November 2006

Dienstag, 28.11.2006

hinweise

* Minutentexte. The Night of the Hunter > Veranstaltungen in Berlin (Freitag, 1.12.2006 im Arsenal) und Hamburg (Dienstag, 5.12.2006 im Metropolis)

Montag, 20.11.2006

Children of Men (Alfonso Cuarón) UK/USA 2006

Das Amalgamieren pessimistischer Lesarten der Gegenwart fügt sich in diesem Film nicht zu erwartbaren zeitdiagnostischen Rhetoriken. BSE, Klimakatastrophe, Homeland Security, Abu Ghraib tauchen in Emmanuel Lubezkis transparentem Handkamera-Gewebe auf und gleich wieder ab – als träumte jemand die schlechtesten Meldungen der letzten Jahre und verstünde nicht. Dennoch raunt der Film kaum; das Vordiskursive der visuellen Kultur ist ihm Material genug. Found-Footage-Paraphrasen dieser Art sind eine Option des Kinos, das benachbarte mediale Feld einer sortierenden Lektüre zu unterziehen. Wie abwesend die Plotmaschine da ist, wie ostentativ leer der religiöse Überbau, wie präsent Clive Owen Müdigkeit spielen kann. Der Tod Michael Caines, die brutalste Totale seit langem. Das Schlussbild: ein Triptychon aus drei verwirrten Lichtern. Je vous salue, Marie – ein Boot im Nebel und Josef ist verblutet.

Viennale 2006 (3)

Die Hommage war Olivia de Havilland und Joan Fontaine gewidmet und Hauptgrund meiner Vorfreude gewesen. Davon, dass die beiden Schauspielerinnen Schwestern sind, hatte ich zuvor nichts gewusst. Auch nichts von einem berühmten Rechtsstreit, den Olivia de Havilland mit den Warner Brothers führte, und den sie gewann. Nach anderthalb Jahren Zwangspause nahm sie als nun freiberuflich tätige Schauspielerin die herausfordernde Rolle in TO EACH HIS OWN an, für deren Darstellung sie prompt den Oscar erhielt. Mit diesem Film von Mitchell Leisen, aus dem Jahr 1946, begann für mich die Viennale.

Filme, in denen Schauspieler mit Unterstützung von Maskenbildnern Jahrzehnte altern, gehören nicht zu meinen liebsten, denn im allgemeinen möchte ich lieber glauben können, was ich sehe; realistisch muss es ja gar nicht sein. Dieser Film aber nutzte die Vorgabe, ein halbes Frauenleben zu erzählen, um auf verblüffende Art die Liebe darzustellen. Und zwar so: Eine junge Frau findet Gefallen an einem Piloten; andere Männer, von denen sie im kleinen Laden ihres Vater umschwärmt wird, machen neben ihm eine blasse Figur. Der Draufgänger wendet eine originelle – und wohl von ihm schon erprobte – Methode an, um an schnellen Sex zu gelangen. Von einer Tanzveranstaltung weg, auf einen Probeflug in seine Maschine entführt, wird ihr durch heimliches Stoppen des Motors ein leerer Tank vorgegaukelt. Lautlos segelt das Flugzeug in großer Höhe dahin. Doch statt sich im Moment des scheinbar bevorstehenden Todes an seinen Hals zu werfen, erschreckt sie ihn mit einer heiteren, fast burschikosen Seelenruhe, die von Zuversicht in ein gemeinsames Leben zeugt. Davon will er jedoch nichts wissen und startet schnell den Motor. Sie aber will ihn und kriegt ihn, und als er im Krieg stirbt, erwartet die Unverheiratete ein Kind von ihm – immerhin das, so sagt sie sich trauernd. Um den Skandal zu umgehen, will sie fern von ihrem Dorf das Kind zur Welt bringen und dann im Dorf vor eine fremde Tür legen, um sich sogleich als Adoptivmutter anzubieten. Der Plan misslingt. Eine Freundin, die gerade ihr Kind verlor, wird mit dem Findling beschenkt. Das Räderwerk des Melodrams arbeitet nun ganz vorzüglich. Das Ende aber hat mich überrascht und ein wenig gegen meinen Willen – so muss es sein! – tief gerührt. Die ganze Geschichte war als Rückblende erzählt, und dort wo sich der Rahmen schloss, an einem Bahnsteig, an dem Olivia de Havilland wartend saß und an zwei Jahrzehnte unerfüllter Mutterliebe dachte, da kam mit dem Zug ihr Sohn an, inzwischen Pilot im Folgekrieg. Und das fand ich wunderbar, irritierend und konsequent: der junge Mann wurde vom selben Schauspieler gespielt wie der Vater. Nach einigen Komplikationen, wie sie auch konventionellem Liebesglück im Wege stehen, zeigte das tolle Schlussbild Mutter und Sohn als tanzendes Paar.

