Freitag, 14.08.2009

Ein anderes Kino ist möglich. Eine Art Anrufung

Man sollte öfters über die Dinge erst nach Monaten schreiben, um zu sehen, was sie mit einem getan haben in der Zwischenzeit, und was überhaupt bleibt von dem, was man damals sah und vielleichte liebte, zumindest schätzte. Mit den verwehenden Wochen und Monaten lösen sich dann vielleicht auch jene Knoten, die das Glück einem ums Schreibhandwerk warf – manchmal dauert’s, bis man wirklich sagen kann, was man denkt und fühlt, bis es aus einem ’raus will und kommt als „emphatischer Text über das Kino, der selbst funktioniert wie ein Film“ (Hans Schifferle); vielleicht.

Die Viennale’08-Schau des Österreichischen Filmmuseums, Los Angeles. Eine Stadt im Film, z.B., deren Filme wie generelle Haltung zum Kino wie zum Leben (und selten war dieses ‚wie’ so angemessen!), hat nachgewirkt, wühlt in mir, wirkt weiter fort: in der Lust, sie im Detail fortzuführen, einzelnen Namen und Werken nachzuspüren.

Allen voran: Fred Worden und Chris Langdon, im Duo wie jeweils Solo, weiters David Wilson und Rob Thompson, wobei anscheinend niemand weiß, was aus letzterem wurde nach dessen konkret kakophoner AV-Symphonie S.W.L.A. (1971), einem urbanen Cousin von Wilsons metafilmischen Landschaftsstudien Saturn Cycle (1974) und Dead Reckoning (1980)… Von dem Duo Worden & Langdon liefen in Wien Now, You Can Do Anything, eine liebevoll-ironische Miniatur zur Surf-Kultur, gedreht auf Infrarotfilm bei strahlendem Sonnenschein, sowie Venusville, eine Studie in Kiffer-Strukturalismus mit tiefsinnig-angedröselten Worten noch zu den minimalsten Veränderungen im Bild einer Palme, beide von 1973; an Solo-Werken gab’s Gypsy Cried (1973) zu bestaunen, Chris Langdons schwarz-weißes Hohelied auf das Schallplatten-Hören (dessen sorgfältiges Farbremake auf youtube für fröhliche Verwirrung sorgte) und Fred Wordens Throbs (1972), einer seiner frühesten Angriff auf den Sehnerv, von denen er in den folgenden Dekaden noch so einige starten –, während sich Langdon erst auf perverse Pop-Poeme kaprizieren, und schließlich einer Geschlechtsumwandlung unterziehen würde.

Ebenfalls eingebrannt in die Seele haben sich: Hickey & Boggs (1972), die einzige Regiearbeit des Schauspielers Robert Culp, deren Midlife Crisis-Melancholia wie stur-ingrimmige Ritualversessenheit der Idee des dialektischen Materialismus völlig neue Seiten abgewinnt, sowie Michael Apteds HBO-produzierter, in ganz eigenartigen Zwischenfarben strahlender Always Outnumbered, Always Outgunned (1998), in dem ein Mann mit einem Herz voller Gewalt versucht, seinen Frieden mit sich und der Welt zu machen, und gleichzeitig für ein bißchen Gerechtigkeit auf den Straßen seines Viertels zu sorgen – beides ganz moderne, von allem romantischen Schlick bereinigte, um die soziale Wirklichkeit ihrer mean streets wissende noir-Etuden, in denen zu fühlen ist, was es bedeutet, einsam zu sein.

