Sonntag, 07.05.2006

Kamerarhetorik und Zwischengesichter

Aus Angst vor der nicht hintergehbaren Rhetorik seiner Muttersprache flüchtete sich Samuel Beckett zunächst ins Französische, bis ihm auch diese Sprache zu redegewandt erschien und er nur dem Deutschen genügend Sperrigkeit für seine Arbeit zugestehen mochte. (vgl. Peter Hughes: WORTFLUCHTEN, SPRACHRÄUME, NZZ 8.April 2006) Das im Sinn betrachtete ich einen Animationsfilm aus dem Zeitalter der entfesselten Quantenelektronendynamik, will heißen, Filme auf der Basis einer masselosen Kamera, bei denen der mechanische Aufnahmevorgang durch einen Algorithmus ersetzt wurde. Unter den Filmen sind die Animationsfilme sicherlich die rhetorischsten, da sie sich der Alltagsphysik mit Leichtigkeit entheben und somit alle Ecken und Kanten, die sich der klobigen Kamera in den Weg stellen, nahtlos umschiffen können. Und das konnten sie von Anbeginn an. Die Digitalisierung hat lediglich die Variationsbreite vervielfacht, indem sie die Trägheit der Handarbeit überwindet. Animationsfilme sind so etwas wie Prototypen, die zeigen, was man machen würde, stellte die Welt der Dinge sich nicht bockig. Sie sind umfassend gelungene Verdinglichung. Und das umso mehr, als sie versuchen, sich einer Natürlichkeit anzuverwandeln. Was verliehen wird ist mitnichten Seele, sondern mechanisch dirigierbare Beweglichkeit.

Ich entdeckte mein Filmbeispiel im Kaufhaus, wo es zu Demonstrationszwecken auf bereits veralteten Plasmabildschirmen lief, die zu reduzierten Preisen notwendig verkauft werden müssen. Animationsfilme eignen sich hierzu besonders gut, da sie zumeist recht zahlreich monochrome Farbflächen enthalten, für die eine geringere Bildpixelanzahl kein Problem darstellt. Alle Lichtsituationen sind beherrscht und entschieden. Und sie produzieren zuweilen wie dieser – THE POLAR EXPRESS – einen Sog, der außerhalb bewusster Kontrolle des Zuschauers liegt. Das ist gemeinhin ein Wesensmerkmal der Werbung. Klaus Heinrich hat von der Sucht zum Sog gesprochen. Ideologisch gesehen indiskutabel macht dieses Weihnachtsmärchen – von allen christlichen Konnotationen und Geistern verlassen – abhängig wie Achterbahnfahren. Und tatsächlich kann es der Zauberzug im Film mit diesen Jahrmarktsgefährten ohne weiteres aufnehmen. Einen Tick schneller noch ist allerdings die virtuelle Kamera, die in halsbrecherischen Plansequenzen den Fortgang der Ereignisse in ihren Bewegungen jeweils behände vorausahnt. Um das Verhalten der Figuren dem Leben anzunähern, wurde das Performance-Capture-Verfahren – Darstellung in Gefangenschaft klingt ja zunächst einmal gar nicht unsympathisch – angewandt. Der verbliebene Rest an Unnatürlichkeit führt zu einem Hauch von Stilisierung, der das süßliche Geschehen auch für Diabetiker konsumierbar macht. Aber diese Dinge sind letztlich alle nicht neu.

Es gibt eine Einstellung, die die Hauptfigur beim Lesen zeigt. Und zwar bildet die Kamera das Gesicht des Lesenden aus der Perspektive des Buches ab, fährt aber gleichzeitig zurück und kommt zwischen Buchstaben und Papier zum Halt, so dass vor dem Gesicht des Lesenden ein spiegelverkehrter Schriftzug zu sehen ist. In diesem Fall steht dort: DEVOID OF LIFE (spiegelverkehrt), was in der deutschen Version mit OHNE ANZEICHEN VON LEBEN übersetzt ist. Der Kameraverismus ist so weit getrieben, dass sogar die Interferenzen und Reflexe im Linsensystem zu sehen sind, denn der Lesende leuchtet mit einer Taschenlampe direkt ins Buch, also in die Sichtachse. Man könnte zunächst meinen, dass es sich hierbei um die von der Kamera ersetzte weggeräumte vierte Wand handeln könnte, die diesmal eben Papier ist. Nun sagt aber alle Alltagserfahrung, dass Buchstaben in Büchern an das Papier gebunden sind, und im Normalfall wird auch die vierte Wand mitsamt Hängeregal und Tapete entfernt. Die Atmosphäre ist sehr intim und hat etwas von Überwachungskamera – der Augenblick, in dem für den Leser aus Zeichen Bedeutung entsteht. Für diese Kameraposition macht der Begriff INTERFACE Sinn, ein Zwischengesicht, fast schon ein Zweites Gesicht. Der Vorgang wiederholt sich in einer wilden Showszene, in der ein Kellnerballett parterre-akrobatischen Tap Dance aufführt, während gleichzeitig heiße Schokolade serviert wird. Hier befindet sich die Kameraposition unter dem Tanzenden, die Bewegungen des Fußes und die metallbeschlagenen Sohlen sind von unten zu sehen, das Klackern zu hören. Da aber die Kameraebene mit dem Fußboden identisch ist, gibt es keinen Fußboden – der Kellner klackert ins Leere. An dieser Stelle ist das Zwischengesicht mehr zur Herstellung sensationeller Atemlosigkeit benutzt worden, so dass die meisten Zuschauer sich wahrscheinlich gar nicht daran erinnern werden. Eine aus den Fugen geratene Welt. Eine Erziehung hin zu unmöglichen Missionen, die einmal mit Jahrmarktsspäßen beinahe unschuldig angefangen haben. Das Auseinandertreten von Bezeichnendem und Bezeichnetem ist Merkmal der Neurose, sagt Derrida. Das passt hier nicht hundertprozentig hin und steht auch in einem ganz anderen Buch. Die eloquente Geschwätzigkeit der Kamera in diesem Film kopiert dann auch eher eine kindliche Überflussproduktion: Guck mal, was ich auch noch kann!

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