicht wie ein Wurm, „that is stepped upon over and over again and dies lonely in bed“ – Lachen in der Gruppe, großes Lachen im Kino. Selten hat man im Kino die intellektuelle Armut einer bestimmten beflissenen, aber traditionslosen amerikanischen Klasse klarer gesehen. Hickey, für den UN COEUR SIMPLE eine kleine Offenbarung war, schreibt: „What Flaubert proposes (…) is just democracy: a society of the imperfect and incomplete, whose citizens routinely discuss, disdain, hire, vote for, and invest in a wide variety of parrots to represent their desires in various fields of discourse.“ Für die Bürger von Aspen ist der Text der Papagei – sie bringen ihn nicht zum Sprechen, sondern zum Schweigen. Erst Wiseman macht daraus eine Demokratie.

Marxelinho

Samstag, 26.03.2005

Repräsentationsprobleme, extreme cases

One theater in America was showing a film with a scene of a man dying of TB, in which his wife kisses the dying man. At this point the manager asked the drummer to imitate the sound of the kiss. The drummer wrote to a trade paper to complain: „Of course the people laughed – they always laughed when a kiss is imitated – and I think it spoiled the picture, because the scene was a sad one.“ Sounds for kissing scenes became quite an issue. Apparently some effects men would imitate the kissing sounds by whacking the top of a barrel with a board, while in some theaters the rowdier element would imitate the effect themselves with a chorus of lip-smacks. Young Fullilove was allowed to do much the same: „I would also kiss the back of my hand to represent screen kisses, and in extreme cases pull a cork from an empty bottle!“.

(Stephen Bottomore: „The Story of Percy Peashaker: Debates about Sound Effects in the Early Cinema“; in: Abel/Altman (Hg.): The Sounds of Early Cinema. Bloomington, 2001).

Freitag, 18.03.2005

Bruno Dumont: Twentynine Palms

Katja und David, bevor sie zum Supermarkt gelangen, durch die leergeräumte Straße gehend und Bachmusik von irgendwoher, der linken Straßenseite, aus einem Geschäft?, zu hören ist. Aber der Raumeffekt stimmt irgendwarum trotzdem nicht. Als sie auf die andere Straßenseite wechseln ist die Musik erst wie von weit her, dann aber wieder nah zu hören, ohne dass der Aufnahmestandpunkt merklich wechselt. Mich erinnerte dieses irritierende Quellenmusikverfahren an eine Erzählung über „Model Shop“ von Jacques Demy, einen Film, den ich nie gesehen habe, in dem genau sowas zur überraschenden Konjunktion von Orten und Figuren genutzt sei. Es gibt zwei Arten von Totalen in „Twentynine Palms“: subjektive, point-of-view, mit der Handkamera aufgenommene und welche vom Stativ. Einmal gibt es noch eine andere Totale, beim ersten Trip in die Wüste, bei den Windrädern an der Eisenbahnlinie. Als der Zug dann vorbeifährt wackelt die Kamera ganz schön, aber subjektiv ist der Blick nicht, weil Katja und David im Bild stehen. Wahrscheinlich knallt der Wind da sehr gegen die Apparatur und Dumont hat das Bild dringelassen um ein Ende seiner Exposition zu markieren. Wie der nordfranzösische Wind in Dumonts „L’Humanité“ auf dem Acker gegen das Mikrofon knallt hat mir besser gefallen als der kalifornische Wind in „Twentynine Palms“, weil jener elementare mit existentialen Konstellationen koppelt, dieser scheinbar nur ein „Existential“ (SR) ausstellt. Schon gestern, beim Gucken und Besprechen von „Twentynine Palms“, fielen mir immer nur noch mehr Erinnerungen an ästhetische Indizes anderer Filme ein, die sich aber nicht verbanden zu einem trennscharfen Geflecht, „Twentynine Palms“ zu charakterisieren. Vorläufig einigten sich die meisten von uns auf „Kunst“. Noch sehr unklar ist mir, ob das am Reichtum oder der Armut des Films liegt.

