Sonntag, 14.10.2012

Amerikanische Kinos (6)

Unter dem Namen Nightingale stelle ich mir ein kleines, altertümliches Kino mit Samtsitzen, Holzvertäfelung und schummrigem Licht vor. Stattdessen ist es ein weiß gestrichenes Ladenlokal mit LCD-Projektor und Laptop, wie man es sicher auch in Kreuzkölln finden könnte. Eine unscheinbare Tür führt vom Bürgersteig direkt in den Projektionsraum. Eintritt zwischen 7 und 10 Dollar, sliding scale: Man zahlt innerhalb des angegebenen Rahmens soviel wie man für richtig hält.

Der Raum ist mit 20 Klappstühlen gut gefüllt. Vorne ein Sofa und ein durchgesessener Fauteuil. Projiziert wird von einer Empore, auf die man durch eine steile Leiter hinaufklettert. Es ist nicht ganz klar, ob der Steenbeck-Schneidetisch links am Eingang noch benutzt wird oder hier nur abgestellt wurde, damit man sein Rennrad daran anlehnen kann. Keines der vier Räder hat eine Gangschaltung.

In seiner Einführung erinnert sich Dan Eisenberg, der bei Wyborny studiert hat, an dessen Offenheit und Neugier. Das sei ein erholsamer Kontrast zur Ernsthaftigkeit der Experimentalfilmzirkel damals gewesen. Mit Partituren in der Hand ging es raus in die Landschaft, ein Filmemachen, das sich am frühen Kino und an den musikalischen Vorstellungen der Zwölftonleute orientierte.

Bevor „Studien zum Untergang des Abendlands“ (2010) beginnt, wird eine schlichte gelbe Tasche mit Kodak-Logo verlost. Eisenberg, der vorne links neben dem Steenbeck sitzt, wird aufgefordert, eine Zahl zwischen 1 und 23 zu nennen. Vierzehn, sagt Eisenberg, und die Tasche fliegt in die vierte Reihe, wo jemand diese Zahl auf seinem Ticket stehen hat. In einigen Jahren, so der junge Taschenverloser, der den Film nach Chicago geholt hat und Wyborny Why-bornie ausspricht, wird keiner mehr wissen, wofür Kodak steht, und dadurch wird die Tasche besonders wertvoll sein.

Das Screening will nicht gelingen. Zuerst sieht man die Befehlszeile des Laptops, dann stimmt das Format nicht. Der Computer muss neu hochgefahren werden und das enervierende Hochfahrgeräusch eines bekannten Computer und Telefonherstellers grätscht unsanft zwischen die sanft tröpfelnden Klavierklängen von Wybornys Film. Als dieses Problem gelöst ist, kommt der Projektor nicht mit den schnellen Auf-, Ab- und Überblenden zwischen den 6299 Einstellungen klar. Jeder Bildwechsel, und besonders die ganz kurz aufflickernden Bildimpulse sind von horizontalen Balken überlagert, als solle dem Super 8-Material ein digitales Wasserzeichen verpasst werden. Zwar legt sich dies aus unerklärlichen Gründen in der Mitte des Films, aber aus genauso unerklärlichen Gründen kehrt es am Ende zurück. Die Bilder pulsieren vehement gegen die technischen Widrigkeiten an.

Trotzdem spürt man die vibrierende Intensität dieser Einstellungen, und wie sich Bild und Musik aneinander entzünden. Das Ruhrgebiet wirkt wie aus einem Murnaufilm, dann wieder erinnern die Metallverstrebungen von Lastkränen, Fördertürmen an Vertov und die konstruktivistischen Utopien der 20er. Viel Ruinöses und Düsteres, wie sollte es beim Untergang des Abendlands anders sein, aber auch klare, helle Farben schwimmen sich im Laufe der fünf Sätze der Komposition allmählich frei. Unvermittelt ist man plötzlich in Rimini oder bei New York. Auch an Epstein musste ich denken.

Als ich nach draußen komme, empfindet ein junger Mann mit seinen Armen das Zittern der Kamera in manchen Einstellungen nach. Seine Geste begleitet er mit einem Satz, der anerkennendes Staunen ausdrückt. Dreißig Fuß weiter lehnt ein älterer Mann, der rechts in der zweiten Reihe gesessen hatte, an einer Laterne. Gedankenverloren schreibt er etwas in sein Notizbuch.

[Sonntag, 30. September 2012, White Light Cinema at the Nightingale, 1084 N. Milwaukee Ave., Chicago]

2 Kommentare zu “Amerikanische Kinos (6)”

  1. Rainer Knepperges schreibt:

    Es ist rar, die Probleme beim Filmezeigen so schön beschrieben zu finden. Normalerweise lösen solche Schwierigkeiten pietätvolles Schweigen aus. Nur ein Filmriss, bei dem das Bild ordentlich durchschmort, macht aus duldsamen Katastrophenopfern eine fröhliche Gemeinschaft. Die Digitalisierung der Kinoprojektion wird flankiert vom falschen Heilsversprechen künftiger Problemlosigkeit. Aber wer beschreibt das Ernüchternde eines DVD-Menüs auf einer Kinoleinwand? Wo kann man etwas lesen über die leichte Farbveränderung, die in alten Filmen eine Überblendung ankündigt? Wer schildert die langsame Gewöhnung, die gelegentliche Störung, das plötzliche Vermissen? Filmemacher sprechen nicht über ihre Machtlosigkeit. Wyborny ist auch da eine Ausnahme:

    „Zu meinen elementaren Musikerlebnissen gehört das Geräusch einer Schnittstelle beim Durchgang durch den Projektor. 8mm-Projektoren sind sehr filmschonend, und beim Schneiden kann man auf das Herstellen von Schnittkopien verzichten, wenn man einigermaßen vorsichtig mit den Originalen umgeht. Schaut man sich das geschnittene Original im Projektor an, hört man, wie das gleichmäßige Surren der Maschine durch das eigenartig synkopisierende Geräusch der Schnittstellen unterbrochen wird. Ich wurde dafür systematisch sensibilisiert, denn meine ersten Klebestellen waren so schlecht, dass sie bei der Projektion häufig rissen. So stellte sich, wenn sich eine Schnittstelle des Originals dem Bildfenster näherte, immer ein Angstzustand ein. Nach dem Durchgangsgeräusch der Klebestelle stellte sich stets eine physisch spürbare Erleichterung ein.“
    (Klaus Wyborny: Rhythmus im Blut – Ich und mein Projektor, 1979)

  2. Volker Pantenburg schreibt:

    Schönes Wyborny-Zitat!

    Über die Probleme beim Abspielen von DCPs liest man in letzter Zeit allerdings immer mal wieder was. Zuletzt über das Screening von De Palma’s PASSION beim New York Film Festival, das abgesagt werden musste, weil der Code zum Abspielen nicht funktionierte (link). Jemand in den Kommentaren: »New York was lucky: two years ago I screened a DCP at the Venice Film Festival: it blacked out every ten minutes or so, for about a minute. When I went to the booth and spoke to the projectionist he told me, „Oh, don’t worry, that’s been happening with all the DCPs!“«

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