Samstag, 07.01.2006

Zwangsverhalten: Zu Hong Sang-soos „Tale of Cinema“ (Südkorea 2005)

Hong Sang-soos Filme sind flach. An der Oberfläche: Licht, Bildaufbau, Stellung der Figuren im Raum. Und in ihrer Tiefe, denn kaum glaubt man, hineingelangt zu sein, rutscht man ab und steht wieder da, wo man war: vor einer Oberfläche, an der sich Gedanken und Geschichten zu Rätselkristallen formen, die fremd bleiben. Man wird nicht recht schlau aus alledem und treffender lässt es sich nicht ausdrücken als Hong es seinen Ich-Erzähler ganz am Ende von „Tale of Cinema“ sagen lässt: „Ich muss denken“. Hongs Filme zwingen einen allerdings, da muss man genau sein, weniger dazu zu denken, als sie einen in diesen Gedanken hineindrängen, dieses „Ich muss denken“, das nirgendwohin führt, jedenfalls nicht in eine Tiefe, die dann erklärte oder plausibel machte, was man an der Oberfläche sieht. Die Rätselkristalle sind stets mehr Kristall als Rätsel, sie weisen den Blick ab, der sie umfassen möchte, sie erschließen sich nicht einer Lösung, aber sie haben eine merkwürdige Attraktivität, die Attraktivität des Sich-Entziehenden, die mit der Anziehungskraft der Figuren rein gar nichts zu tun hat. Denn unerträglichere Protagonisten gibt es kaum im Kino der Gegenwart als die männlichen Helden bei Hong mit ihrer latenten Aggressivität, der Kleinlichkeit ihres Scheiterns und der Unfähigkeit, in Frauen etwas anderes zu sehen als das, was sie projizieren. Genauer gesagt sehen sie noch nicht einmal ihre Projektionen: sie projizieren nur, aber ins Leere, sie bleiben im eigenen, unbegriffenen Narzissmus echolos befangen.

Hong Sang-soo ist ein Strukturalist, aber kein Formalist. Das strukturelle Prinzip seiner Filme ist eine Streuung und Ausstreuung von Motiven, Spiegelungen und Wiederholungen in der Fläche. Man muss höllisch Acht geben aufs Detail, da Signale oft untermarkiert sind (wenn auch keineswegs immer); aber dass man sie erkennt, heißt nicht, dass man sie lesen kann. Sie entziehen sich vielmehr der Lesbarkeit ins Strukturelle. Und die Struktur selbst bleibt unlesbar, da sie nicht die Regularität einer Form gewinnt, sondern einer beliebigen Streuung gehorcht, eher dem Schein nach als prinzipiell geordnet durch die Zweiteilung und Spiegelung der Narration; was Grund-Struktur scheint, ist viel eher Form als trompe-l’oeil, ein Anhalt, der einem unter dem Denken zerfällt. Die Streuung der Motive auf der flachen Oberfläche führt so zur Flucht nicht des Gedankens, sondern des Denkens: „Ich muss denken“, aber ich weiß nicht was. Es führt nirgendwohin, auf keinen Grund, immer nur weiter.

Es ist schwer, einem, der sie nicht kennt, einen Eindruck von Hongs Filmen zu vermitteln. Eine (seltsame) Vertracktheit und eine (seltsame) Kunstlosigkeit gehen hier in eins. Die entschiedene Verneinung realistischer Konzepte wird konsequent unterspielt; man könnte auch Menschen sehen und nichts weiter, die an Tischen sitzen und sich betrinken, die auf Straßen spazieren und reden, die in Hotelzimmer gehen und miteinander schlafen. Und wenn Menschen sich umbringen wollen (wie im Film-im-Film in „Tale of Cinema“) oder wenn sie im Sterben liegen (wie in der zweiten Hälfte der Regisseur des Films-im-Film in „Tale of Cinema“), dann ändert Hong kein bisschen seine lakonische Art, die Kamera in den Raum zu stellen und die Szene als Plansequenz zu drehen und sie, einfach so, nicht mittendrin, aber auch nicht in einem besonderen Moment, zu beenden, mit einem Schnitt, aus dem geschlossenen Raum hinaus auf die Straße, von der Straße hinein in den geschlossenen Raum. (Von den Zooms wird noch zu sprechen sein.) An den Dialogen, sagt Hong, feilt er lange, aber auch hier geht es nicht um Pointierungen, eher um die subtile Verankerung der latenten Aggressivität, die alles durchzieht, im Wort. Die Worte, die gewechselt werden, sind durchzogen wie die so lakonisch gebauten Bilder von dieser latenten Aggressivität.