Kreise im Schädel zieht auch Jack Hills unvergleichlich brut-proletarisches Indiesploitation-Portrait einer ultra-obskuren stock car-Subkultur, wo so lange auf einer geschlossenen Acht (muß man sich wie ein Unendlichkeitssymbol vorstellen) ineinander rein gerast wird, bis halt ein Auto übrig bleibt, der Rest ist Schrott: Pit Stop (1969)… der crasht in den Synapsen regelmäßig mit H. B. Halickis materialistischen Monument Gone in 60 Seconds (1974), der zufällig am Tag lief, als sich Haider ins Jenseits schrottete, was der Vorführung ein gewisses Moment der Zufriedenheit verlieh… Del Lords hysterischer Lizzies of the Field (1924) rast plötzlich gackernd vorbei, mit einem Mack Sennett, der dabei am Lenkrad kurbelt, als gäb’s Sonderpunkte für besonders kreative Drehungen… dessen kuriose Verrenkungen nehmen sich neben Fred Halsteads sublim-panerotischer Erzählung einer Heimsuchung, Sex Garage (1972), plötzlich etwas eigen aus, schließlich gibt’s hier auch einen BDSM-Engel aus der Hölle, der seinen Chopper in den Auspuffsarsch fickt, was schon allerlei Verrenkungen im Knie bedarf… dessen Heten-Brüder, die Biker in Roger Cormans immer wieder erstaunlichen The Wild Angels (1966), zen-masters without a cause allesamt, schauen allein mit Verachtung in eine Zukunft, die nichts von ihnen wissen will, und der sie doch entgegenbrettern auf Motorrädern, die strahlen wie der erste Morgen der Menschheit… George Lucas’ 1:42.08 (1966), schließlich, spricht dann von der schönen vanitas des Autorennsports, verhalten. Und überhaupt, wer hätte gedacht, daß Lucas mal wirklich großartige Filme gemacht hat, während seines Studiums nämlich, siehe auch The Emperor (1967)?

Doch worum ging’s eigentlich? Thom Andersen präsentierte 2003 seinen epischen Film-Essay Los Angeles Plays Itself: eine Abrechnung mit der verkommen-liederlichen Lalaland-Art, seine Heimatstadt darzustellen, darin ein Versuch über eben jene Politik, die sich in diesen Zerzerrungen offenbart, was bei einem veritablen zoon politikon wie ihm konsequenterweise zu einem Gegenentwurf führte – für ein anderes Kino, damit eine andere Politik. Los Angeles Plays Itself ist in seinem Gehalt wie seiner Gestalt: solidarisch, prolaterisch, anti-kapitalistisch in einer angenehm entspannt-präzis-konzis-großzügigen ie. authentisch linksamerikanischen Art.

Als Andersen 2003 seinen fast dreistündigen Akt modernistischen Widerstandes über Los Angeles, das Kino und die Architektur vollendete, war nicht davon auszugehen, daß er konkrete Folgen zeitigen würde – aber man konnte darauf hoffen, denn so ein Werk setzt man nicht hoffnungslos in die Welt. Mittlerweile kann man sagen: Keine zeitgenössische Dokumentation hat derartig viel verändert wie Los Angeles Plays Itself. Materialistisch gesprochen heißt das:

– Auf Grund von Los Angeles Plays Itself wurde der Filmemacher Kent Mackenzie (wieder)entdeckt, sein Hauptwerk The Exiles (1958-61) restauriert und letztes Jahr, also rund ein halbes Jahrhundert nach Drehbeginn, in die US-Kinos gebracht – zu seinen Lebzeiten war The Exiles nie kommerziell ausgewertet worden. Mittlerweile wurde weiters Mackenzies Vorstudie zu The Exiles, eine konzis-poetische Studentenarbeit namens Bunker Hill 1956 (1956) restauriert und wieder verfügbar gemacht.

– Ähnliches läßt sich über die L.A. Rebellion, insbesondere das Frühwerk von Charles Burnett sagen, dessen Langfilmdebüt Killer of Sheep (1977) in der ersten Jahreshälfte 2008 – in diesem Fall also nach rund drei Dekaden – seinen US-Start erlebte. Zudem konnte Burnett endlich dessen très maudit Folgeprojekt My Brother’s Wedding (1983/2007) in seinem Sinne vollenden – der Film, eine ZDF-Koproduktion, war damals für seine Fernsehaustrahlung hastig in eine vorführbare Form gebracht worden, dort wie bei seinen wenigen Festivalpräsentationen weitestgehend durchgefallen, und dann verschwunden (die damals gezeigten 115’ waren de facto ein Rohschnitt; wie roh, läßt die Länge des „Director’s Cut“ erahnen: 83’). All das, jedoch, mehrte nicht das Interesse an Burnetts aktueller Arbeit, Nujoma: Where Others Wavered (2007)…

