ZIGEUNER SEIN, 1970
In ihrer Sprache heißt Roma einfach Menschen. Der Film läßt diese Menschen davon sprechen, wie sie verhaftet und in Lager und Gefängnisse gesteckt werden; dass 90 Prozent ihrer Familien in den Lagern bleiben. Sie sprechen mit burgenländischem, bayrischem, sächsischem Akzent; sie leben in trostlosen Baracken an den Stadträndern, zu zehnt in einem Zimmer mit feuchten Wänden. Im Winter sind die Kinder ständig krank. Peter Nestler fügt mit seiner dunklen schweren Stimme die weiteren Fakten hinzu. Auch ein Lagerangestellter kommt zu Wort, der schildert, dass das „Zigeunerlager“ in Birkenau ihm, obwohl schon mit einer “Hornhaut” versehen, doch die Sprache verschlug. Und am Ende fasst eine kluge Frau das ganze Unrecht, das diesen Menschen widerfahren ist, präzise zusammen. Nein, sie haben sich in 600 Jahren nicht nicht assimiliert, sondern man hat sie sich nicht assimilieren lassen. Und zwar bis in die Gegenwart. Peter Nestler verwässert das weder sprachlich noch filmisch. Dieser Meilenstein des Dokumentarfilms bezeugt zum ersten Mal und in direkter Sprache die Verfolgung der Sinti und Roma am Beispiel Deutschland und Österreich.
OUR SCHOOL, 2012
Im Jahr 2006 erhielt das rumänische Städtchen Târgu Lăpuş EU-Mittel zur Einführung der integrierten Schule, also für den gemeinsamen Unterricht von Roma und rumänischen Kindern. (…) Am Ende dieses Projekts finden sich die Roma-Kinder wieder dort, von wo sie gekommen sind – draußen. Diesen Prozess haben die Regisseurinnen Mona Nicoara und Miruna Coca-Cozma über einen Zeitraum von vier Jahren verfolgt. Dabei gelingt OUR SCHOOL etwas sehr Spannendes: Zum einen verfolgen wir, wie sich die Überzeugungen der Mehrheitskultur – Bürgermeister, Schulleiter, Lehrer – zu einer institutionellen Gewalt verdichten, die über das Leben dieser Kinder entscheidet. Zum anderen erleben wir am Beispiel von drei Kindern, mit welchen Hoffnungen die Roma in das Projekt gestartet sind und spüren ihre Enttäuschung umso schmerzhafter. (DOKLeipzig)
Diese beiden Filme laufen im Antiziganismus-Schwerpunkt des Freiburger Film Forums (8.-12. Mai 2013, www.freiburger-filmforum.de) und ich glaube, der neue Film wuerde auch Peter Nestler gefallen.
Auf zwei Filme zur Fluechtlingsthematik moechte ich auch hinweisen. Fernand Melgar ist es in VOL SPECIAL gelungen, in einem von 28 Deportationszentren für Sans-Papiers und abgewiesene Asylbewerber in der Schweiz zu drehen. Er konnte das Vertrauen der Gefaengnisleitung und der Inhaftierten gewinnen und neun Monate lang in der Institution filmen. Sein Blick richtet sich gleichermassen auf Personal und Inhaftierte. Der Film fuehrt das administrative System vor, das hinter diesen gnadenlosen Ablaeufen regiert. Allein in der konkreten Dynamik zwischen Betreuer und Betreutem wird sichtbar, welches Unrecht dort passiert, ueber alle Koepfe hinweg.
Wie der grosse Institutionsfilmer Wiseman hat Melgar hier ein dichtes Gewebe von dramatischen Situationen mit der Kamera beobachten koennen. Wie das Gebaeude selbst, ist der Film in kalten, blaugrauen Toenen gefangen, aus denen die wenigen warmen zwischenmenschlichen Gesten herausgluehen.
ALTRA EUROPA von Rossella Schillaci zeigt eine Hausbesetzung in Turin durch afrikanische Fluechtlinge, die dort fuer einige Jahre Unterkunft finden. Am Ende werden sie von der Stadt evakuiert, temporaer in eine Kaserne verfrachtet, fast wie gleich hinter Gittern. Da die Kaserne in einem gutbuergerlichen Stadtteil liegt, gibt’s ordentlich Buergerproteste, die der Film in einer Versammlung treffend dokumentiert. Wie hilflos sind doch die europäischen Staedte angesichts ihres unerwuenschten Zuwachses.
Und dann noch Edouard Bergeon’s Debut, in welchem man vergisst, dass es ein Dokumentarfilm ist. Ein Viehhof in den mittleren Pyrenäen, wenig ansehnliche Funktionsbauten, Geräte im Schlamm. Im Kuhstall schuftet Sebastien Itard. Als er ihn kennen lernte, erzählt der Filmemacher, meinte er, seinen Vater vor sich zu haben, die gleiche verbissene Mimik und von der Arbeit gekrümmte Haltung. Sein Vater, auch Viehbauer, hatte aus wirtschaftlicher Not den Freitod gewählt – wie zwischen 400 bis 800 dieses Berufsstandes jedes Jahr in Frankreich!
Auf Sebastien Itards Schultern lasten Schulden in Höhe einer halben Million Euro. Dabei ist das vierte Kind unterwegs. Sein eigentlich pensionierter Vater packt mit an, macht dem Sohn jedoch die Hölle heiß mit Vorwürfen. LES FILS DE LA TERRE begleitet anderthalb Jahre voller dramatischer Ereignisse auf dem Hof der Itards. Immer wieder, in klug montierten Einschueben, parallelisiert der Filmemacher das Schicksal seiner eigenen Familie, problematisiert so den Irrsinn eines Agrarsystems, in welchem ein 15 Stunden am Tag wie ein Sklave arbeitender Viehwirt am Monatsende mit 150 Euro Verdienst dasteht. Der Film bleibt ganz nah an seinen Protagonisten, bindet das Allgemeine in die innerfamiliaeren Beziehungen ein. Zum wirtschaftlichen Ueberlebenskampf tritt ein Generationskonflikt, den es fuer den Jungbauern zu bewaeltigen gilt.