Karten, Pläne (IV)
The African Queen (1951 John Huston)
1914. Ein Mann und eine Frau verlieben sich ineinander. Sie fahren in einem kleinen Dampfboot einen Fluss herab. In Technicolor. Im Dschungel. Mit Krokodilen, Stromschnellen, Regen, Mückenschwärmen, Blutegeln, Deutschen.
Als ich klein war, lief African Queen oft im Fernsehen. Meinen Eltern gefiel der Film. Mich irritierte das sichtbare Alter der Hauptdarsteller. Jetzt sehe ich Katharine Hepburn und Humphrey Bogart mit anderen Augen als damals: Was für ein schönes Paar!
Little Big Horn (1951 Charles Marquis Warren), Platz Eins auf Manny Farbers Liste der Filme, die 1951 den Oscar wirklich verdient hätten.
Bei komplizierten Messungen, die unternommen wurden, um den geographischen Mittelpunkt der Kinematographie zu bestimmen, fiel auf, dass im amerikanischen Western der Jahre 1950/1951 eine unerklärliche Häufung von Meisterwerken mit Orts- oder Richtungsangaben im Titel vorliegt: Across the Wide Missouri (William Wellman), Along the Great Divide (Raoul Walsh), Rio Grande (John Ford), Rawhide (Henry Hathaway), Westward The Women (William Wellman) und Little Big Horn (Charles Marquis Warren).
His Kind of Woman (1951 John Farrow)
Wegen Elisabeth Volkmann sah ich mir Mitte März im Filmclub 813 Die Klosterschülerinnen (1972 Eberhard Schröder) an. Dieser dunkle, von Mitgefühl erfüllte und deshalb ganz erstaunliche Erotikfilm ist eine Entdeckung des Hofbauer-Kommandos. Zwei Landkarten gab es darin zu sehen: eine große bunte Südamerikakarte, die verheißungsvoll leuchtete vor der graubraunen Wandbespannung im Unterrichtsraum des Klosterinternats, und dann auf dem Holztisch einer Berghütte eine bedeutungslose Wanderkarte; bedeutungslos, weil (gleich vier) selig Vergnügte da, wo sie sein wollten, endlich angekommen waren.
Att angöra en brygga (1965 Tage Danielsson)
Ausgangs- oder Zielpunkt vieler Filmerzählungen ist die abgeschiedene Lage.
S.O.S. Eisberg (1933 Arnold Fanck), ein Action-Exzess
„Too much of nothing can turn a man into a liar, it can cause some men to sleep on nails and another man to eat fire. Everbody’s doin‘ somethin‘, I heard it in a dream. But when there’s too much of nothing it just makes a fellow mean.“
Only the Valiant (1951 Gordon Douglas)
Seit Wochen höre ich die Basement Tapes rauf und runter: I’m Your Teenage Prayer, Please Mrs Henry, You Ain’t Goin‘ Nowhere, 900 Miles from My Home, Santa Fe, Wildwood Flower, She’ll be Coming Round the Mountain, Confidental, All You Have to do is Dream…
Diese Karte von 1927 zeigt, Plätze in Kalifornien, die entlegenen Orten ähneln. via
Man könnte fragen: Ist das Täuschende vielleicht sogar dem Tatsächlichen vorzuziehen? Denn „If we notice the location we’re not really watching the movie“ (Thom Andersen: Los Angeles Plays Itself)
Gegen besseres Wissen in der Schwebe gehaltene Illusionen haben dem Authentischen etwas voraus. Johan Huizinga schrieb, „dass der Geisteszustand, in dem große religiöse Feste von Wilden gefeiert und mitangesehen werden, nicht der einer vollkommenen Verzückung und Illusion ist. Ein hintergründiges Bewusstsein von ´Nichtechtsein´ fehlt nicht.“
Dark Journey (1937 Victor Saville)
„Wo könnten wir hin?“ fragen die Liebenden.
Smolensk? – Oh, Nein!
Zum Gardasee? – Auch das nicht.
Es ist 1918.
Die Modeschöpferin (Vivian Leigh) breitet ein Kleid über einen Lampenschirm, und wird in diesem Moment zur Steganographin.
Dark Journey (1937 Victor Saville) via
Die Bielefelderin (Claudia Bremer) versucht sich in Berlin zurechtzufinden, und wird dabei gefilmt von Perikles Papadopoulus. Ein Kameramann, von dem das Internet nichts weiß. Vom Regisseur Werner Klett kannte ich lange Zeit nur den wunderschönen Kurzfilm: Ein fauler Bauer (1982 Illing & Klett), den wir im Filmclub 813 oft und gerne zeigten. Es geht darin um Erfindungen, die ein Obstbauer macht, um seine schwere Arbeit zu erleichtern. Zu Klängen von Erik Satie wird eine extravagante Windmaschine als Mittel der Schädlingsbekämpfung vorgestellt: fliegend über Obstbäume im Ein-Mann-Helikopter.