Bruno Dumont: Twentynine Palms

„Twentynine Palms“ macht mich auch beim zweiten Mal ratlos, aber ich neige dazu, das als Qualität zu sehen. Verfremdende Aneignung der Wüste – eine Seelenlandschaft, die ich allerdings schon im eigenen Dorf, das sich Dumont bisher als Schauplatz gewählt hatte, nicht wirklich verstanden habe. Postkatholische Verhängnisse, an denen die Figuren in aggressiver Weise leiden. Ein Gott, der sein Verschwundensein heillos fühlbar macht. Mitleid, so viel ist klar, ist nicht angebracht. Aber ist die Komik, die es hier in Spurenelementen gibt, dann zynisch? Welche Position hat der Film zu dem, was er zeigt? Vielleicht ist das die Frage, die entscheidend unbeantwortbar bleibt.

Twentynine Palms

David und Katia laufen durch 29 Palms, was ein ausgedachter und kein gefundener Ort ist. Noch nicht metaphorisch, nicht mehr materialistisch, wenn dieser Zeichen-Ding-Gegensatz überhaupt Sinn macht. Jedenfalls spricht der Film nicht wirklich allegorisch. Zu hören ist eine Bach-Suite, die als diegetische inszeniert wird und akusmatisch ausströmt. Der vorgestellte Shopping-Mall-Lautsprecher, der diese schöne Musik in Dumonts Jerry-Springer-Amerika scheppert, bleibt im Hors-Champ. Postkatholisch, meint E.; Alice in den Städten-Syndrom, meint S. Duisburg hat dennoch andere Probleme und Rüdiger Vogler würde auch nicht im Cape-Fear-Kostüm aus dem Badezimmer hechten. Odd Film, Old Film, Art Film? Die Untertitel legen sich auf letzteres fest.

Twentynine Palms

Katia spricht Englisch mit russischem Akzent.
David spricht Französisch mit amerikanischem Akzent.
Der klotzige, vierradangetriebene Humvee spielt amerikanische Bluegrass-Musik mit japanischen Texten.
Die Wüste um den Militärstützpunkt Twentynine Palms schweigt; sie lässt den Sex und die Gewalt sprechen.

Eine Zweiergeschichte mit vier Protagonisten, von denen die Hälfte überlebt.
In der letzten Einstellung liegt David, von weit oben gefilmt, mit zerschlagenem Gesicht im Wüstenboden; die Tür des Wagens steht offen, als hätte der ihn ausgespuckt.
Man kann nachlesen, David sei ein Fotograf, der nach Locations für ein Shooting sucht. Im Film habe ich das Suchende in keinem seiner Blicke finden können.

Twentynine Palms
USA/F 2003
Regie: Bruno Dumont

Donnerstag, 17.03.2005

High School

Die existenzialistische Philosophie gerinnt zur Vokabel des modernen Spanischunterrichts. Ausschnitte von Gesichtern, an deren Lippen apathische Blicke hängen. Eine junge Lehrerin steht mit verklärtem Blick neben der Klasse, während ein riesiges Tonbandgerät den Raum mit Simon & Garfunkel beschallt. Film als Zeitgeist – einschließlich seiner Widersprüche. Die Mondlandung nachgestellt in 190 Stunden, Vietnam und der neue Amerikaner, der Rassentrennung verurteilt. Im Kunstunterricht ein adolenszenter Frontalangriff auf das (Schul-) System. Schule als Miniaturstaat, dessen Details in Großaufnahme ausgestellt sind: Der drohende Zeigefinger des Gynäkologen beim Sexualkundeunterricht, nestelnde Mutterhände im Sprechzimmer. Der Brief eines Schülers aus Vietnam erfüllt die Lehrerin mit Stolz.

High School
USA 1968
Regie: Frederick Wiseman

(Stefanie Schlüter)

Mittwoch, 16.03.2005

hinweis

kolik.film > 8 x 100 Worte zu „The Royal Tenenbaums“ (USA 2001, Regie: Wes Anderson)

Dienstag, 15.03.2005

Langtext-Hinweis

Jetzt auf „New Filmkritik für lange Texte“: Thom Andersen – Los Angeles Plays Itself. Der Text aus dem gleichnamigen Film. Dank an Thom Andersen.


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