Sonntag, 20.05.2007

Straub / Huillet / Pavese (III)

Chimaere
VERTEIDIGUNG DER ZEIT – Deutschland 2007 – Buch und Regie: Peter Nestler – Redaktion: Inge Classen – Produktion: strandfilm mit ZDF/3sat – 25 min

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Stockholm, April 2004 – Ausschnitte aus Gesprächen bei einer Straub/Huillet-Retrospektive im Schwedischen Filminstitut

Jean-Marie Straub – Also, nix mit Time is Money.

Danièle Huillet – Ja, eben. Die einzigen Waffen, die Sie haben können und die man hat, das ist eben die Zeit. Weil die Leute, die Geld haben, die haben nie Zeit. Weil es ist ganz klar: Geld muß schnell wieder investiert werden. Da kann man keine Zeit verlieren, usw. Wenn Sie aber Zeit haben, dann sind Sie trotzdem stärker, auch auf die Dauer.

JMS – Selbst in einer Welt wie diejenige, die wir erreicht haben. Wir haben ein bissel, wir …

DH – Aber das bezahlt man, das ist klar. Das bezahlt man trotzdem, weil …

JMS – Man bezahlt das nicht. Das sind die Nerven und die Knochen, mit denen das bezahlt wird.

Danièle Huillet und Jean-Marie Straub 2004 in Stockholm

JMS – Die Filme, die wir machen, sind …

DH – Ich glaube, das Problem von den Filmen ist nicht, daß sie intellektuell sind, sondern, daß sie zu einfach sind.

JMS – Ja. Die sind – wie nennt man das – sensuels.

DH – Sinnlich.

JMS – Die sind sinnlich, einfach. Die sind sinnlich, die … erzählen eine Geschichte, die sind Figuren. Aber die sind sinnlich – jede Sekunde da drin bedeutet: Schaut euch das an, das Licht, die Bewegung, hört euch das an, usw. Das ist etwas, was nicht ein zweites Mal passieren wird.

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Türschwelle
© Giulio Bursi

Jean-Marie Straub lebt und arbeitet wieder in Buti. Nächste Woche hat „Das Knie der Artemis“ im Teatro Francesco di Bartolo Premiere. Gewidmet Danièle Huillet, nach dem 6. Dialog („Das Wildtier“) aus Cesare Paveses „Gespräche mit Leucò“.

… die Rückkehr von Jean-Marie Straub, leider allein, der Danièle sein „Lied“ widmet: in einem einzigen kurzen Akt einer leuchtenden, poetischen Beschwörung. Mit der Präsentation dieses Dialoges geheimnisvollster und stärkster Rührung bedanken wir uns bei Danièle Huillet – für alles, was sie uns in all diesen Jahren mit ihrer Sanftheit und ihrer Strenge geschenkt hat, und bei Jean-Marie, der beschlossen hat, von hier aus wieder neu anzufangen – hier, wo er immer herzlich willkommen sein wird, und wo – wie er wohl weiß – in den Lichtungen der Wälder die Erinnerung in ihrer Gegenständlichkeit die Gegenwart überflügeln kann und zum Einzigen wird, woran man festhalten kann, um weitergehen zu können. – Dario Marconcini

Theaterzettel

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Das Wildtier

Wir sind überzeugt, daß das Liebesverhältnis der Artemis zu Endymion kein sinnliches war. Das schließt wohlverstanden nicht aus – im Gegenteil –, daß das weniger kraftvolle der beiden sich sehnte, Blut zu vergießen. Das nicht sanftmütige Wesen der jungfräulichen Göttin – der Herrin des Wildes, die in die Welt emporgetaucht ist aus einem Wald unbeschreiblicher göttlicher Mütter vom ungeheuerlichen Mittelländischen Meer – ist uns bekannt. Ebenso bekannt ist, daß einer, wenn er nicht schläft, gern schlafen möchte und in die Geschichte eingeht als der ewige Träumer.

ENDYMION: […] Fremdling, steige ich auf den Latmos hinauf, so bin ich kein Sterblicher mehr. Schau nicht auf meine Augen, die zählen nicht. Ich weiß, daß ich nicht träume, so lange schon schlafe ich nicht mehr. Siehst du dort auf dem Felsen die Flecken jener Buchen? Heute nacht war ich dort und habe auf sie gewartet.

FREMDLING: Wer mußte kommen?