Irgendwo hatte ich über die Stadt gelesen, sie sei nichts anderes als eine Konditorei am Rande des Balkans, Wien genannt. Mir kam es in diesem spätsommerlichem Oktober tatsächlich so vor, als würden nicht frischgestrichene Häuser sondern imponierende Tortenstücke die schattigen Straßen säumen, so als beleuchte das schräge Sonnenlicht auf den Dächern stolze Sahnehauben, Kirschen, Schokoraspel und doppelköpfige Adler aus Marzipan.

Der schönste neue Film in Wien war LA LEÇON DE GUITARE von Martin Rit, nur 18 Minuten lang. Dem Katalog entnehme ich: Martin Rit, geboren 1978, hat sein Kamerastudium 2004 abgeschlossen. Volker Pantenburg, der mir den Tipp gab, hat schon in der NEW FILMKRITIK über den Film geschrieben. Hat er den Namen des fantastischen Hauptdarstellers (Serge Riaboukine) erwähnt? Bestimmt. Noch einem anderen Serge, nämlich Gainsbourg, verdankt der Film einen Anteil seiner Schönheit, denn eines von Gainsbourgs Liedern ist der Stoff der GITARRENLEKTION. Ich sehe das Gesicht des Hauptdarstellers wieder vor mir, seine Neugierde, sein Lernen wollen. Ich fühle wieder, wie ich mich gespannt frage: Wird er das denn lernen können? Interessiert er sich nicht zu sehr für die Freundin des Gitarrenlehrers? Ich habe eine unbändige Lust diesen Film wiederzusehen.

Die größte Entdeckung in Wien war LIGHT IN THE PIAZZA eine M-G-M-Produktion aus dem Jahr 1962, in Metrocolor und Cinemascope, inszeniert von Guy Green. Darin war Olivia de Havilland die Mutter von Yvette Mimieux. Die beiden Amerikanerinnen, unterwegs in Florenz, wurden umschwärmt von zwei italienischen Männern. Der junge George Hamilton und der verführerische Rossano Brazzi. Halliwell’s Filmlexikon nennt den Film ein „puzzling romantic drama in which one is never quite sure why the characters behave as they do“. Leslie Halliwell meint das nicht wohlwollend. In seinem Versuch einer Inhaltsangabe hat Olivia de Havillands die Absicht „to marry off her mentally retarded daughter to a wealthy Italian.“ Es ist aber eben gerade das Herrliche an diesem Film, dass der Zuschauer in jeder Szene überlegen darf, ja höllisch aufpassen muss, ob Olivia de Havilland denn überhaupt ihre Tochter abgeben will; ob Yvette Mimieux denn überhaupt so sehr zurückgeblieben ist; ob diese beiden Italiener denn überhaupt reich und Vater und Sohn und ehrenwerte Gestalten sind. Nachher im kleinen Kreis bei Tagesteller und Bier gerieten wir darüber wunderbar einig ins Schwärmen. Es bestand nicht der geringste Zweifel, genau im Aufrechterhalten dieser flirrenden Ungewissheit bestand die hohe Erzählkunst des Films. Tatsächlich „puzzling“ war dieses romantische Drama, und außerdem eigentlich eine Komödie. Und noch dazu (in einem Kino, das zufällig Metro hieß) in Metrocolor und Cinemascope! Das bedeutete, dass man neugierig an den Schauspielern vorbei in die Straßen von Florenz blicken konnte, als säße man dort vor fünfundvierzig Jahren gemütlich in einem Straßencafe. Unabgesperrt geht rundum das Leben seinen Gang. Und alles hat die Schönheit jener künstlichen Farben, die die Welt nie und nirgendwo hatte, auch 1962 nicht, auch in Florenz nicht.

