April 2013

Dienstag, 30.04.2013

Der einsame Wanderer

“Now I lay me down to sleep
I pray the Lord my soul to keep
If I shall die before I wake
I pray the Lord my soul to take.”
Der junge Mann im Film “Der einsame Wanderer”(1968) von Philip Sauber kommt erst nicht über die zweite, dann nicht über die dritte Zeile hinweg. Immer wieder nimmt er einen qualvollen Anlauf. Und die vierte Zeile hören wir gar nicht. Das ist genau der Punkt, an dem auch der Film stehen bleibt. So scheint es mir jedenfalls, nach dem ersten Sehen an einem Abend mit hoher Erwartung und in schlechter Luft, im Hotel Bogota in Berlin-Charlottenburg. Ulrike Edschmid liest vor der Aufführung aus ihrem Buch „Das Verschwinden des Philip S.“ eine Passage über die Dreharbeiten dieses Films und ihre schönen Worte wecken in mir Bilder, die der Film nicht einlöst. Es scheint so, das wird auch bei der Diskussion nach der Aufführung deutlich, dass Edschmid von ihrem ehemaligen Lebensgefährten, der später in den bewaffneten Untergrund ging und unter nicht ganz geklärten Umständen 1975 erschossen wurde, ein Bild aufbewahrt, an dem sie mit einer Treue festhält, wie wir sie den geliebten Toten ja auch schuldig sind. Aber in diesem Fall ist es ein unerlöstes Bild, das sozusagen vor seinem Erwachen stehen geblieben ist.

Sonntag, 28.04.2013

FiFo 2013

ZIGEUNER SEIN, 1970
In ihrer Sprache heißt Roma einfach Menschen. Der Film läßt diese Menschen davon sprechen, wie sie verhaftet und in Lager und Gefängnisse gesteckt werden; dass 90 Prozent ihrer Familien in den Lagern bleiben. Sie sprechen mit burgenländischem, bayrischem, sächsischem Akzent; sie leben in trostlosen Baracken an den Stadträndern, zu zehnt in einem Zimmer mit feuchten Wänden. Im Winter sind die Kinder ständig krank. Peter Nestler fügt mit seiner dunklen schweren Stimme die weiteren Fakten hinzu. Auch ein Lagerangestellter kommt zu Wort, der schildert, dass das „Zigeunerlager“ in Birkenau ihm, obwohl schon mit einer “Hornhaut” versehen, doch die Sprache verschlug. Und am Ende fasst eine kluge Frau das ganze Unrecht, das diesen Menschen widerfahren ist, präzise zusammen. Nein, sie haben sich in 600 Jahren nicht nicht assimiliert, sondern man hat sie sich nicht assimilieren lassen. Und zwar bis in die Gegenwart. Peter Nestler verwässert das weder sprachlich noch filmisch. Dieser Meilenstein des Dokumentarfilms bezeugt zum ersten Mal und in direkter Sprache die Verfolgung der Sinti und Roma am Beispiel Deutschland und Österreich.

OUR SCHOOL, 2012
Im Jahr 2006 erhielt das rumänische Städtchen Târgu Lăpuş EU-Mittel zur Einführung der integrierten Schule, also für den gemeinsamen Unterricht von Roma und rumänischen Kindern. (…) Am Ende dieses Projekts finden sich die Roma-Kinder wieder dort, von wo sie gekommen sind – draußen. Diesen Prozess haben die Regisseurinnen Mona Nicoara und Miruna Coca-Cozma über einen Zeitraum von vier Jahren verfolgt. Dabei gelingt OUR SCHOOL etwas sehr Spannendes: Zum einen verfolgen wir, wie sich die Überzeugungen der Mehrheitskultur – Bürgermeister, Schulleiter, Lehrer – zu einer institutionellen Gewalt verdichten, die über das Leben dieser Kinder entscheidet. Zum anderen erleben wir am Beispiel von drei Kindern, mit welchen Hoffnungen die Roma in das Projekt gestartet sind und spüren ihre Enttäuschung umso schmerzhafter. (DOKLeipzig)

Diese beiden Filme laufen im Antiziganismus-Schwerpunkt des Freiburger Film Forums (8.-12. Mai 2013, www.freiburger-filmforum.de) und ich glaube, der neue Film wuerde auch Peter Nestler gefallen.