ENDYMION: Sprechen wir ihren Namen nicht aus. Sprechen wir ihn nicht aus. Sie hat keinen Namen. Oder hat viele, ich weiß. Gefährte, weißt du, was die Waldschrecknis ist, wenn sich da eine nächtliche Lichtung auftut? Oder nein. Wenn du zur Nachtzeit an die Lichtung zurückdenkst, die du tagsüber gesehen und durchquert hast, und es dort eine Blume gibt, eine Beere, die du kennst, die im Winde schwankt, und diese Beere, diese Blume zwischen allem Wilden etwas Wildes, Unantastbares, Tödliches ist? Verstehst du das? Eine Blume, die an ein Wildtier gemahnt? […]

ENDYMION: […] Ich schlief eines Abends auf dem Latmos – es war Nacht – ich hatte mich beim Herumschweifen verspätet, und sitzend schlief ich, gegen einen Baumstamm gelehnt. Ich erwachte unter dem Mond – im Traum hatte ich einen Schauder beim Gedanken, daß ich mich dort in der Lichtung befand – und ich sah sie. Ich sah sie, die mich mit jenen ein wenig schrägen Augen ansah. Ich wußte es damals nicht, wußte es am andern Tag nicht, gehörte ihr aber schon, war schon in den Kreis ihrer Augen, des Raumes, den sie besetzt hielt, der Lichtung, des Berges, gebannt. Sie grüßte mich mit einem verhaltenen Lächeln; und ich sagte zu ihr »Herrin«; und sie runzelte die Stirn wie ein etwas verwildertes Mädchen, als hätte sie mein Verwundern begriffen, und fast erschrak ich im Innern über die Benennung Herrin. Immer blieb dann zwischen uns jener Schrecken. O Fremdling, sie sagte mir meinen Namen und trat mir nahe – das Gewand reichte ihr nicht bis zum Knie – und die Hand ausstreckend, tastete sie mir übers Haar. Fast zögernd berührte sie mich, und ein Lächeln kam ihr, ein unglaubliches, tödliches Lächeln. Ich war im Begriff, ihr vor die Füße zu fallen – ich dachte all ihre Namen – doch sie hielt mich zurück, wie man ein Kind zurückhält, mit der Hand unter dem Kinn. Ich bin groß und kräftig, du siehst mich, sie war stolz und hatte nur jene Augen – ein mageres, wildes Mädchen – ich aber war wie ein Kind. »Du mußt nie erwachen«, sagte sie. »Mußt dich nicht bewegen. Ich werde dich wieder besuchen.« Und fort ging sie über die Lichtung. Jene Nacht durchlief ich den Latmos bis zur Frühdämmerung. Ich folgte dem Mond in alle Schluchten, ins dichte Gehölz, auf die Gipfel. Ich spitzte das Ohr, das mir von jener etwas rauhen, kalten, mütterlichen Stimme wie von Meerwasser noch ganz gefüllt war. Jedes Rascheln und jeder Schatten hielten mich an. Von den wilden Geschöpfen sah ich nur halb, wie sie flohen. Als die Helligkeit kam – ein etwas schwarzblaues, überzogenes Licht –, sah ich von hoch auf die Ebene hinab, auf diese Straße, wo wir einhergehn, Fremdling, und ich begriff, daß ich nie mehr leben würde unter den Menschen. Ich war keiner der Ihrigen mehr. Ich wartete auf die Nacht.

FREMDLING: Unglaubliche Dinge erzählst du, Endymion. Unglaublich darin, daß du lebst und noch immer einhergehst – obwohl du zweifellos auf den Berg zurückgekehrt bist – und dich die Wilde, die Herrin mit den Namen, sich noch nicht zu eigen gemacht hat.

ENDYMION: Ich bin ihr zu eigen, Fremdling. […]

(Deutsch von Catharina Gelpke. Classen Verlag, Hamburg 1958)

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Waldstück
© Giulio Bursi

Im Juni dann die Dreharbeiten zum neuen Film, im Wald von „Il Seracino“ bei Buti – dem Schauplatz von mittlerweile vier Filmen von Danièle Huillet & Jean-Marie Straub, der doch immer wieder neu zu sehen und zu entdecken ist. „Die Unruhe ist wahrhaftiger und schärfer, wenn sie eine vertraute Sache zersetzt. Wir wissen, daß die sicherste – und die schnellste – Art sich in Erstaunen zu versetzen ist, einen selben Gegenstand starr anzuschauen. Eines schönen Tages – o Wunder – wird uns dieser Gegenstand erscheinen, als hätten wir ihn noch nie zuvor gesehen.“

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K. V. – Dank an: Peter Nestler, Dieter Reifarth, Mike Jarmon, Pierangela Hoffmann, Romano Guelfi, Giulio Bursi.

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