Dienstag, 07.10.2014

Weiterleben

von Alexander Horwath

Peter Kubelka und Peter Konlechner, die Gründer des Österreichischen Filmmuseums, haben vor mehr als fünfzig Jahren ihr Leben all dem gewidmet, was Film ist oder sein kann. Weder sie noch ihre Mitstreiter in anderen Filmmuseen haben es dabei nötig gehabt, ein anderes – älteres oder neueres – Medium abzulehnen, zu eliminieren oder zu fälschen. Im Gegenteil: Peter Konlechner zum Beispiel hat in den frühen 80er Jahren als erster Filmmuseumsdirektor der Welt einen computerbasierten Sammlungskatalog in seiner Institution eingerichtet; er hat die digitale Kultur in ein Haus der Filmkultur eingeführt, ohne das Hilfsmittel auch nur im Geringsten mit dem Gegenstand zu verwechseln, dessen sich das Museum annahm und annimmt.

Diese kleine Anekdote deutet an, was das Thema der Gegenwart ist. Es kommt auch im abschließenden Teil des Buches zur Sprache: das Weiterleben des Films. Nicht des transformierten „Films“, der sich in anderen Medien noch eine Weile fortschreiben dürfte, bis es ihm dämmert, dass er ja doch etwas anderes ist. Es geht vielmehr um das Weiterleben desjenigen Films, der während seiner Anfänge, als Transformator seiner eigenen Vorläufer, einen ähnlichen Ablösungsprozess durchgespielt hat wie heute die digitalen Ausdrucksformen. Es geht um ein Medium, das insgesamt 120 Jahre menschlicher Kultur- und Sozialgeschichte entscheidend geprägt hat und es künftig nicht mehr tun wird – bzw. nur mehr in Form seiner Geschichte, so diese erfahrbar bleibt.

Weiterleben meint mitnichten, dass jene, die heute digitale Werkzeuge zur Herstellung und Verbreitung ihrer neuen Bewegtbilder benutzen, aus nostalgischen oder gar „moralischen“ Gründen zum analogen System Film zurückkehren sollen. Die Industrie, der „Markt“, die zeitgenössische Produktion gehen einen vollkommen anderen Weg. Gemeint ist vielmehr, dass die Menschheit vor der Frage steht, ob das globale kinematografische Erbe der letzten 120 Jahre nicht schon ausreichend Kulturgeschichte und genügend weit öffentliches Gut geworden ist, dass man seine Überlieferung jenseits des Marktes und der Warenideologie diskutieren und finanzieren muss. Dass man das analoge System Film also nicht aus Gründen des erhofften finanziellen Gewinns, sondern allein deshalb erhält, damit seine bisherigen Resultate artikulationsfähig bleiben. So wie man, aus genau denselben Gründen, seit Jahrhunderten andere „veraltete“ Ausdrucksformen der Menschheit erhält: damit man ihre Resultate weiterhin sehen, hören, studieren, verstehen kann – in ihrer „materiellen Wahrheit“ und ihrer Eigengestalt. In ihrer konkreten „Machart“, die sich vom jeweils Gemachten und daher Gemeinten nur um den Preis der Idealisierung ablösen lässt. Erhält man diese älteren Ausdrucksformen und ihre Artefakte nur „digitalisiert“ – also ausschließlich bezogen auf einen imaginären, von seiner Inschrift abgehobenen, „post-medialen“ geistigen „Inhalt“ –, wird der Blick auf die von ihnen mitgeprägte Epoche rasch erblinden.