Auf zwei Filme zur Fluechtlingsthematik moechte ich auch hinweisen. Fernand Melgar ist es in VOL SPECIAL gelungen, in einem von 28 Deportationszentren für Sans-Papiers und abgewiesene Asylbewerber in der Schweiz zu drehen. Er konnte das Vertrauen der Gefaengnisleitung und der Inhaftierten gewinnen und neun Monate lang in der Institution filmen. Sein Blick richtet sich gleichermassen auf Personal und Inhaftierte. Der Film fuehrt das administrative System vor, das hinter diesen gnadenlosen Ablaeufen regiert. Allein in der konkreten Dynamik zwischen Betreuer und Betreutem wird sichtbar, welches Unrecht dort passiert, ueber alle Koepfe hinweg.
Wie der grosse Institutionsfilmer Wiseman hat Melgar hier ein dichtes Gewebe von dramatischen Situationen mit der Kamera beobachten koennen. Wie das Gebaeude selbst, ist der Film in kalten, blaugrauen Toenen gefangen, aus denen die wenigen warmen zwischenmenschlichen Gesten herausgluehen.

ALTRA EUROPA von Rossella Schillaci zeigt eine Hausbesetzung in Turin durch afrikanische Fluechtlinge, die dort fuer einige Jahre Unterkunft finden. Am Ende werden sie von der Stadt evakuiert, temporaer in eine Kaserne verfrachtet, fast wie gleich hinter Gittern. Da die Kaserne in einem gutbuergerlichen Stadtteil liegt, gibt’s ordentlich Buergerproteste, die der Film in einer Versammlung treffend dokumentiert. Wie hilflos sind doch die europäischen Staedte angesichts ihres unerwuenschten Zuwachses.

Und dann noch Edouard Bergeon’s Debut, in welchem man vergisst, dass es ein Dokumentarfilm ist. Ein Viehhof in den mittleren Pyrenäen, wenig ansehnliche Funktionsbauten, Geräte im Schlamm. Im Kuhstall schuftet Sebastien Itard. Als er ihn kennen lernte, erzählt der Filmemacher, meinte er, seinen Vater vor sich zu haben, die gleiche verbissene Mimik und von der Arbeit gekrümmte Haltung. Sein Vater, auch Viehbauer, hatte aus wirtschaftlicher Not den Freitod gewählt – wie zwischen 400 bis 800 dieses Berufsstandes jedes Jahr in Frankreich!

Auf Sebastien Itards Schultern lasten Schulden in Höhe einer halben Million Euro. Dabei ist das vierte Kind unterwegs. Sein eigentlich pensionierter Vater packt mit an, macht dem Sohn jedoch die Hölle heiß mit Vorwürfen. LES FILS DE LA TERRE begleitet anderthalb Jahre voller dramatischer Ereignisse auf dem Hof der Itards. Immer wieder, in klug montierten Einschueben, parallelisiert der Filmemacher das Schicksal seiner eigenen Familie, problematisiert so den Irrsinn eines Agrarsystems, in welchem ein 15 Stunden am Tag wie ein Sklave arbeitender Viehwirt am Monatsende mit 150 Euro Verdienst dasteht. Der Film bleibt ganz nah an seinen Protagonisten, bindet das Allgemeine in die innerfamiliaeren Beziehungen ein. Zum wirtschaftlichen Ueberlebenskampf tritt ein Generationskonflikt, den es fuer den Jungbauern zu bewaeltigen gilt.