Neben LIGHT IN THE PIAZZA gab es noch einen zweiten Film zu sehen, zu dem Julius J. Epstein (damals noch gemeinsam mit seinem Bruder Philip G. Epstein) das Drehbuch geschrieben hat: THE STRAWBERRY BLONDE von Raoul Walsh aus dem Jahr 1941. Auch hier unternahm das Erzählen langsam und nachdrücklich eine Korrektur an der Vorstellung, die sich der Zuschauer von den Helden gemacht hatte. James Cagney und Olivia de Havilland waren am Ende ganz andere Menschen als am Anfang des Films. Nicht weil sie sich verändert hätten, sondern weil wir sie nun kennen gelernt hatten. Sie entpuppten sich als eher schwach, verletzlich und – sehr glücklich. Als im Abspann die Zuschauer überraschend aufgefordert wurden, das so oft erklungene titelgebende Lied gemeinsam zu singen, fürchtete ich sehr, das würde geschehen. Ich wäre vor Rührung auf der Stelle in lautes Schluchzen ausgebrochen, und das wäre sogar mir zu peinlich gewesen.

Am letzten Tag meines Aufenthaltes in Wien machte ich einen Abstecher in ein Vorortkino. Die Breitenseer Lichtspiele zeigten Harald Reinls SCHLOSS HUBERTUS von 1973. Beim Anblick des hundert Jahre alten, schmalen Saales, mit seinen hellbraunen Holzsitzen, befiel mich ein feierliches Gefühl, als wäre es doch möglich, dass ein Ort, der ärmlich, bescheiden und schön ist, ewig fortbestehen darf. Der ruhelose Film, der wie rasend bemüht war, einen viel zu umfangreichen Roman mit all seinen Aktionen komplett wiederzugeben, passte gut in meine Stimmung. Höhepunkt war das überaus spannende Erklettern eines Adlernests im felsigen Steilhang, über viele aneinandergefügte Holzleitern, erfolgreich, bis giftiger Staub, getrockneter Kot der Vögel, dem gierigen Räuber in die Augen rieselte und ihn erblinden ließ. Am nächsten Tag saß ich zufrieden im Zug nach hause. Hoffentlich würde es mir gelingen, meine Freundin an ihrem morgigen Geburtstag zu überzeugen, wie schön es sein könnte, in Düsseldorf-Bilk im Metropol EL CID zu sehen, von Anthony Mann. Mit Charlton Heston und Sophia Loren. Charlton Heston! Und Sophia Loren!

– Rainer KNEPPERGES –

Sonntag, 19.11.2006

Rezensionen – Sigi Götz Entertainment (Nr. 10)

Die soeben erschienene Ausgabe der Zeitschrift Sigi Götz Entertainment (Die zehnte Spanne). Vierundzwanzig hochinformative Seiten für nur 2 Euro.

Auf acht von ihnen, engbedruckt, schreiben SGE- (und auch „new filmkritik“-) Autoren über das weichenstellend Prägende und Wertvollste aus ihren Bibliotheken.
Das sind Einträge zu: Zäpfelkerns Abenteuer | Pitje Puck | Balduin Pfiff | Winnetou | Die Geschichten von Herrn Keuner | Film-Revue Nr. 7 (1962) | Andy jagt den Feuerteufel | Marvel Comics Postcard Book | Kino – wie es keiner mag: Die schlechtesten Filme der Welt | Howl 4 | Wunder und Taten der Heiligen | Pippi Langstrumpf | Zazie in der Metro | Truffauts Text „Wovon träumen die Kritiker?“ | die Filmkritik Nr. 243 über Tourneur von Wolf-Eckart Bühler | Wim Wenders‘ „That’s Entertainment: Hitler“ über Fests Film | Trempers „Große Klappe – Meine Filmjahre“ | Peter Naus „Spätlese“ | Lieber John | Joseph Wambaughs Romanen | Tapping the Source | Black Tickets | Spiel mit Strich und Schnipsel | Pardon | Mad | Klassiker des Horrorfilms | Willy Haas‘ „Die literarische Welt“ | Trumpf-Quartett Luxus-Autos | Baudelaires „Petits poèmes en prose“ | Adornos „Minima Moralia“ | Melvilles „Bartleby“ | Das Kapital | Edgar Wallaces Romanen | den Tip-Filmjahrbüchern | Mishimas „Der Seemann, der die See verriet“ | Die Gesellschaft des Spektakels | Red Sea Diver’s Guide | Bunter Kinder Kosmos | Wir Höhlenkinder | Liebe Nina Hagen! | Asterix – Tour de France | Chandlers „Lebewohl, mein Liebling“ | Ein geisteskrankes Mädchen | Cyrano de Bergerac | Midi-Minuit Fantastique | Dreams and Dead Ends: The American Gangster/Crime Film | The Devil Thumps a Ride and Other Unforgettable Films | Laid Bare – A Memoir of Wrecked Lives and the Hollywood Death Trip | Entre deux censures – Le Cinéma érotique de 1973 à 1976 | einer Anthologie mit Grusel und Geistergeschichten | Novelizations von KRIEG DER STERNE und ALIEN | Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? | Ganghofers „Waldrausch“.