– Weniger wiederentdeckt als kulturell radikal neu bewertet wurden die Werke wie Karrieren von Fred Halsted und H.B. Halicki: Ersterer war ein frühes, zum Experimentellen tendierendes Genie des Schwulenpornos (u.a. L.A. Plays Itself, 1972), letzterer ein Schrottplatz-Entrepreneur cum Stuntman ie: auteur sur-complet, dessen schmales Oeuvre (u.a. besagter Gone in 60 Seconds und The Junkman, 1982) beseelt ist von Autoverfolgungsjagden totalschadenwärts. L.A. Plays Itself wurde mittlerweile von William E. Jones in einem veritablen Akt der Verehrung kleinteilig auf Video rekonstruiert, während Halickis Witwe von Gone in 60 Seconds zwar eine – auch schon wieder verschwundene – neue Kopie ziehen ließ, dabei aber die Musik des Films austauschte, statt kontinentalurbanen Country gibt’s jetzt Retro-Funk.

Los Angeles. Eine Stadt im Film ist die wahrscheinlich epischste Folge von Los Angeles Plays Itself – dessen Filmprogrammversion, wenn man so will, dh. die Reihe illustrierte den Film nicht bloß, sondern schöpfte ihn nach, weshalb so einiges, was da an Filmen im Film zitiert wurde, in Wien nicht lief (darunter Werke von Jack Webb und Jacques Deray, die man schon gerne mal – wieder – gesehen hätte, so ist’s ja nicht…), während viele, viele Perlen des Programms in Los Angeles Plays Itself weder zitiert noch überhaupt erwähnt werden – das eine ist der Film und das andere ist die Reihe. So.

In so mancher Hinsicht entsprach Los Angeles. Eine Stadt im Film der Topographie dieser Vielstädtemetropole: ein falsches Zentrum, symbolisiert durch Billy Wilders mit den Jahren immer akademisch-belangloser werdenden Sunset Boulevard (1950) – wie viel lieber schlendert man über Robert Floreys von so manchem dramaturgischen wie inszenatorischen Schlagloch gezeichneten, und doch in seinen Unebenheiten so ungleich vitaleren Hollywood Boulevard (1937)! -, umgeben von Stadtteilen und Vorstädten, die man im Kino nur selten sieht und deren Bewohner die Bildmachthaber und deren Büttel allzu oft bloß peinlich klischeeisiert darstellen – nennen wir sie: die Fußgänger und die Omnibusbenutzer.

Angemerkt sei hier kurz und knapp und klipp und klar, daß das Wiener Publikum mit diesen Menschen und Filmen wohl nicht allzu viel zu tun haben wollte, und daß man da in Raritäten – in Kopien meist so schön, daß man hätt’ heulen können – zu oft mit vielleicht vier Handvoll Menschen saß, die dann auch normalerweise ganz glückselig waren und mit einer Ahnung davon, wie es anders sein könnte, in die Nacht gingen, schon wahr, – dennoch, sah man die Massen bei Wilder und die Wenigen bei Florey oder Culp oder Hill, dann konnt’ einem schon traurig werden ums Herz…

