Oktober 2009
Montag, 26.10.2009
Sonntag, 25.10.2009
Bilderzählung
Ein Goldschmied schmilzt in Anwesenheit eines Notars den Schmuck einer Frau ein.
[Jan Steen, Der Alchimist, ca. 1668-1670, gesehen im Städel Museum, Frankfurt/Main]
Sonntag, 18.10.2009
Cinecittà Aperta
Gestern waren wir im Prater bei „Cinecittà Aperta“, dem neuen Stück von Rene Pollesch. Ein Vorspann auf der Leinwand klärt das Publikum darüber auf, was heute zu erwarten ist. Es geht um die Schwierigkeiten einer Neuverfilmung von „Deutschland im Jahre Null“. In Film- und Schauspielszenen, die sich gewohnt halsbrecherisch-gekonnt abwechseln, geht es um die Nöte von Regisseur und SchauspielerInnen, Körper und Geschlechter und Identitäten wechseln dabei wie immer bei Rene Pollesch. Identitätskrise beim Regisseur: „Nein, ich will nicht inszenieren!“ fällt ihm plötzlich ein. Oder Wirklichkeitsverlust einer Schauspielerin, die leugnet, welcher Art der Film ist, in dem sie spielen soll. „Wir drehen doch Franz von Assisi!“ Das interessiert sie nicht, denn sie hat schon ihr Kleopatra-Kostüm angelegt. Manchmal verpasste man gleich zwei Pointen, weil das Publikum noch über die wahnwitzige Wendung davor lachte. Manchmal standen auch Sätze auf der Leinwand in Ruhe nachzulesen. Von den hinreißenden Schauspielerinnen ist die fabelhafte Inga Busch besonders zu preisen. Wie sie etwa in einer Szene koboldhaft-mütterlich den beiden Männern, die sich in minderjährige, niedliche Zuhörer verwandelt haben, zur guten Nacht vorliest, das ist unglaublich komisch. Ich kenne Inga Busch erst seit Robert Bramkamps „Prüfstand VII“ (2002) und habe sie seitdem hauptsächlich auf der Bühne gesehen. Sie ist unvergleichlich – für mich die Größte!
Dienstag, 13.10.2009
Marran Gosov
„Der Gleichgültige“ hieß der Roman, den der Malereistudent in politischer Haft im bulgarischen Gefängnis schrieb. 1960 ging er in die BRD, war schon ein paar Jahre älter als Klaus Lemke, Martin Müller, Zihlmann oder Thome, und wurde deren Vorbild, Motor, Spielmacher. Das heiße Material aus dem zum Beispiel SABINE 18 (mit Müller, Lemke und Sabine Wengen) 1967 gegossen wurde, war Gold aus der gleichen Ader: München, Schwabing, Türkenstraße.
Das Düsseldorfer Filmmuseum zeigt morgen, am Mittwoch, um 20 Uhr eine kleine Auswahl der zahlreichen Kurzfilme und seinen letzten Kinofilm aus dem Jahr 1972. Beim Besuch der Retrospektive im Filmclub 813 im letzten Herbst gab Marran Gosov sehr sympathisch zu verstehen, die Filme seien inzwischen von ihm „weit weg“. 1973 entstand das überragende, viertelstündige Meisterwerk: NACH LANGEN JAHREN EIN WIEDERSEHN MIT MEINEM BRUDER AUS BULGARIEN WÄHREND EINER KURZEN ZWISCHENLANDUNG IN MÜNCHEN. Ein knallharter Film über den Stolz.
In Schwabing fand ich im Sommer in einem Laden auf der Türkenstraße eine LP von Marran Gosov aus dem Jahr 1980. Weil sie ein Vermögen kostete, konnte ich nur den Text von der Rückseite der Plattenhülle in mein Notizbuch abschreiben:
„Auch ich bin ein von Zukunftserfahrungen gebranntes Kind, zurückgefallen auf mich selbst und ahne schon die Gewissheit, dass am Ende nur jene Güte beweisen werden, die an nichts glauben.“
Samstag, 10.10.2009
Last Temptation
Gerade sah ich THE LAST TEMPTATION OF CHRIST (1988) von Scorsese wieder und wunderte mich, wie „biblisch“ der Film doch jedenfalls aussieht. Da man ja jetzt mehr über den Islam weiß, fiel mir als nächstes auf, dass die Halluzination des nicht stattfindenden Kreuzestodes genau die muslimische Sicht der Dinge darstellt. (Natürlich nur bis zur Revision im Film, bis zum Erwachen aus der Versuchung, dem Selbstopfer zu entgehen.) Denn der Islam sieht Jesus als einen zu wichtigen Gesandten Gottes an, als dass er einen solch erniedrigenden Tod hätte sterben dürfen: „Die meisten Kommentatoren stimmen darin überein, dass der Qur’an nicht das historische Ereignis einer Kreuzigung als solcher verneint, wohl aber die Kreuzigung Jesu. Vielmehr sei ein anderer an Jesu Statt gekreuzigt worden. Wie Gott letzten Endes Jesus vor dem Kreuz bewahrte und errettete, bleibt allein Sein Geheimnis.“ (Bekir Alboga) Die ganz große Überraschung aber war für mich das Stückchen „Experimentalfilm“ zum Schluss, nachdem die Filmerzählung wieder die Heilsgeschichte einholte und der vorgesehene Tod die halluzinatorische Abirrung in das Leben beendet hat. Vorher hatte Willem Dafoe als Jesus – den ich mir in „Antichrist“ nicht ansehen kann – seine besiegelnden Worte gesprochen: „It is accomplished.“ Was damit vollbracht ist, beanspruchen die darauf folgenden, flackernden Farben nicht zu wissen.
