Tränen vor der Leinwand
Wer glaubt, dass der Film – und ganz besonders als ein Produkt, das die von ihm ausgelösten Tränen im voraus kalkuliert, wie ein weepie – konkurrenzlos ist auf dem Gebiet der Künste, hat noch nie davon gehört, was Gemälde anrichten können – so wie ich bisher.
Belehrt wurde ich darüber durch die außergewöhnliche Zeitschrift Fuge. Journal für Religion & Moderne. In der aktuellen Nummer erzählt der Kunsthistoriker Horst Bredekamp dort in einem Interview von Pictures and Tears, einem Buch von James Elkins: „Der Autor stellt sich die Frage, warum Menschen vor Kunstwerken weinen, und beginnt mit einer eindrucksvollen Szene im Atelier von Rothko. Im Jahre 1967 kommt der Kunstkritiker Ulrich Middeldorf in Begleitung einer Kunstkritikerin, die auch Theologin ist, in Rothkos Atelier. Die beiden Besucher wenden sich den Werken des Künstlers zu, und die Kunstkritikerin bricht, ohne den Vorgang kontrollieren zu können, minutenlang in Tränen aus…Es scheint gewiss, dass vor den Werken keines anderen Künstlers des 20. Jahrhunderts Menschen öfter und länger geweint haben als vor den Gemälden Rothkos. An zweiter Stelle folgt dann Barnett Newman. Ich vermute, dass sich die Kontinuität des Religiösen an der Oberfläche abstrakter Malerei sich hier so unbezwingbar aufdrängt, dass der Mensch ergriffen wird. Er ist konfrontiert mit einer Oberfläche, die ihm die Gewissheit entzieht, dass diese Oberfläche nur Oberfläche sei.“
Zu finden in der Nummer 6/2010 der Fuge.