Samstag, 06.12.2008

Dem Klassizismus gehört die Zukunft

Kino heißt: Brüche in der zeitlichen Wahrnehmung hervorzurufen. Das ist in der Aneignung und Fortschreibung der neuen Formen – insbesondere der Zeitkonzepte – seit den 60er Jahren vergessen oder verdeckt worden. Die Einseitigkeit der Modernerezeption: Man hat sich für Antonioni entschieden, nicht für Godard. Und zwar weltweit. Das Plansequenzkino, ein gedämpftes, einsinniges Dahinströmen der Zeit, keine Brüche. In Frankreich gilt das für so weit auseinanderliegende Positionen wie die Garrels oder Claire Denis‘, auch für Pialat. Gegen diese totalisierende Tendenz kann und muss man andere Tendenzen stark machen. Boris Barnet oder Leo McCarey, vieles, was es im vermeintlich prä-modernistischen, klassischen (US oder Sowjet-) Kino gab.

Anders als in den übrigen Künsten ist in der Filmgeschichte nie eine Tür zugeschlagen worden. Man kann immer noch alles machen. Es gibt nicht den Punkt (wie in der Malerei), an dem man nicht mehr – oder nur noch ‚meta’ – gegenständlich malen kann. Es gibt nicht den Punkt (wie in der Musik), an dem man keine klassische Symphonie mehr – es sei denn ironisch – schreiben kann.

Alle Türen stehen weit offen. Dem Klassizismus gehört die Zukunft.

[Das hat, so oder so ähnlich, Serge Bozon in der Debatte gestern Abend im Centre Pompidou gesagt. (Er spricht sehr schnell und eruptiv, man versteht nicht alles.) Der letzte Satz – Le classicisme est à venir – ist ein Rohmerzitat, das Bozon gern und immer mal wieder benutzt – oder sich ausgedacht hat, ich finde es jedenfalls grad nicht.]

11 Kommentare zu “Dem Klassizismus gehört die Zukunft”

  1. Ekkehard Knoerer schreibt:

    Das finde ich sehr interessant, gerade vor dem Hintergrund von „La France“. (Bin mir nicht sicher, was nun Garrel, Denis, Pialat angeht. Ans Festival-Gegenwarts-Weltkino denke ich da eher.) Und danke für den Service, ich konnte gestern nicht gucken. (Sehe auch nicht, dass sie das irgendwo archivieren, oder?)

  2. Volker Pantenburg schreibt:

    Er hatte das mit Garrel, Pialat und Denis noch spezifiziert, das kann ich aber nur ohne Gewähr wiedergeben. Sinngemäß: In einem Film wie »Trouble everyday« oder auch »29 Palms« (stimmt Dumont kam auch vor, und der Moderator unterbrach scherzhaft mit den Worten: Das sind ja ungefähr alle, die hier auf anderen Podien saßen) gibt es natürlich Brüche, die sich aber eher über körperliche Drastik artikulieren als über Brüche im Rhythmus oder der Taktung.

    Die Garrelpialatdenis-Sache ist sehr pauschal, das weiß auch Bozon; der Grundgedanke, der vielleicht auch etwas mit einer konzeptuellen Homogenisierung oder mit der Lücke zwischen «Kunstkino« und »populärem Kino« zu tun hat, schien mir dennoch interessant. (Ist vielleicht auch andockbar, was bei Euch nebenan Graf sagt?)

    Nein, leider archivieren sie das nicht.

  3. Stefan Flach schreibt:

    Sehr schön und anregend, diese Gedanken von Serge Bozon zu lesen. Danke fürs „Weiterleiten“, Volker.

    Wiederum wäre zu fragen: Welcher Art sind diese „Brüche in der zeitlichen Wahrnehmung“ (des Zuschauers, der vor dem Film sitzt, nehme ich an), die es in einem prä-modernistischen Kino gegeben haben soll? Oder: inwiefern hat die „Brüchigkeit“ der Godardschen Erzählweise (sagen wir, in den Filmen bis „Pierrot le fou“, die noch nicht in erster Linie essayistisch geprägt sind) zu tun mit Dingen, die es in Filmen von Leo McCarey gibt? Dieser Vorwurf Bozons ist sehr reichhaltig, allerdings bräuchte man konkrete Beispiele. Fällt Dir, Volker, oder einem anderen dazu etwas ein?

