J. LEE THOMPSON
Teil II: Die Patrone und das rohe Ei
Im Chorgestühl während der Messe zeigt Gillie (Haley Mills), dass sie jetzt eine Pistole besitzt. Eine echte sogar. Sie wird nicht länger ausgeschlossen sein aus dem Spiel der Jungs mit ihren Zündplättchenpistolen. Was sie verheimlicht: Sie ist Zeugin eines Mordes geworden.
J. Lee Thompson war Hitchcockianer, also Frontalist mit einer besonderen Leidenschaft für Perspektivwechsel, und Realist – soviel wie nötig – um aus Traumbildern den Tatbestand der Mitwisserschaft herbeizuführen.
Der französische Titel von Tiger Bay: Les Yeux du Témoin – Die Augen der Zeugin. Der deutsche Titel: Ich kenne den Mörder.
Zur Berlinalepremiere fand Erika Müller damals in der „Zeit“ ein paar lobende Worte (mit einem „aber“ darin): „Ein kleines Mädchen, Hayley Mills aber, die das Schauspielerblut ihres Vaters John Mills geerbt hat – er spielt den Inspektor in dem Reißer – fasziniert so sehr mit ihren bezaubernden Kinderaugen und ihrem lebhaften Spiel, daß das Publikum mit ihr das Entkommen des Mörders wünschte und gerührt war, wo es hätte entrüstet sein müssen.“
Um Lee Thompsons Kunst zu beschreiben, sind das gar keine so falschen Vokabeln: Wunsch und Rührung, wo Entrüstung sein müsste.
Als Scorsese sein Remake von Cape Fear drehte, sagte J. Lee Thompson in einem Interview, er sei ein Scorsese-Fan, und sein Lieblings-Scorsese-Film: The King of Comedy. „You’re gonna love me / Like nobody’s loved me / Come rain or come shine,“ singt Sandra Bernhard.
„His first film. A melodrama about a man who thinks he has committed murder, this well structured film went largely unnoticed but contained many of the themes which were to characterise Lee Thompson’s work: a good person’s struggle with their conscience, an external force of evil, and an out-of-character moment of violence which has long-term consequences. Believing people can ‚commit crimes without being criminals‘, he sought to make his audiences condone or at least understand behaviour that they would normally condemn.“
(Linda Wood, Reference Guide to British and Irish Film Directors)
Daniel Paul Schreber war fest überzeugt von der „totalen Unfähigkeit Gottes den lebenden Menschen richtig zu beurtheilen.“ („Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“, 1903)
Diana Dors in Yield to the Night (1958)
Die Auswahl der Bilder könnte glauben machen, es gäbe, was Blicke angeht, eine Verwandtschaft zwischen Lee Thompson und heute populären Regisseuren, die ihre Darsteller gerne in die Kamera starren lassen. Das Gegenteil ist der Fall. Bei ihm sind die frontalen Blicke – anders als z.B. bei Wes Anderson – nicht starr, sie schweifen umher, streifen nur kurz die Linse, zermürbt, in Panik oder in Gedanken.
No Trees in the Street (1959), Kamera: Gilbert Taylor
Lee Thompson verließ sich nicht gerne auf story boards, löste die Probleme der Auflösung lieber vor Ort während der Proben mit den Schauspielern in Anwesenheit des Kameramanns. Im DVD-Kommentar zu Guns of Navarone spricht er ausführlich darüber. Gleichermaßen luxuriös wie zeitsparend sei es, Szenen in ganzer Länge durchzuproben. Denn man fühle gemeinsam rechtzeitig, was nicht stimmt. Es war wohl auch diese Arbeitsweise, die ihn bei Schauspielern beliebt machte.
Stars haben die wiederholte Zusammenarbeit mit Lee Thompson gesucht. Herbert Lom (1917-2012) hat mit ihm fünf Filme gemacht. Diana Dors: vier, Sylvia Syms: drei, Anthony Quayle: fünf, Gregory Peck: vier, David Niven: drei, Anthony Quinn: drei, Robert Mitchum: drei, Charles Bronson: neun.
Unter vielen wechselnden Kameramännern war Gilbert Taylor (1914-2013) die Ausnahme: fünf gemeinsame Filme.
Death Wish 4: The Crackdown (1987) destructible man
„… und er erwachte in der Finsternis mit einem gellenden Schrei.“ (Chesterton: Der stumme Ochse)
„An opening that is among the best of its kind.“ (Christopher Mulrooney)
“The only way to win a war is to be just as nasty as the enemy. One thing that worries me is that we’re liable to wake up one morning and find out we’re even nastier than they are.”
(Gregory Peck in The Guns of Navarone)
Kinjite: Forbidden Subjects (1989)
„Auf jede aufwiegelnde, das Bedürfnis nach Triebabfuhr befriedigende und den Reaktionismus schürende Szene folgt eine, die den Fokus erweitert, Kontext hinzufügt und den Zuschauer so vor die Wand seiner eigenen perfiden Bedürfnisse laufen lässt.“ (Oliver Nöding)
Lee Thompson: „I always liked to bring political viewpoints into my films and I was strictly towards the Left. (…) But the other left-wingers in the business hated me. To this day I don’t know why.“
Yvonne Mitchell und Diana Dors, Yield to the Night (1958)
Yield to the Night ist ein Film gegen die Todesstrafe. Ungewöhnlich, nicht von Zweifeln ausgehend, sondern vom sinnlichen Augenschein. Vollkommen desinteressiert an Argumenten, die sich an das Unbewiesene der Schuld knüpfen könnten. Die Schuld, kaltblütiges Töten steht am Anfang und ganz außer Frage. Die ungeteilte Aufmerksamkeit gilt also dem, was zwischen Menschen möglich ist. Sie gilt der Aufmerksamkeit selbst. Auch wenn es nur eine Geste ist – gegen das Licht in der Todeszelle.
Daniel Paul Schreber spricht in seinen „Denkwürdigkeiten“ vom „natürlichen Recht des Menschen auf das Nichtsdenken“.
Im Sommer, wenn man ein Eis isst, wird der Gaumen zum kühlen Kellergewölbe, über dem das arme Hirn in seinem Stübchen schmort.
„Wie man sich diese Unfähigkeit Gottes, aus Erfahrung zu lernen, erklären soll, ist eine auch für mich überaus schwierige Frage.“
Am Ende seines Buches äußert Schreber frei von jedem Scherz diese außergewöhnliche Sorge, „was im Falle meines Ablebens – wenn ich mich so ausdrücken darf – aus Gott werden soll.“