Es ist ob dieses Listenumfangs nur verständlich, dass die beliebten Glamour-Girl, bzw. -Boy Annotationen in diesem SGE-Heft die Form eines Glamour Girl spezial annehmen. Stefan Ertl schreibt darin angenehm und kenntnisreich über Amanda Lear und Mondo Erotico.

Noch vieles gibt es in der neuen Sigi Götz Entertainment Ausgabe. Ein SGE-Gespräch mit dem Siggi Götz Darsteller Rinaldo Talamonti und eines mit Hans Schifferle über die Publikation X-Film („80 Prozent Porno“) –

(…) Irgendwann ist die Süddeutsche Zeitung auf uns aufmerksam geworden. Giovanni di Lorenzo, der damals viel für die Seite Drei geschrieben hat, fand das ein sehr interessantes Projekt und wollte die Hauptakteure sprechen. Er ist dann zu mir in die Wohnung gekommen und hat zwei Stunden mit mir über dieses Thema geredet, das für ihn eine einzige Terra incognita war. Und tatsächlich ist ein großer Artikel auf der Seite Drei erschienen, der ganz wohlwollend geschrieben war. Er fand interessant, daß man sich dem Kosmos der Pornographie mit ästhetischen Kriterien nähert und sich mit der Historie beschäftigt. Trotzdem ist die Reportage ein bißchen ins Merkwürdige gerutscht. Bei mir hat er geschrieben: „Ein junger Mann mit langen Haaren und außergewöhnlich sanftmütigem Auftreten.“ Während des Gesprächs wollte er zudem beharrlich wissen, wieviel Pornos man eigentlich so schauen kann. Ich habe ihm geantwortet, daß man für die Vorbereitung des Heftes die Sachen ja nicht anschaut, um erregt zu werden, sondern wie andere Filme auch. Als er aber nicht lockergelassen hat mit seiner Frage, habe ich gesagt: Manchmal kann man gar nichts sehen, weil einem gleich schlecht wird und manchmal sitzt man mehrere Stunden vor dem Fernseher. Das hat sich dann in der Reportage so gelesen: „In guten Zeiten bringt er es auf zwei oder drei Stunden Pornos täglich.“ Das wiederum hat meine Nachbarn sehr schockiert. „Ihr Sohn macht aber merkwürdige Sachen“, mußte sich meine Mutter anhören. Mich hat das aber eher amüsiert. (…)

Außerdem wieder ein Sigi Götz Sammelbild (diesmal: Rinaldo Talamonti) und das in der Mitte des Hefts angebrachte und daher herausnehmbare Plakat zum 39jährigen Sendejubiläum von XY-Aktenzeichen-Ungelöst, auf dem die Namen der beliebtesten Darsteller dieser Sendung kompakt und praktisch, weil in kleiner Schriftgröße und Blocksatz, abgedruckt sind.

Einem Teil der Auflage liegt die 80seitige Sonderveröffentlichung Golfspielen mit Sigi Götz bei. Abonnenten erhalten als Prämie eine Postkarte aus Matthias Rajmanns Foto-Edition „SGE Unterwegs“.