Die Fakes und Faksimiles, die Replikanten und Reproduktionen der verschiedenen Ausdrucksformen und Artefakte liefen ja immer schon neben diesen einher; und auch die zunehmende Verdrängung letzterer durch erstere ist ein alter Hut – insofern bietet unsere Kultur der Digitalisierung keine neue Qualität. All diese Faksimiles, Transfers und Digitalisierungen haben der kulturellen Entwicklung überdies entscheidende Impulse gegeben und gewaltige, oft aufregende Veränderungen bewirkt. Der Film ist selbst das Kind einer Ära, in der die Praktiken des Reproduzierens und Übertragens einen mächtigen Schub erhielten. Film selbst war ein großer Transformator älterer Ausdrucksformen, beruhte allerdings nicht auf deren Eliminierung – sie durften und dürfen weiterleben, zumeist sogar mit gehobenem Status. Und genau das ist 120 Jahre später die wirkliche Neuheit, der eigentliche Schock: dass es – zumindest was Film betrifft – keinen Konsens mehr zu geben scheint bezüglich der Überlieferungspflicht der Gesellschaft. Gemeint ist die Pflicht, nicht nur für brauchbare Transformationen des Bisherigen zu sorgen, sondern auch das Bisherige selbst zu bewahren – für den Gebrauch durch ein in seiner Bedeutung nie bezweifeltes Publikum von Menschen: jene, die Interesse an einer Kulturgeschichte ihrer Gattung haben und jene, die sie schreiben. Beim Film ist dieses zu bewahrende Bisherige etwas Anderes, Komplexeres als bei objektförmigen Dokumenten und Kunstwerken. Es ist nicht, wie manche meinen, die immaterielle Illusion auf der Leinwand, bei der es egal wäre, woher sie stammt; es ist auch nicht allein die analog kopierte Filmrolle im tiefgekühlten Archiv und natürlich nicht nur der mechanische Projektor in einem kinoartigen Raum. Das zu bewahrende Bisherige ist deren Zusammenspiel – ein (durch diese Elemente) bestimmtes Ereignis in einem (von ihnen) bestimmten Zeitraum: der aufgeführte, in Betrieb genommene Film.

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Die Vorstellung, dass das vielbeschworene „filmische Erbe“ der Menschheit ja in digitalisierter Form weiterleben könne, ist durchaus angenehm und heute an allen Ecken und Enden zu hören: Digitalisierung als eine ergänzende und optimierende Übertragung des filmhistorischen Bestands auf andere Medien – flexibler, markttauglicher und „von besserer Bild- und Tonqualität“ als frühere Übertragungen oder gar als der Film selbst. Diese Vorstellung erweist sich spätestens dann als Irrtum, wenn man ihre konkreten Folgen erkennt: dass sie die einzige Art des Weiterlebens von Film sein will. In der aktuellen Praxis nämlich verunmöglicht sie – auf der ausschließlichen Grundlage ökonomischer Argumente – zusehends die bisherige Überlieferungsweise und damit die intrinsische „Machart“ des Films, indem sie die Fortführung der notwendigen Kopiertechniken und die fortgesetzte Produktion der zur Überlieferung notwendigen Materialien für „obsolet“ erklärt.

Private und öffentliche Entscheidungsträger/innen können sich offenbar – mehrheitlich – keinen anderen Weg vorstellen. Ist dieser neuartige, auf höchster Ebene angesiedelte Paradigmenwechsel also gewünscht? Und wenn ja, wer genau ist es, der ihn wünscht? Gilt der Paradigmenwechsel dann auch für die anderen bisherigen Ausdrucksformen der Menschen oder nur für den Film? Geht es um die Aufkündigung jener Prinzipien kultureller Überlieferung, die die Menschen der letzten 500 Jahre in zäher und inspirierender Arbeit etabliert haben? Zumindest diese Fragen sollten aktuelle und künftige Generationen von Entscheidungsträger/inne/n bedenken.

[Der Text ist ein Auszug aus dem einleitenden Essay zum Band Das sichtbare Kino, einem der drei Bücher, die das Österreichische Filmmuseum im Frühjahr 2014 zu seinem Jubiläum publiziert hat. Der Text trägt dort den Titel „Zum Geleit“. Dank an Alexander Horwath für die freundliche Genehmigung zum Abdruck.]

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