Mittwoch, 03.06.2009

Monogatari

In Japan gibt es den Brauch, an touristischen Orten Stempelkissen mit Motivstempeln aufzustellen. Das scheint eher für einheimische Reisende gemacht, selten für Europäer – jedenfalls verzichtet man auf eine englische Übersetzung der Schriftzeichen; es wird auch kaum darauf hingewiesen. Schulklassen auf Ausflügen, Leute wie wir, wer halt grad vorbeikommt kann dort sein Notizheft stempeln, so wie man früher im Innenhof von Schloss Burg oder am Fuß der Müngstener Brücke 50-Pfennig-Stücke in Souvenirmünzen umprägen konnte. (Mir gefiel schon damals, dass bei diesen Gelegenheiten kein Tausch, keine Wertschöpfung im konventionellen Sinne stattfand, sondern lediglich eine Umwandlung von materieller in immaterielle Währung. Strenggenommen zog man ja sogar – in bescheidenem Maß – Geld aus dem Verkehr und wirkte mikroskopisch-deflationierend auf den Geldkreislauf ein.)
Die Erinnerung an den Ort kauft man nicht, man prägt sie sich ein.

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Diesen Stempel findet man am Bahnsteig der »Enoden-Scenic Railway«, die von Enoshima nach Kamakura dicht an der Küste entlang fährt. Am 21. Mai habe ich ihn hinten in der Rubrik »Notes« in den Reiseführer gestempelt. Ozus Grab ist nicht weit von dort gelegen, der terassenförmig ansteigende Friedhof ist Teil einer malerisch gelegenen Tempelanlage. Ohne genaue Hinweise wäre es schwer, das Grab zu finden, aber inzwischen gibt es Leute, die detaillierte Beschreibungen im Internet hinterlegt haben. So steht man schließlich vor dem vielbeschriebenen Gedenkstein mit dem Zeichen für »Nichts«, vor dem ein paar Blumen und verschiedene Flaschen und Dosen mit alkoholhaltigen Getränken aufgestellt sind. Wenige hundert Meter weiter, zu einem Zen-Klosters gehörend, liegt ein weiterer Friedhof, auf dem uns ein Grab besonders erschien. Wir konnten die Schriftzeichen nicht lesen, aber ein Mann erläuterte auf Nachfrage, dort sei Tanaka Kinuyo begraben. Später lese ich, dass sie nicht nur bei Ozu, Naruse, Gosho und Mizoguchi häufig gespielt hat, sondern auch als die erste japanischen Regisseurin gilt. Mit Shimizu Hiroshi war sie in den Zwanziger Jahren kurz verheiratet.

All diese Namen klingen so sehr nach einer weit zurückliegenden Vergangenheit, dass man unwillkürlich darüber nachdenkt, wo Hara Setsuko wohl begraben ist, die sich nach Ozus Tod 1963 vollständig aus dem Filmgeschäft zurückzog. Ein Anflug von Scham durchströmte mich, als ich erfuhr, dass sie keineswegs tot ist, sondern – »abgeschieden«, wie es in solchen Fällen immer heißt – in Kamakura lebt, wahrscheinlich kaum einen Kilometer von den Gräbern Ozus und Tanakas entfernt.

In zwei Wochen, am 17. Juni wird Hara Setsuko 89 Jahre alt, vielleicht sitzt gerade jemand daran, eine Retrospektive zu ihrem 90. Geburtstag im kommenden Jahr zu planen.

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