Mittwoch, 24.04.2013

* »Wie Film Geschichte anders schreibt: Frieda Grafe – 30 Filme« (im Arsenal)

Donnerstag, 18.04.2013

Grenze des Konsums

Am letzten Montag in der „Denkerei“ am Oranienplatz in Berlin unter der Überschrift „Asketen des Luxus“ konnte man sich unwillig oder amüsiert von Bazon Brock belehren lassen: etwa über die Abschaffung des Limbo 2007 oder die Herkunft der phrygischen Mütze, sich von der Künstlerin Stephanie Senge von ihren Ideen zur Ermutigung des Konsumenten und ihrer eigenwilligen Version des Ikebana bezaubern lassen oder sich am neuen Buch von Wolfgang Ullrich erfreuen, das von ihm vorgestellt wurde:
Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung, Wagenbach, 2013,
Ullrichs Untersuchungen vieler abergläubischer Praktiken des Konsums, die immer auch mit Ironie betrieben werden, verlieren nicht das aus den Augen, was dieser Praxis ein Ende setzt und die Dinge wieder freigibt. So endet das Buch mit einem Zitat von F. T. Vischer von 1879:
„Es ist auch deswegen in Ordnung, dass der Mensch endlich stirbt, er soll sich schon deswegen gern darein fügen, weil sich mit der Zeit gar zu viel Sach um ihn ansammelt…“

Dienstag, 16.04.2013

Peter NAU: Hoelderlins 'Friedensfeier (2)

Samstag, 13.04.2013

Der ewige Schandfleck des deutschen Films

Neulich bekam ich „Das gab’s nur einmal“(Ausgabe 1957), von Curt Riess geschenkt – mit dem irreführend harmlosen Untertitel „Das Buch der schönsten Filme unseres Lebens“ Von Filmfreunden hatte ich noch nie etwas von diesem schönen Buch mit fantastischen Filmfotografien gehört, das aber wohl via Bertelsmann Lesering vor allem in Haushalte kam, in das sich nie ein Filmkritik-Heft verirrte. Heut las ich im großartigen Kapitel über die Propagandafilme des Nationalsozialismus unter dem Titel „Der ewige Schandfleck des deutschen Films“ die Schilderung der Entstehung von Veit Harlans „Jud Süß“. Riess berichtet von den immensen Schwierigkeiten bei der Besetzung der Rollen. Gustaf Gründgens sagte später dazu: „Als Goebbels merkte, daß wir Schauspieler uns grundsätzlich nicht an diesem Film beteiligen wollten, wurde die Herstellung des Films für ihn schließlich zu einer Prestigesache.“ Heinrich George, der den Herzog Carl spielt „hat immerhin eine Ausrede. Er spielt keinen unsympathischen Juden, er spielt einen unsympathischen Christen. Und er erklärt: „Ich werde alles so eklig spielen, daß den Leuten übel wird!“ Kurz, er will versuchen, seine Rolle so zu spielen, dass das Publikum den Eindruck gewinnt, nicht Jud Süß, sondern Herzog Carl sei eigentlich an allem schuld – was übrigens historisch vollkommen richtig ist.“

Freitag, 12.04.2013

Peter Brückner, „Das Abseits als sicherer Ort. Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1945“ (Wagenbach, Berlin 1980)