    Noch eine Frage: Nehmen wir ein „klassisches“ Werk der Filmkunst (aber auch der Literatur, der Musik, der Architektur), nicht notwendig anders wahr als eines, das aus unserer eigenen Zeit stammt und das wir umgehend als „modern“ einordnen? Haben „Klassiker“ nicht notwendig einen Vertrauensvorschuss, den wir Zeitgenossen viel weniger selbstverständlich zugestehen? Anders gesagt: Besteht der „Klassizismus“ eines Werks nicht gerade auch in der Art und Weise, wie wir es „lesen“?
    Auch hier Godard: In der „Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos“ sagt er einmal, dass wir die Erzählweise von „City Lights“ geradezu als gottgegeben ansehen/annehmen, wohingegen es uns doch ziemlich befremden würde, ginge ein Film heute auf die gleiche Weise vor. Das dürfte damit zu tun haben, dass wir Chaplin – unwilllkürlich – viel mehr in der Sphäre des Klassizismus erkennen als einen Film, der heutzutage entsteht. Zum „Goldenen Zeitalter“ nicht nur Hollywoods gehört es vielleicht notwendig, dass man nicht selbst darin lebt und es vielmehr eine Epoche darstellt, der wir uns heute – und das ist schon was! – als einer Utopie zuwenden?

    Aber wie auch immer: allein dass heutzutage jemand behauptet, dass „Türen offen stehen“, ist ein ausgezeichnetes Signal. Hoffen wir, dass viele es hören und sich zu Herzen nehmen.

  4. Stefan Ripplinger schreibt:

    „Totalisierende Tendenz“? Godards Form lebt fort im Werbeclip. Wer einen Bruch setzt, hat noch lange nichts aufgebrochen.

  5. Volker Pantenburg schreibt:

    @ Stefan (Flach): Ich versuche kurz zu rekonstruieren, in welchem Zusammenhang Bozon dieses knappe Manifest (das in der Diskussion deutlich weniger manifestartig klang als es in meiner apodiktischen Aufzeichnung wirkt) sprach:

    Die gesamte Podiumsdiskussion trug den Titel „Les modèles narratifs. Crise ou renouvellement“ – unterhalb der Krisenbehauptung ist heute ja leider keine öffentliche Diskussion mehr aufzuziehen. Es ging also dezidiert um das Erzählen und, genauer, an dieser Stelle der Diskussion um Fragen von Genre. Tatsächlich ist Bozons LA FRANCE ja (so etwas wie) ein „Kriegsfilm“ und erinnert wegen der Songs zugleich an (so etwas wie) ein MUSICAL. Bozons Erwiderung lief so (meine Interpretation aus der Erinnerung), dass im Hollywood- oder Mosfilmkino ein Reichtum an Erzählformen zu beobachten war, der in der Stilisierung der „neuen Erzählformen“ übersehen wird. Kriegsfilme, in denen gesungen wird, Musicals, in denen Panzer auf die Bühne fahren etc. (meine Beispiele). Für McCarey denke ich, es geht wirklich um die Dynamik von Erzählrhythmen, Tonfällen und solche Dinge. (Ohnehin, so meine Ergänzung, sollte man vielleicht viel mehr Filme aus den 30er Jahren anschauen.)

    „Klassizismus“ und „Klassiker“ sind, denke ich, zwei unterschiedliche Dinge. Um „Klassiker“ im von dir beschriebenen Sinne geht es, glaube ich, weniger. Eher um die Überlegung, was ein heutiger oder morgiger Klassizismus denn sein könnte. Dass Bozon damit implizit wohl auch LA FRANCE als „klassizistischen Film“ beschreibt, darf man wohl vermuten.

    @ Stefan (Ripplinger): An der Totalisierungseinschätzung Bozons kann man – glaube ich – ablesen, dass in der Debatte nicht nur ausschließlich vom Kino die Rede war, sondern noch dazu von einer bestimmten Form von Kino, die in Frankreich in den „Art et Essai“-Kinos läuft und vor allem auf Festivals vertreten ist.

    Godard und die Werbung: Da müssen wir bei einem Kaffee drüber sprechen. Hier nur ein Link zu meinen Lieblings-Werbeclips von Godard (am besten ist der bei 3:40).

  6. goncourt schreibt:

    Zur zugeschlagenen Tür: ob hierzu nicht beiträgt, dass andere Künste stärker durch ihre formalen Mittel definiert und zeitgebundener werden (Kubismus-Kuben sehen heute einfach nicht mehr modern aus)? – Der Film aber eben immer noch auch durch das, was vor der Kamera stattfindet und seine eigene Geschichtlichkeit von außen in den Film hineinträgt („moderne Akteure“ a=> „moderner Film“, das ist natürlich zu simpel, aber in Gibsons „Versuchung“ sieht man vielleicht, was ich meine). Dadurch ist Film als Kunstform von Anfang an vielleicht offener/unabgeschlossener.