Dazu kommt eine große Armut der Motive, ein hoher Grad an Repetition. Es wäre nicht ganz verkehrt, auf dieser abstrakten Ebene eine Analogie zu den Filmen Ozus zu sehen, die sich freilich völlig anders anfühlen, die völlig anders gearbeitet sind. Aber sie sind ähnlich verschlossen und ähnlich oberflächlich. Bei Ozu geht es um Väter (und Mütter) und Töchter (und Söhne), um das Unglück, das darin besteht, dass sie sich trennen müssen – auch wenn sie nicht wollen, dass das Sich-Nicht-Trennen-Wollen keine Option ist -, dass die Töchter (oder Söhne) aus dem Haus gehen und dass daraus folgt – und das ist die eigentliche Tragödie -, dass die Eltern alleine zurück bleiben im Haus. In Hongs Filmen gibt es kein Zuhause, auch keinen Wunsch, in ein Zuhause zurückzukehren und die Familie im Film-im-Film in „Tale of Cinema“ ist schlicht und einfach grotesk (aber ihr Auftreten allein macht die Frage schon virulent, ob der Film-im-Film ein Hong-Film ist).

Bei Hong geht es um Männer, die als Künstler scheitern und gegen die Frauen, die sie lieben wollen, sich aggressiv verhalten. Männer, denen die Schließung ihrer Projektion nicht recht gelingt. Sie bewegen sich, ungelenk, aber stürmisch meist, hinein in die Projektion, sie wollen ein Werk, sie wollen eine Frau, aber sie bleiben stecken, sie tun das Falsche und dass sie sich betrinken und als Betrunkene noch unerträglicher werden, ist nicht die Ursache, sondern nur der Ausdruck dieses Unglücks. Die jämmerlichen Männer bei Hong wissen, dass sie wollen, aber wenn sie diesem Wollen erst einmal Ausdruck gegeben haben, merken sie (oder spüren sie), dass sie nicht wissen, was sie wollen. Dann zaudern sie, dann können sie nicht, dann verdrücken sie sich. Es ist im Grunde derselbe Impetus, der hinter dem „Ich muss denken“ und dem „Ich muss wollen“ steht. Der doppelte Impetus macht diese Männer zu Möchtegern-Künstlern und Möchtegern-Liebenden. Aber dann wollen sie nicht, dann denken sie nicht, weil ihre Fähigkeit, einen Gegenstand (ein Werk, eine Frau) zu wollen und zu denken, nicht hinreicht. Es ist nicht so sehr der Fall, dass sie zu intellektuell wären, dass ihrem Handeln das Denken als Skepsis oder handlungshemmende Reflexion in die Quere kämen. Vielmehr ist jedes mögliche Denken von etwas, jedes mögliche Wollen, das über das schiere, leere Begehren hinausgeht, immer schon blockiert. (Das Ende von „Tale of Cinema“ ist deshalb als totale Kapitulation zu begreifen, als ein Verharren im Elend. Das Wollen des Denkens führt nur in die Wiederholung des Missglückens.)

Auf den ersten Blick passt „Tale of Cinema“ in die Serie der bisherigen Filme. Das gewohnte Spiel mit den vermeintlich glatten Gang der Narration zerreißenden Irritationen findet statt. Das Theaterstück, das man (im Film-im-Film) sieht, bekommt einen anderen Sinn als den diegetischen (der Held wartet, bevor er sich mit der Frau trifft, auf die er sein Lieben-Wollen gerichtet hat) in dem Moment, in dem der Held die Worte einer der Figuren wiederholt: Mutter, Mutter. Es wird hier der Eintrag einer kleinen, aber massiven Irritation erst verständlich: Auf der Bühne spricht die Figur der Mutter nämlich von ihrem Sohn, obwohl es sich offensichtlich um ihre Tochter handelt. Vorträglich – und mit Mut zum Unverständlichen – hat Hong den Konflikt des Sohnes mit der Mutter schon eingetragen. Zwischen unverständlichem/unauffälligem Vortrag und sinnveränderndem Nachtrag inszeniert Hong sein Spiel um Aufschübe und Suspensionen. Die Momente, in denen Irritationen als Wiederholungen miteinander und aufeinander reagieren, haben freilich nichts Erlösendes und Lösendes. Sie bleiben mehr oder minder blinder Verweis, der auf weitere Nachträge wartet, die wiederum nichts lösen, selbst da, wo sie nicht ausbleiben.