Bestelladresse: Ulrich.Mannes[at]t-online.de

Samstag, 18.11.2006

Wider und wieder DIE NACHT oder MARCUMAR

Als die Zukunft des Mannes noch die Frau war, hätte sich eine Frage wie diese nie gestellt: Können die Männer den Frauen jemals verzeihen, dass sie genauso hilflos sind, wie die Männer selbst? Was wie eine Abwandlung eines Zvi Rex Zitates klingt (Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen), erwuchs aus der Hoffnung auf die Entfaltung des kreativen Potentials der Frau, angefangen bei Büchners DANTONS TOD, PUPPENHEIMEN und SOMMERGÄSTEN – hier nur als Versuch, eine Reihe zu beginnen. Einhergehende Überhöhungen und Idealisierungen machten es den dann tatsächlich raumgreifenden Frauen nicht unbedingt leichter. Luxemburg, Kollontai, Spielrein – ein ebenso willkürlicher wie unvollständiger Reihungsanfang. Sich die Rettung im Gegenüber zu erhoffen und dessen unerfahrbar Anderes nach getaner Arbeit zu feiern, erlaubt das eigene Verharren im Status quo. Das gilt natürlich in beiden Richtungen. Doch der Topos der intuitiv erkennenden Heilsbringerin feiert je wieder Konjunkturen von Jeanne d’Arc bis Marilyn Monroe. Ende eines Parforceritts.

Ein nicht gelungener Beischlaf auf der Rückbank eines VW-Transporters brachte die Erinnerung an eine ähnlich unglücklich gelagerte Situation am Rande eines Sandlochs auf dem Golfplatz. „Ich liebe Dich nicht mehr, ich liebe Dich nicht mehr!“ sagte die Frau zum wiederholten Male vor etwa 45 Jahren zu einem Mann, den das unbeeindruckt ließ. Vielmehr wurde sie für ihn noch umso begehrenswerter, je mehr sie Widerstand leistete. Er lag auf ihr, sie war unter seinem Gewicht gefangen. Das Paar im Auto dagegen kann weder sich selbst noch irgendjemandem anderen Auskunft über seine Befindlichkeit geben; es ist nicht sich sondern einem Geschehen ausgeliefert, an dem es keinen Teil zu haben scheint. Zwei Ehepaare am Wendepunkt ihrer Beziehung und gleichfalls am Ende des jeweiligen Films. Sieht man AM MONTAG KOMMEN DIE FENSTER aus der Perspektive von LA NOTTE, fällt auf, dass Ulrich Köhlers Film aus abgewandelten Motiven LA NOTTEs gebaut ist. Es gibt hier wie da die abrupte Loslösung der Frau aus dem gemeinsamen Ehealltag, den Weg durch die Welt mit dem Versuch der Erfahrung einer eigenen Sinnlichkeit, die Party mit satten dekadenten Gästen – beide Feste enden im Pool und mit einem nicht vollzogenen Seitensprung; Intellekt wurde durch Sport ersetzt, aber beide verkaufen sich ans Kapital. Die Aufregung und Spannung, die ein Film wie LA NOTTE noch heute hervorrufen kann, rührt her von einer Verheißung – der Verheißung, dass Intuition und Unerschließbarkeit der Frau den Keim zur Rettung der Welt bergen. Und Jeanne Moreau kann dieser Idee einen Körper geben. Dieses bereits in den sechziger Jahren von Antonioni und Godard abgearbeitete Motiv übernimmt Köhler hingegen nicht. Niemand ist in seinem Film grandios im Tun des Ungetanen oder verlässt womöglich den Rahmen über Gebühr. Einzig ein betrunken hingeworfenes JA auf die Frage ihres Mannes: „Findest Du mich eigentlich langweilig?“ scheint als großer Moment auf. Die Geschlechterverhältnisse haben sich verflüssigt, nivelliert. Gefühlstod und Entropie sind die Folge. Dafür lässt sich im Film eine Metapher finden. Sie offenbart sich in einem weiteren Motiv, das zu LA NOTTE parallel läuft: Ein Freund des Ehepaares kommt ums Leben. Während Bernhard Wicki bei Antonioni wahrscheinlich an Krebs stirbt und sein Medikament Morphium nur palliative Bedeutung hat, ist das Medikament in AM MONTAG KOMMEN DIE FENSTER dazu bestimmt zu kurieren, führt aber in den Tod. Der Blutgerinnungshemmer Marcumar macht Blut liquide, seinen Konsumenten allerdings auch zum Bluter. Alles hat zwei Seiten und nichts ist umsonst. Paracelsus: „All Ding‘ sind Gift und nichts ohn‘ Gift; allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.“