  7. Stefan Flach schreibt:

    Danke für Deine Erläuterungen, Volker. Tatsächlich muss man „Klassiker“ und „Klassizismus“ (auch wenn man diesen sowieso abseits von der Nachahmung der griechischen Antike sieht) auseinanderhalten, und mir war gestern, als ich meinen Kommentar schrieb, schon nicht ganz wohl, da ich beide Begriffe eher zusammenpackte.
    Allerdings wäre auch hier zu überlegen, wie es ein bestimmter, einigermaßen frei-flottierender Reichtum an Erzählformen, den es in der Hochblüte des amerikanischen (und womöglich auch des sowjet-russischen) Kinos gab, es dazu gebracht hat, heute mit einem Wort wie „klassizistisch“ belegt zu werden? Nicht, dass daran riesig viel auzusetzen wäre, mich würde nur die „Entwicklung“ der Begrifflichkeit in diesem Zusammenhang interessieren.

    Hier noch etwas (zufällig gefunden) zur Nähe und/oder Ferne eines vermeintlich klassischen Filmemachers zu einem vermeintlich modernen:

    „I write with the camera“
    „Le cinématographe est une écriture“

  8. Rainer Knepperges schreibt:

    Tausend Dank für diese Links. Zwei Lektionen Einsamkeit. „Klassisch“ und „modern“, forsch und schüchtern, JA und NEIN sind auch in diesen wilden 9 Minuten nicht zu trennen:

    http://www.youtube.com/watch?v=iXT2E9Ccc8A&feature=related

  9. Wolfgang Schmidt schreibt:

    Hier taucht die Fragestellung etwas verkürzt – also genauso, nur eben ganz anders – als lange Qualitätseinstellung gegen Schmuddelguerilla mit Handkamera wieder auf:

    „Wenn es, statistisch betrachtet, eine quantifizierbare Eigenschaft gibt, die den Festivalfilm vom gängigen Mainstreamkino unterscheidet, dann ist es wohl eine Vorliebe für die lange Einstellung. Man könnte auch sagen: die Bevorzugung des intensiven Schauens gegenüber der sensorischen Überrumpelung.Das ist, wie gesagt, eine statistische Aussage.“

    Thomas Rothschild: AUF DEN KONTEXT KOMMT ES AN, 08.12.2008

  10. Akos Gerstner schreibt:

    kurz zu Antonioni –
    Die Entscheidung Plansequenzen zu verwenden, die Inszenierung langsam zu gestalten oder wenig Dialog einzusetzen, ist zunächst einmal kein Kennzeichen für eine wie auch immer geartete Monotonie oder stilistische Armut, und es ist erst recht keine zutreffende Beschreibung dessen, was Antonioni für das Kino geleistet hat. Es ist ein völliges Missverständnis anzunehmen, nur weil ich geometrisch kadrierte Einstellungen drehe und eine stumme Frau, würde ich damit bereits dem künstlerischen Erbe Antonionis gerecht. Das ist Karikatur sonst nichts.
    Antonioni war präzise und zugleich unglaublich verschwenderisch. Die irre Präsenz seiner Filme, seine satten, mit Details übefließenden Bilder, das Leben das in ihnen steckt, sind dem Formalismus, dem falschen Puritanismus von dem bei Bozon die Rede ist, doch so fremd wie sie nur sein können. Ich würde sogar so weit gehen und Antonioni als barock bezeichnen. Selbstverständlich berufen sich die unterschiedlichsten Leute heute noch auf ihn – selbst wenn das meiste davon nur Imitatoren sind.
    Mindestens so legitim wäre es z.B. über Verwandtschaften zwischen Antonioni und einem Klassizisten wie Visconti (oder gar Minnelli) nachzudenken. Und die Verwandtschaft zwischen Antonioni und Godard sollte kein Widerspruch, sondern eine Selbtsverständlichkeit sein.
    (Und wäre es nicht auch vorstellbar, dass Antonionis Kino sich viel weiter verzweigt in die Tiefen des Kinos, als man für gewöhnlich annimmt? Vielleicht steckt in Lynch ja genausoviel Antonioni wie in Denis, in van Sant so viel wie in Garrel, oder in Almodovar mehr als in Dumont. In Horrorfilmen mehr als im Kunstkino…Vielleicht zu spekulativ, aber um die Idee zu veranschaulichen.)

    Bozon jedenfalls hätte heute nichts zu beklagen, hätte man sich tatsächlich für Antonioni entschieden.

    (Weil hier die letzten Tage auch über Antonioni die Rede ist. Siehe Wolfgang Schmidts Langtext zu Rote Wüste)

  11. Akos Gerstner schreibt:

    Da fällt mir ein, Greencine hat im Sommer ausführlich über Bozons „La France“ berichtet. Für alle denen der Film entgangen ist:
    http://daily.greencine.com/archives/006365.html

    Einmal fällt auch das hübsche Wort „clusterfuck“.

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