Und wie oft bei Hong findet sich auch in „Tale of Cinema“ die Installation einer Zäsur, die solche Spiegelungen und Verdopplungen nachdrücklich hervortreibt. Wieder finden sich Gegenstände, Orte, Personen des ersten Teils im zweiten aufgegriffen, gelegentlich mit genau dem Willen zur Untermarkierung, der das bisherige Werk prägt. Diesmal aber ist bei genauerer Betrachtung alles ganz anders. Zu tun hat es mit Markierungen. Erstmals nämlich markiert Hong den Repetitionsscharakter, thematisiert ihn als Verhältnis von Kino und Leben und Kino. Der Film, den wir sehen, vierzig Minuten lang, ohne zu wissen, dass es (im Film) nur ein Film ist, wird als die gestohlene Geschichte des Mannes präsentiert – nachträglich, mit einer Nachträglichkeit, die alles (womöglich) in ein anderes Licht stellt. Vor allem aber setzt sie die Wiederholung ausdrücklich, wenngleich sanft ironisch, unters Vorzeichen eines thematisierten Wiederholungszwangs. Die typische Bewegung beim Sehen eines Hong-Films – man liest, irritiert durch ein Detail, eine Wiederaufnahme, eine Wiederholung, den Film neu; man liest bestimmte Stellen, die man zuvor gesehen hat, anders, nämlich als Antizipationen der Wiederholung -, diese typische Bewegung wird hier aktiv ausgestellt, etwa im Fetisch-Gegenstand „Marlboro Reds“, den Zigaretten, die im Film-im-Film der Held in einem Laden kaufen will, die im Film dem Helden, der sie raucht, als Beleg dafür dienen, dass der Regisseur seine Geschichte gestohlen hat. Fetischisiert werden diese Gegenstände nicht im üblichen Sinne. Nicht sie selbst werden mit Begehren aufgeladen, sondern ein ungezieltes Begehren, das zwischen der Vor- und Nachträglichkeit ihres Auftauchens oszilliert, macht sich für den Moment fest am nichtsdestoweniger beliebigen Gegenstand. Das Problem der Verschiebung und Lösung des Begehrens vom eigentlichen Gegenstand, die Aufladung eines anderen an seiner Stelle, ist nicht die Struktur des Problems der Hongschen Helden. Sie sind zur Liebe (zum Wollen und Begehren von etwas, einem Begehren, das über das bloße Wollen und Begehren hinausgeht), und damit eben auch zur verschobenen Bewegung der Aufladung unfähig.

Nun aber die Zooms. Mit „Tale of Cinema“ bricht Hong den seriellen Charakter seines Werks – oder vielmehr lässt er ins stete Sich-Wiederholen des Vertrauten ein fremdes Element einbrechen. (Vielleicht nicht ganz unähnlich der Art, wie Tsai Ming-liang in seinem letzten Film „The Wayward Cloud“, Musicalbuntheit in seinen ganz anders gearteten Stil einbrechen lässt.) Die unauffällige Plansequenz mit tendenziell statischer Kamera wird völlig unerwartet irritiert durch Zooms, die durch den Raum fuhrwerken, ihn beschneiden, Gesichter aus ihrem Zusammenhang nehmen, um sie dann, im Rückzoom, wieder in einen (damit aber anderen, aufgebrochenen) Raum-Bild-Zusammenhang zurückzuführen. Die Zooms sind, wie die Markierung der Wiederholungen als Wiederholungszwang, ein Ausbruch aus der Unauffälligkeit, der (seltsamen) Kunstlosigkeit von Hongs Kino. Sie scheinen, um das mindeste zu sagen, nicht notwendig, fungieren als Irritationen, sie fügen sich nicht zwanglos ein in den Stil, der vorherrscht. Sie sind nicht elegant, oft eher ungelenk – und sie sind das ohne Zweifel mit Absicht. Sie sind Unterstreichungen in einem Stil, der bisher – und im Grunde noch immer – vom oft schockierenden Weglassen von Unterstreichungsgesten lebt, etwa im beinahe unvermerkten Übergang vom Film-im-Film zum eigentlichen Film. (Klar erkennbar nur im Wechsel der Musik von der Seite der Non-Diegese auf die Seite der Diegese.)

Die Zooms sind aber Unterstreichungen, bei denen unklar bleibt, warum sie unterstreichen, was sie unterstreichen. Den Gesichtern, auf die gezoomt wird, ist wenig Expressives abzulesen. Über die Figuren im Raum erhält man kaum zusätzliche Informationen. Die fortwährende Zeigegeste des Zooms zeigt ins Leere wie das Wollen und Denken der Figuren. Dem „Ich muss wollen“ und dem „Ich muss denken“ gesellt sich ein „Ich muss zoomen“. Ein Zwangsverhalten im Grunde. Damit wäre „Tale of Cinema“ der pathologischste von Hongs Filmen. Die vermeintlichen Symmetrien, die sich der Mittelzäsur verdankten, waren bisher durchaus als Eindringen eines Wiederholungszwangs in die Struktur lesbar (und eher noch fühlbar) – aber doch ins trompe-l’oeil, den Schein einer Form hineingebändigt. Der Zoom (und ähnlich der Voiceover-Kommentar) in „Tale of Cinema“ sind von in keine Form mehr zu bändigender Zwanghaftigkeit. Sie führen nirgendwohin, sie sind (falsche) Bewegung um der Bewegung willen. Was in ihnen sich Bahn zu brechen scheint, ist die Attacke auf die eigene Kunst, eine mutwillige Beschädigung der Bilder, als wären sie noch immer zu schön gewesen. Diese Zooms sind nicht der Versuch einer Rehabilitation des Zoomens; sie sind absichtliche Zerstörung von Unauffälligkeit. Bisher handelte Hongs Kino in zum Schein wenigstens „schöner“, symmetrischer, reizvoller Form von beschädigten Menschen. Mit „Tale of Cinema“ ist es nun zum beschädigten Kino geworden, hat jener autoagressive Narzissmus auch strukturell die Überhand gewonnen, der bislang vor allem seine männlichen Helden befiel.

– Ekkehard Knörer –

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