Samstag, 03.10.2009
Funny People
Leo McCarey, geboren (vor 111 Jahren) am 3. Oktober 1898, in Los Angeles, Kalifornien; sollte Rechtsanwalt, wollte Songschreiber werden, wurde Assistent von Tod Browning; Gag-Schreiber bei Hal Roach; Komödienregisseur. 1929: LIBERTY mit Laurel & Hardy, 1933: DUCK SOUP mit den Marx Brothers, 1934: BELLE OF THE NINETIES mit Mae West, 1935: RUGGLES OF RED GAP mit Charles Laughton. Über Laughtons Rezitation der Gettysburg adress schreibt Vampire Loren: „This is how it must have come from Lincolns lips with compassion and such gentleness.“
1937 drehte McCarey mit Beulah Bondi und Victor Moore den herzzerreißendsten Film aller Zeiten: MAKE WAY FOR TOMORROW, John Fords Lieblingsfilm. Und noch im selben Jahr: THE AWFUL TRUTH mit Cary Grant, Irene Dunne, Ralph Bellamy. Nach Auskunft aller Beteiligten entstand die äußerst erfolgreiche Komödie ohne irgendein Drehbuch.
Cary Grant in THE AWFUL TRUTH
Im Programmheft zur Retrospektive des Münchner Filmmuseums von 1984 lese ich über das amerikanische Vaudeville: „das war Nummerntheater, ohne Storyline, gespielt auf Tourneen durch ganz Amerika, immer die gleichen Nummern, routines, aber ständig variiert, den unterschiedlichen Publika angepasst. Das Vaudeville war ein ständiges Experimentieren: Spontaneität und Routine, Variation und Improvisation, das war auch McCareys Konzept. Gags entstanden schon immer in Kollektivarbeit im amerikanischen Film; auch wenn die Kamera schon läuft wird immer weiter ausprobiert und verändert. McCareys Autorenschaft besteht im Anregen: die Dinge und Leute vor der Kamera in Bewegung bringen, Situationen und Abläufe in ihre letzte Konsequenz hinein verfolgen.“
Ein Essay von Paul Harrill legt einleuchtend dar, dass Leo McCarey im Ernst kein Stilist sondern im Herzen ein Musiker war.
Robin Wood: „Mehr als jeder andere Regisseur ist er eher an Schauspielern als an Bildern interessiert. Daher die Angemessenheit des streng funktionalen Kamerastils (klassisches Hollywood – vollkommen unsichtbar), das Fehlende schöner auffälliger Kompositionen, das mangelnde Interesse an technischer Innovation.“
Aber sollte die Autorentheorie auf McCarey tatsächlich nicht anwendbar sein, dann wäre wohl, schrieb Robin Wood, an der Gültigkeit der Theorie zu zweifeln – nicht aber an der Güte von McCareys Werk.
Peter Bogdanovich: „Er verstand instinktiv das Lächerliche und das Absurde im Benehmen der Menschen: statt sie zu verdammen, zelebrierte er jedoch diese besonderen Eigenschaften, was zu außergewöhnlichen Komödien führte, seinen besten Arbeiten jedoch auch ein Gefühl der dunkler werdenden Zukunft verlieh, die kein Lachen, keine lockere Verantwortungslosigkeit auf Dauer erhellen kann.“
1939: LOVE AFFAIR mit Irene Dunne und Charles Boyer, 1944: GOING MY WAY mit Bing Crosby und Barry Fitzgerald, 1945: THE BELLS OF ST. MARY’S mit Bing Crosby und Ingrid Bergman.
1957: AN AFFAIR TO REMEMBER mit Deborah Kerr und Cary Grant.
Hier die Frage: Was wäre das Kino der Gegenwart ohne das amerikanische Fernsehen: Saturday Night Life, Seinfeld, Freaks and Geeks… ? „Alle seine Star-Filme“, heißt es in dem schönen Programmheft aus München, „sind dezentriert, nicht auf eine einzelne Person hin konzipiert.“
Man müsste Leo McCareys Filme wieder sehen, im Kino, im Zusammenhang mit den Filmen von Judd Apatow! THE 40 YEAR OLD VIRGIN, KNOCKED UP, FUNNY PEOPLE.
Dazu TOKYO MONOGATARI, Ozus Remake von McCareys MAKE WAY FOR TOMORROW. Und auch DIE LIEBE DER KINDER, den neuen Film von Franz Müller.