Doch zurück zu und weiter mit den Fußgängern und Omnibusbenutzern – wer die konkret sind, kann man sich denken: Die Afro- und die Hispano- und die überhaupt ureigentlichen Amerikaner, die Mindestlohnarbeiter, die Entfremdeten, die Kunstkinobahnbrecher und die Kurz- und die Experimentalfilmemacher, die Amateure und die Künstler, die Satanisten und die Hippies und die Schwulen und die Junkies und all diejenigen, für deren Geschlechter die Durchschnittsgesellschaft keine Namen kennt, die Neorealisten und die Essayisten, die Genre-Agitatoren, -Aggressoren und -Transgressoren, und die auf der Strecke gebliebenen, weil sie nie einen Fuß in die entsprechenden Türen bekamen oder weil man ihnen diesen Fuß da in der Tür irgendwann mit einem Vorschlaghammer zerschmetterte oder weil sie irgendwann einfach nicht mehr konnten oder wollten und dann selbst den Fuß rausgezogen und sich getrollt und schließlich den Weg des geringsten Wiederstandes gewählt haben. Dafür stehen Filme wie: Billy Woodberrys Bless Their Little Hearts (1984), ein ganz spätes Hauptwerk der L.A. Rebellion, entstanden zu einem Zeitpunkt, da etablierte Sozialstrukturen zerfielen und die Gangs begannen, Stadteile wie South Central zu übernehmen; Bruce Conners Breakaway (1966) und Stan Brakhages Zone Moment (1956), Raritäten ihrer Meister, wohl weil sie anders sind als das Gros ihres jeweiligen Schaffens, und schade eigentlich, daß Brakhage nie wieder zurück fand zu jener All American Verletztlichkeit, diesem opaken Strahlen; Ben Maddow & Sidney Meyers & Joseph Strick (& Irving Lerner)s The Savage Eye (1960), eine merkwürdige Mixtur aus Marxismus, Manierismus und mondo movie über Geilheit und Verlassenheit irgendwo zwischen Bergman in einem Mizoguchi’esken Moment und den Maysles-Brüdern circa Grey Gardens (1975); alle Werke von Ray & Charles Eames; Curtis Harringtons blau-helle Cameron-Anrufung The Wormwood Star (1956), nach deren Vollendung die legendenumwogene Malerin und Okkultistin fast alle ihre im Film zu sehenden Werke vernichtete; Amy Heckerlings Fast Times at Richmond High (1982), dessen ironisch-liebevolle Menschenfreundlichkeit wie Exaktheit in der Auslotung sozio-ökonomischer Verhältnisse einem klar vor Augen führen sollte, welche Verluste diese Gesellschaft, damit das Kino im letzten Vierteljahrhundert einfach so hingenommen hat – man muß sich einfach nur mal die Körper der Darsteller anschauen und ihnen zuhören, wie sie über ihre Scheißjobs reden und wie sie mit Abtreibungen umgehen…; Joseph Strick & Irving Lerners Muscle Beach (1948) und Pat O’Neill & Robert Abels By the Sea (1963), die sich gemeinsam mit Now, You Can Do Anything zu einem wunderbaren Tryptichon zur flitter-flatterhaften Schönheit aller Strandvergnügungen finden – Fred C. Newmeyer & Hal Roachs Number Please (1920) müßte man da eigentlich auch noch hinzunehmen (und weg ist die Dreizahl), schließlich kämpft Harold Lloyd hier am Venice Beach um seine Liebe, was wiederum Gary Beydlers streng metrische Landschaftsfilm-Exerzitie Venice Pier (1976) umgehend unumgänglich macht; und schließlich Kent Mackenzies Bunker Hill 1956, zugleich Vorstudie für sein neorealistisches magnum opus über die gestrandeten Indianer vom Angel’s Flight, The Exiles, wie ein perfekter Vorfilm für Robert Aldrichs axiomatischen Apokalypse-noir Kiss Me, Deadly (1955), die alle bald zu Dokumenten eines per Stadtplanung verschwundenen Stadtteils wurden.

Um all das ging es in Los Angeles. Eine Stadt im Film, das konnte man sehen, mit sich nehmen ins Leben, als Beispiel. Man konnte erfahren, daß die Filmgeschichte noch lange nicht vorbei und bis ins kleinste Detail geläufig und geklärt ist, und daß diese Klärung ein ganz entschiedener politischer Akt ist, und daß es um Zusammenhänge gehen muß und nicht kleinmütige Egoismen.

– Olaf Möller –

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