Freitag, 17.11.2006

PETER NAU ZEIGT BUNUEL

Filmsamstag, 25.11.06, 18 Uhr

Babylon Berlin Mitte, Studiokino, Rosa Luxemburg Str. 30, 10178 Berlin

Luis Buñuel: CELA S’APELLE L’AURORE
(Das nennt sich Morgenröte)

1955 35mm sw 102 min Frankreich
mit Georges Marchal, Lucia Bosé, Julien Bertheau,
Jean-Jacques Delbo, Gianni Esposito

„Im November ist der Filmkritiker Peter Nau unser Gast.

Er zeigt CELA S’APELLE L’AURORE (1955) von Luis Buñuel, auf Korsika gedreht, nach einem Roman von Emmanuel Roblès. Peter Nau und der Filmemacher Karl Heil sprechen über diesen Film. Wir zeigen ihn in französischer Originalfassung mit von mir eingesprochener Übersetzung.“ (Bärbel Freund)

Das Weib Narses: … Wie nennt man das, wenn
der Tag anbricht wie heute, und alles geplündert
und verwüstet ist, und man dennoch die Luft
einatmet, wenn alles verloren ist, die Stadt
brennt, die Unschuldigen sich gegenseitig
umbringen, die Schuldigen aber im Sterben
liegen, in einem Winkel des anbrechenden
Tages?
Der Bettler: Das hat einen sehr schönen Namen,
Weib des Narses. Das nennt sich Morgenröte.

Jean Giraudoux, Elektra

Luis Buñuel: CELA S’APELLE L’AURORE, 1955

Ansichten von einem pittoresken Mittelmeerhafen, Glockenläuten.

An der Seite des Polizeikommissars macht Valerio, der Arzt der Insel (Georges Marchal), eine Autofahrt ins gebirgige Landesinnere. Am Bett des vergewaltigten kleinen Mädchens, zu dem sie gerufen wurden, begegnet er schicksalhaft Clara (Lucia Bosé). Ihr schmales Gesicht, bleich und anmutig verschlossen, ist von einmalig persönlichem Reiz. Durch ihr schwarzes apartes Kleid, sowie eine dreifache lange Halskette mild schimmernder Perlen kommt zudem etwas phantastisch Luxuriöses in ihre Erscheinung, zumal in einer ländlich archaischen Umgebung.

Den Kommissar, vor dessen schwarzer Seele sich die erwiesene Schuld des verrückten, in einen Hühnerpferch gesperrten Vergewaltigers leuchtend abhebt, gibt Julien Bertheau (Comédie Française) als weichlich brutalen Schöngeist. (Auf seinem Schreibtisch im Kommissariat liegt neben einem Paar Handschellen eine Ausgabe der Theaterstücke Claudels.) Ebenso wie sein Pendant, der Fabrikherr und Gutsbesitzer Gorzone, trägt er stets, auch im Sommer, zum Sakko passende Glacéhandschuhe. Das Bedürfnis, zu bestrafen, wird bei ihm flagrant. Seinem Hang zum Schnüffeln, zum Einbruch in Privatsphären, folgt er auch im Fall des jungen Doktors und Claras: bei Buñuel zeigt das soziale Unrecht am liebsten im Bereich nicht sanktionierter Sexualität seine Zähne. Dabei ist der Regisseur immer zärtlich zu seinen Monstern, man bewundert die sie verkörpernden Darsteller.

In der „Morgenröte“ nahm er sich, mit neorealistischem Touch, der verlassensten Einzelnen an: Sandros, des rechtlosen Landarbeiters, und Valerios, der Sandro in seinem Haus vor der Polizei verbirgt. Einmal, wenn Valerio müde von seiner Arbeit in die Wohnung von Clara kommt, nimmt er aus seiner Jackentasche eine kleine Schildkröte und gibt sie ihr: „Ich habe sie unterwegs aufgelesen, sie heißt Clara“.

