Schnittke als Filmkomponist
Alfred Schnittke hat, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, jahrzehntelang Musik für Filme geschrieben, „und bei weitem nicht nur für Filme, die mich interessiert haben“. Im Ernst begeistert er sich nur für Bergman und für Tarkowski, mit dem er zusammengearbeitet hat. Was die andern betrifft, pflastern unzählige Märsche, Walzer, sentimentale Dekors für Landschaftsbilder und Liebeleien seinen Weg. „Im Westen arbeitet derzeit kein Komponist, der redlich ist und auf sich hält, fürs Kino. Das Kino wird immer seine Formen dem Komponisten aufzwingen. Die Zusammenarbeit zwischen Eisenstein und Prokofjew ist die große Ausnahme, vielleicht gibt es noch andere. Aber selbst Schostakowitsch musste sich dem Diktat der Regisseure beugen. Dagegen kann man nichts machen – es geht auch gar nicht so sehr um die Maßgaben des Regisseurs als um die des Mediums. Wer sich dessen bewusst ist, kann mit denjenigen Regisseuren zusammenarbeiten, deren Filme interessante Herausforderungen für die Musik aufwerfen – und das habe ich in den letzten Jahren versucht.“ (Alexander Ivashkin, Hg., A Schnittke Reader, Indiana University Press: Bloomington & Indianapolis 2002, S. 50)
Es ist aber gerade Schnittkes Genie, dass er die öde und blöde Welt nicht links liegen lässt, sondern in seinen polystilistischen Kompositionen aufgreift, verzerrt, verkehrt und verwandelt. Und so erscheint seine eigene Filmmusik in dem hinreißenden Concerto Grosso Nr. 1, unter anderem ein Tango, übrigens ein gefährlicher Ohrwurm, aus seiner Musik für Elem Klimows „Agoniya“ (1981) – nach den scores zu urteilen, die Frank Strobel eingespielt hat, eine seiner besten Filmmusiken. „Ich träume von einem einheitlichen Stil, in den Fragmente von ernster und unterhaltsamer Musik nicht bloß frivol eingestreut sind, sondern Elemente einer andersartigen musikalischen Realität bleiben, Elemente, die originalgetreu gespielt werden, aber zur Manipulation benutzt werden können – seien es Jazz, Pop, Rock oder serielle Musik (denn auch die Avantgarde ist zur Gebrauchsmusik geworden). (…) Also führte ich innerhalb des Rahmens eines neoklassischen Concerto Grosso Fragmente ein, die nicht zum sonstigen Stil des Stücks passen und die zuvor Teil von Kinopartituren waren: einen munteren Kinderchoral (zu Beginn des ersten Satzes und auf dem Höhepunkt des fünften; auch in den andern kehrt er wieder), eine nostalgisch-atonale Serenade – ein Trio (im zweiten Satz), einen echten Original-Corelli ‚made in the USSR’ und den Lieblingstango meiner Großmutter (im fünften Satz), den ihre Urgroßmutter auf ihrem Cembalo zu spielen pflegte …“ (S. 45)
Aber die Brotarbeit fürs Kino hat noch andere Auswirkungen. Die Montagetechnik in „I vsyo-taki ya veryu…“ (And Still I Believe / The World Today), einem Dokumentarfilm von Klimow, Marlen Khutsijew und Michail Romm, welch letzteren Schnittke sehr bewundert hat, beeinflusste nach eigenem Bekunden seine Erste Symphonie (1972). Ein phantastisches, wüstes Stück Musikmontage, ein Kinostück.