Montag, 04.02.2013

Le Bachfilm

bachfilm

© Sammlung Heiner Roß / Nachlaß Joachim Wolf (Kinemathek Hamburg) im Filmmuseum München


Reichhaltiges Material ist erschienen zur Chronik der Anna Magdalena Bach und zu Jean-Marie Straubs achtzigstem Geburtstag: 2 DVDs, ein Begleitbuch von 154 Seiten, viele bislang unbekannte Fotographien und Dokumente. (Subskriptionsangebot bei éditionsmontparnasse)

Danièle Huillet und Jean-Marie Straub sind, wie Benoît Turquety in seinem Aufsatz „Jeunesses musicales. L’invention de Chronik der Anna Magdalena Bach“ ausführt, durch die Musik zum Film gekommen: die Chronik war ihr erstes Projekt, zu datieren auf den November 1954. Schönbergs Moses und Aron, ihr zweites Projekt, geht auf die Jahre 1958/59 zurück. Die Chronik, schreibt Turquety, war entscheidend für alles, was danach gefolgt ist: „Die Idee war, mit einem musikalischen Text so zu verfahren, wie Bresson es mit einem literarischen Text – dem Tagebuch eines Landpfarrers (1951) – von Bernanos gemacht hatte. Musik sollte darin als Materie wahrgenommen und als solche respektiert werden, keine ‚Filmmusik’ sein, sondern das Angebot eines besonderen Hörens durch die Kinematographie.“ Eine Tat war es dann, den noch unbekannten Musiker und Dirigenten Gustav Leonhardt zu entdecken und dreizehn Jahre später mit ihm, Nikolaus Harnoncourt, Christiane Lang-Drewanz und vielen andern den Film zu realisieren. Die frühe Wahl erfolgte, Turquety hebt das hervor, ausschliesslich über das Hören einer Platte Leonhardts: „Der ist es!“ Wie dieses Medium (und das Medium Film) die Musik erneut hören lässt (im einmaligen historischen Zugriff), so sei es darum gegangen, Bach neu und so zu hören, wie er seit langem nicht mehr gehört worden sei. Es habe sich nicht darum gehandelt, „Bach auf historischen Instrumenten so zu interpretieren, als sei seither nichts passiert, sondern diese Interpretation gegen das zu stellen, was seither gemacht worden sei.“ (Er nennt die Namen Karajan oder Gould.) In dem der Chronik vorangestellten Péguy-Zitat sieht Turquety einen Ausfluss dessen, was da musikalisch vor sich geht und sich dann politisch auflädt: „Faire la révolution c’est aussi remettre en place des choses très anciennes mais oubliées.“

Die Chronik der Anna Magdalena Bach (BRD 1967; Uraufführung 3.2.1968 in Utrecht) gibt es in der deutschen Originalversion mit Untertiteln in vier verschiedenen Sprachen: aber so ziemlich vergessen war, dass Huillet & Straub damals den Off-Kommentar auch französisch aufgenommen und nur die Dialoge untertitelt haben. „Dann sind wir auf den Geschmack gekommen“, sagt Straub, „und haben die niederländische, die englische und die italienische Version des Kommentars erarbeitet.“ Die Chronik – Chronique – Cronicle – Cronaca – Kroniek der Anna Magdalena Bach gibt es also nun in fünf Sprachversionen auf DVD 1, auf DVD 2 eine Filmdokumentation von Henk de By (Signalement de Jean-Marie Straub, 1968, 41 Minuten; einer der drei Kameraleute war Johan van der Keuken), ein Gespräch mit der ‚Anna Magdalena’ des Films, Christiane Lang-Drewanz (2012, 30 Minuten), Erinnerungen von Nikolaus Harnoncourt an die Dreharbeiten (2012, 21 Minuten), Gilles Deleuzes „Qu’est-ce que l’acte de création?“ (Vortrag bei der Femis vom 17. März 1987, 8 Minuten) plus unbekannte Fotographien und Dokumente.

Unbedingt erwähnenswert noch das ausführliche Gespräch (passagenweise übersetzt von Bernard Eisenschitz), das Helmut Färber mit Jean-Marie Straub über die Chronik an drei Tagen im Mai 2010 geführt hat: es geht hier wirklich, Rolle auf Rolle, um Einstellungen und Zusammenhänge, die sich nur aus diesem Blick aufs Detail ergeben. (Färber stützt sich dabei auf das Cinemathek-Bändchen 23 von 1969 über die Chronik, das ja von ihm damals im Verlag Filmkritik redaktionell betreut worden ist).
Dies alles, ebenso wie ein einführender Text von Barbara Ulrich und eine „découpage intégral du film“, also im Begleitband der Kassette.

3 Kommentare zu “Le Bachfilm”

  1. Bettina Klix schreibt:

    Danke für den schönen Hinweis!
    Hast du irgendwelche Hinweise darauf gefunden, warum dem Buch „Die kleine Chronik der Anna Magdalena Bach“ der Film-Titel nachgebildet wurde, aber nie Bezug darauf genommen wird, soweit ich weiß. The little chronicle of Anna Magdalena Bach von Esther Meynell. Oder gibt es etwas dazu?
    Die Perspektive ist jedenfalls dieselbe.

  2. Johannes Beringer schreibt:

    Ich habe keinen Hinweis darauf gefunden – in dem Gespräch mit Färber fällt an einer Stelle der Name Sanford Terry (Charles Sanford Terry, Bach. A Biography. Oxford 1928); Färber hat sich ja für das Gespräch wieder eingearbeitet in die Literatur. Und daran, dass Straub sich da (auch nach so langer Zeit) hervorragend auskennt, besteht kein Zweifel.

  3. Johannes Beringer schreibt:

    Frage von Frieda Grafe (‚Filmkritik‘, Oktober 1968, S. 688): „Warum haben Sie diesen Titel behalten, obwohl doch der Film nichts mit dem Buch von dieser Engländerin zu tun hat?“
    Jean-Marie Straub: „Aus Dank. Wenn ich das Buch nicht gelesen hätte, wäre ich vielleicht nie auf den Film gekommen. Und weil mir der Titel gefällt, wegen des Wortes ‚Chronik.'“
    (Beteiligt an dem Gespräch mit Huillet & Straub waren Helmut Färber, Herbert Linder, Enno Patalas, Frieda Grafe. Im Heft auch zwei grosse Aufsätze zur Chronik von Färber und Linder.)

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