Peter NAU

Dienstag, 07.11.2006

anniversary

„new filmkritik“ wird heute fünf. Hier der erste Text. Vielen Dank!

Montag, 06.11.2006

Buch- und Veranstaltungshinweis

„Man wird mich also für befangen halten, wenn ich sage, Lemke sei der Größte seit Helmut Käutner und der Beste dieser Tage, aber so ist es. Das Bild, das schon zu Zeiten von ‚Acapulco‘ gezeichnet wurde, wird endlos durchgepaust. ‚Rocker‘, ‚Paul‘ und ‚Amore’werden ihre verdienten ersten drei Plätze in der Rangliste des deutschen Nachkriegskinos einnehmen, wenn das letzte Butterbrotpapier zum Durchpausen deutscher Filmhistorie in Fetzen geht.“

Schreibt Rainer Knepperges in einem schönen Text über Klaus Lemke. Der Text ist in der taz und in einem Buch zu lesen, das heute nachmittag um 17 Uhr im Museumsraum (4. Stock) des Berliner Filmhauses am Sony-Center, Potsdamer Straße 2 vorgestellt wird: INSIDE LEMKE – EIN KLAUS LEMKE LESEBUCH heißt das Buch, herausgegeben ist es von Brigitte Werneburg, mit Texten von Georg Alexander, Michael Althen, Iris Berben, Wolfgang Büld, Rebecca Casati, Bernd Fiedler, Oliver Fuchs, Alexander Gorkow, Dominik Graf, Frieda Grafe, Mirco Hölling, Rainer Knepperges, Ekkehard Knoerer, Ulrich Kriest, Martin Müller, Anne Philippi, Peter Przygodda, Christopher Roth, Hans Schifferle, Georg Seeßlen, Claudius Seidl, Brigitte Werneburg und Wolf Wondratschek.

Zur Buchvorstellung wird auch Klaus Lemke da sein.

Sonntag, 05.11.2006

Notre musique

„[…] die ungebrochene Kraft des Kinos, Zeugnis von der Welt zu geben. Nicht im Sinne des Festschreibens von Bestehendem, sondern als ein momenthaftes Festhalten von Umständen, die das Potential zur Veränderung in sich tragen.“ (Eine Filmgeschichte der Gegenwart).

Jene ihre Begegnungen – In memoriam Danièle Huillet

Am Montag, dem 6. November 2006, wird der neue Film von Danièle Huillet & Jean-Marie Straub – QUEI LORO INCONTRI – um 20 Uhr im Berliner Zeughauskino gezeigt – zum Gedenken an Danièle Huillet, die am 9. Oktober gestorben ist. Auf der Langtextseite haben wir Erinnerungen, Nachrufe, Notizen und Photos versammelt.

Es wird an dem Abend auch der letzte Film von Huillet/Straub – ein (wiewohl anonymer) Ciné-Tract – EUROPA 2005, 27 OCTOBRE – in deutscher Erstaufführung gezeigt.
Eine Auftragsproduktion von RAI Tre. Enrico Ghezzi bat Anfang des Jahres mehrere Filmemacher (darunter z.B. Francis Ford Coppola) um eine Art „Sequel“ zu Roberto Rossellinis EUROPA ’51 (1952). Dies hier ist nun das erste und bislang einzige Resultat dieser Initiative.
„Es ist kein Geheimnis, aber es mag ein Mysterium bleiben.“
Der Ciné-Tract wurde am 10. April 2006 zwischen 14.30 und 15.30 Uhr in Clichy-sous-Bois bei Paris gedreht, wo am 27. Oktober 2005 kurz nach 18 Uhr drei Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei sich auf dem Gelände des Elektrizitätswerkes in einem Transformatorenhaus verstecken wollten. „Stop! Ne risque pas ta vie!“
Zwei der Jungs – Bouna Traore (15) und Zyed Benna (17) – kamen dabei ums Leben, sie verbrannten lebendigen Leibes. „L’électricité est plus fort que toi!“ Um 18.12 Uhr fiel der Strom aus in Clichy-sous-Bois.
Dieser „Zwischenfall“ war der Anlaß für die sich weithin und über drei Wochen lang ausbreitenden gewalttätigen Unruhen in den banlieues.
Si vous en pleurez encore … Wenn ihr darüber noch trauert …


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