Ich lese das Buch erst jetzt – wieder darauf gestossen durch eine Stelle in „Vermischtes / Notiertes 1981-1984“ (newfilmkritik 25.3.2013). Das ist kostbar, wenn man die Nazizeit ‚von innen’ her verstehen will – Peter Brückner war ja ein wirklicher Aussenseiter, 1938 gerade mal 16 Jahre alt.
Nicht gerade einer hat wie er, denke ich, die intellektuellen Fähigkeiten gehabt, diese ‚internen Auseinandersetzungen’ darzustellen: zwischen seiner Dissidenz, seiner wirklichen Illoyalität dem Nazi-Staat gegenüber, und der notwendigen Anpassung, den Anfälligkeiten, dem Fassade-Wahren, Sich-Durchlavieren (in Schule, Internat, Hitlerjugend, Heimatfront, NSDAP, Wehrmacht). Ein permanenter Kampf war das, der Jugendliche musste gedanklich ‚voraus sein’ – dem Terror und der „Technik der kleinsten Schritte“ gegenüber, die der Staat praktizierte, um die Volksgenossen und vor allem die Abseitsstehenden immer lückenloser zu vereinnahmen. Das klappte natürlich nicht immer, mal für mal gab es Hitlersche Weisungen und Massnahmen der Bürokratie, die unversehens kamen – das Abseits war ganz und gar kein sicherer Ort. Aber es konnte auch mal für mal, und sei es durch glückliche Umstände, Zufälle, Fügungen und natürlich eigenes Zutun, Geschicklichkeit, wieder hergestellt werden. – „Antifaschismus im Wildwuchs“ und nicht als ‚Parteidisziplin’: „… ich hatte eine fast zum Instinkt gewordene Abneigung gegen Macht und Befehlsverhältnisse erworben, die eine diktatorische Praxis ausschloss – oder mich von ihr.“
Schöne Szene, wie der siebzehnjährige Peter Brückner in Zwickau vor der Auslage eines kleinen Buchladens steht, „vom nachlässig hochgezogenen Verdunkelungsrollo halb verdeckt lag da ein antiquarischer G. B. Shaw“ – und von einer älteren, kleinen, schwarz gekleideten Frau angesprochen wird. Dies und die nun folgenden stunden- und nächtelangen Gespräche zu Hause mit ihr (Paula bzw. Pawel Lenk) eröffneten ein „alternatives Milieu“: „ihre Kulturdepots waren unerschöpflich“, „in den hohen, meist offenen Bücherregalen entdeckte ich im Laufe weniger Monate die ganze verbotene Literatur.“ In einem weiteren Schritt kommt es dann auch zur Geburt der ‚politischen Person’ – Brückner lernt über seine Freundin deren Tante kennen, eine in der Stadt bekannte und beliebte Theaterschauspielerin, „eine glühende, leicht outrierte Antifaschistin“, die Feindsender hört. Bei ihr wiederum macht er die Bekanntschaft von zwei Artzehepaaren, die kommunistische Kontakte hatten, verliebt sich in die Zahnärztin Elfriede H.: „Frau H. war Kommunistin, als sehr junges Mädchen politisiert, und hatte einige Jahre in Prag gelebt – es war ein Prager Intellektuellen-Kommunismus, der sie in den zwanziger Jahren geprägt hatte.“ – Die Frage, wie Widerstand möglich sein sollte, wenn „die überwiegende Mehrheit des eigenen Volkes“ in Komplizenschaft mit dem Faschismus aufging, war wohl keine Frage mehr.
Eine weitere Gefährdung kam hinzu: „eine Verwaltungsangestellte der Universität“ hatte in einer Urkunde den vollständigen Namen von Brückners Mutter gefunden: Sara Constance Barlin, ihn als Sara Berlin gelesen und die Unterlagen an das Judendezernat weitergegeben – was ein sofortiges Studienverbot nach sich zog. Der Fall war aber schwierig zu klären: Brückners Mutter, Engländerin und tatsächlich Jüdin, war 1935 in ihr Heimatland „zurückgewandert“ – aber „1941 waren wegen des Krieges Recherchen in England ausgeschlossen, die Schwächen des Meldewesens ausserdem amtlich bekannt“. Durch die Einberufung zum Militärdienst blieb die Situation pendent – und Brückner hatte insofern nochmal Glück, als er durch einen, wie er sagt, selten vorkommenden Irrtum nach Wien einbestellt wurde und als einziger ‚Preusse’ bei einer österreichischen („ostmärkischen“) Einheit Dienst tat.

„Den sechzigsten Geburtstag hat er nicht mehr erlebt“, beginnt ein Artikel von Hans Mayer in der ‚Zeit’ vom 22.11.1984, der an Peter Brückner (1922-1982), Professor der Sozialpsychologie an der Universität Hannover, und an die zehn Jahre der „disziplinarischen Massnahmen“ und „Suspensionen“ erinnert, die sein Leben verkürzt haben. – Hier sei also nachdrücklich daran erinnert, dass Peter Brückner durch seine Person und seine Bücher ein wichtiger Mentor der ’68er war, vielmehr: einer derjenigen, der da mittendrin stand und sich exponierte.

Dienstag, 09.04.2013

Peter NAU: Hölderlins Hymne »Friedensfeier« width=


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