Jean-Marie Straub et Danièle Huillet: Écrits (Independencia éditions, Paris 2012, 287 S.)
September 1954 hat der 21jährige Jean-Marie Straub für ‚Rythmes 54’ in zwei Teilen vom Filmfestival in Venedig berichtet: „Die Eröffnungsveranstaltung – der Vorstellung von Rear Window gewidmet – war ein wahres Geschenk für die Anhänger Hitchcocks, zu denen ich mich zähle.“ Der zweite Artikel befasst sich ausführlicher mit Touchez pas au grisbi von Jacques Becker, mit Shichi nin no samourai (Die sieben Samourai) von Akira Kurosawa, mit dem bulgarischen Film Poème de l’homme von Borislav Charaliev und vor allem mit El río y la muerte von Luís Buñuel. Dessen „verborgene Bedeutung“ sieht Straub in der Faszination Buñuels mit der Tradition Mexikos – welchen Umgang mit dem Tod man da pflegte und wie das, was „Kultur“ genannt wird, dem entgegensteht. Eindruck hinterlassen hat bestimmt auch Sanshô dayû von Kenji Mizoguchi.
Februar und März 1955 vier Artikel in ‚Radio Cinéma Télévision’: über die Bedeutung des Christlichen im Werk Rossellinis und über fünf Rossellini-Filme, die in der aktuellen Spielzeit anliefen (auch über Projekte: Straub hatte offensichtlich persönlichen Kontakt mit Rossellini). Der „dumpfen Selbstgefälligkeit“ Henri-Georges Clouzots (Les Diaboliques) und Léo Joannons (Le Défroqué) werden Filme von Howard Hawks, Orson Welles, Nicholas Ray, Alfred Hitchock und Robert Bresson entgegengestellt: „Verachtung und Liebe. Auf der einen Seite, setzt man den Zuschauer herab, indem man behauptet, ihm den hässlichen Spiegel der heutigen Realität vorzuhalten; auf der anderen Seite wird das Publikum erhoben, indem man es teilhaben lässt am Wunder einer transfigurierten Realität.“ Letzter Artikel: „Wer ist Nicholas Ray?“ – Straub beschäftigt sich mit der Art der Einstellungen bei Ray, und kommt dann auf das Hauptthema zu sprechen: die männlichen Akteure (etwa Humphrey Bogart, Robert Ryan) als „Gefangene der Gewalt“ – und wie die Begegnung mit einer Frau es ist, die sie sich besinnen und ihren inneren Frieden finden lässt. In Johnny Guitar – für Straub ein stendhalscher Film – entziehen sich am Ende nur Vienna und Johnny Guitar der Spirale der Gewalt und des Hasses. Der Text (verfasst zusammen mit Daniel Kostoveski) endet mit einem Zitat aus Rivettes Kritik zu The Lusty Men (die wäre deutsch nachzulesen in ‚CICIM’ 24/25, München, Januar 1989: Jacques Rivette, Schriften fürs Kino).
Es folgen dann, ab 1962, all die kleinen und grösseren Texte zu den einzelnen Filmen, diverse Stellungnahmen, Hinweise, Arbeitsmaterialien, Handschriftliches (vor allem in der ‚Filmkritik’, in ‚Cahiers du cinéma’ und ‚Filmcritica’), auch das schöne kleine Spottlied „Il était une fois un petit cinéaste“ von 1962 (!), das erst 2001 veröffentlicht wurde und auf der DVD-Ausgabe von Pedro Costas Onde jaz o teu sorriso (Wo liegt Euer Lächeln begraben?, 2001) mit der Stimme von Straub zu hören ist. Zwei Texte, schreiben die Herausgeber Philippe Lafosse und Cyril Neyrat im Vorwort, seien endgültig verloren: ein siebzigseitiger Text von Straub aus den fünfziger Jahren, der die „Architektur des Films“ Cronaca di un amore von Michelangelo Antonioni untersuchte, und die von Danièle Huillet 1954 besorgte Übersetzung von „The Art of Fugue, Bach’s last Harspicord Work. An Argument“ von Gustav Leonhardt (1952).
Der zweite Teil des Buchs ist mit ‚Portfolio’ betitelt: das sind Fotografien aus der Sammlung von Renato Berta, von ihm selbst kommentiert.
Der dritte Teil – ‚Atelier’ – stellt überaus detaillierte, umsichtige, vorausschauende (meist maschinengeschriebene) Briefe von Danièle Huillet etwa an Renato Berta, Willy Lubtchansky, Caroline Champetier vor, die als „feuille de route“ der Vorbereitung von Dreharbeiten dienten – kommentiert von Jean-Marie Straub. Folgen Notizen bei der Drehortsuche und den Proben, Drehpläne, ein „annotierter“ Drehbuchauszug von Ouvriers, Paysans, der Kommentartext von Une visite au Louvre („Der verrückteste Kampfplatz in diesem Bereich“, sagt Straub. „Wir haben Julie Koltaï bis zum letzten Detail geplagt … Weil das ein Off-Kommentar war, musste das noch genauer sein als ein gefilmter Text“) und dann die dichten, farbigen Eintragungen sowohl von Danièle Huillet wie Jean-Marie Straub für die Darsteller im Textbuch von Ces Rencontres avec eux. Die Pressedossiers (von denen ebenfalls einige abgedruckt sind) seien seine Sache gewesen, für die habe sich Danièle nur halb interessiert, sagt Straub. Er habe sie zusammen mit Jean-Paul Archy gemacht: „einem manischen, typisch französischen Typographen, einer von der Art, die man 1871 erschossen hat – die Kommunarden waren mehrheitlich Schriftsetzer.“
(Übersetzungen von mir.)