Cesta do praveku (1955 Karel Zeman)
„Mit dem Finger zeichnete er auf der Landkarte die Grundzüge seiner Theorie nach.“
In der Mitte seines Romans „Chesapeake“ („Die Bucht“, 1978) beschreibt James A. Michener, wie jemand, der eine originelle Idee beweisen will, sich auf die Suche nach der Quelle eines Flusses macht.
„Auf dem beinahe vierzig Meilen langen und windungsreichen Abschnitt von Tunkhannock nach Towanda begegnete er keinem Menschen. Gelegentlich stapfte er, da es keine Wege gab, in Ufernähe durch den Fluss. Er aß wenig, ein Stück Brot und etwas Käse, und nahm sieben Pfund ab. In diesen einsamen Tagen fasste er den Plan, seine Spekulationen über den Susquehanna und dessen Verflechtung mit der Bucht, die er so liebte, zu Papier zu bringen. Ganze Tage verbrachte er damit, einen einzigen Satz zu formulieren, weil dieser so bedeutend klingen sollte wie die Texte der Bücher, die er im Winter gelesen hatte.“
Aus Micheners Weltbestseller erklingt an dieser Stelle ein Lobgesang auf all jene Bücher, die kaum jemand kennt, und deren Wirkung doch groß ist.
„Der Forschungsgeist des Menschen schreitet in großen Umwälzungen vorwärts – wie ein Punkt am Rande eines sich drehenden Rades. Bewegt er sich auch voran, kann es doch nicht lange so bleiben, denn das Rad und das Fahrzeug, zu dem es gehört, streben weiter, und auf diesem Weg dreht sich auch der Punkt am Rande des Rades schließlich zurück. Diese pendelnde Bewegung , bei der jede Position nur vorübergehend gültig ist und kaum fixiert werden kann, nennen wir den Zivilisationsprozess.“ (Thomas Applegarth: „Die Eiszeit“, 1813)
Cesta do praveku (1955 Karel Zeman)
Positionsnotizen in „… Karel Zemans Kinderfilmklassiker Reise in die Urzeit, in dem vier Jungen das Fossil eines Gliederfüßers finden und aufbrechen, um auf einem Fluss entlang der Zeit zurück zum Anbeginn allen Lebens zu reisen. Unterwegs begegnen sie vor den Landschaftspanoramen Burians allerlei Sauriern, die auch Vorstudien der Arbeiten von Stop-Motion-Legende Ray Harryhausen sein könnten Als sie das Meer erreichen und wieder einen versteinerten Triboliten finden, versteht der Jüngste unter den Freunden den Lauf der Zeit.“ (Stefan Ertl, in SGE # 25)
1914. Es schiebt sich der Schatten eines deutschen Helms über die Landkarte Belgiens. Was das Symbolische vom Wirklichen trennt, wird bedrohlich überschritten von einem Stiefel. Der Film, der so beginnt, findet in seinem spannenden Fortgang ständig vom Pathos zur Plastizität und nimmt dabei die überraschendsten Abkürzungen: vom Deutschen, der sich im okkupierten Haus aufs Bett wirft, wird achtlos die dort ausgebreitete Karte der Stadt Lille mit der Stiefelspore durchbohrt.
Dann, während der Offizier seinen Rausch ausschläft, nimmt ihm die junge Belgierin eine geheime Militärkarte ab.
Espionnage ou la guerre sans armes (1928 Jeаn Choux)
Es gibt gegen Butterbrotpapier und Bleistift keinen Kopierschutz.
Am nächsten Morgen aber erlebt sie den Angsttraum des Erwischtwerdens.
Gefahrvolle Situationen geben dem Kino die Gelegenheit, jene fiebrige Arbeit abzubilden, die einsam in der Nacht getan werden muss – im hellwachen Traum vom Guten, das heimlich noch zu retten ist.
Die Erfindung des Verderbens – Vynález zkázy (1958 Karel Zeman)
„Im Halbdunkel von Hanks Atelier glaubte ich in dem abstrakten Liniennetz immer eine Weltkarte sämtlicher Munitions- und Waffendepots samt Lieferantenrouten zu erkennen, so sehr glich das Bild einem Geheimplan, und hinter einem Geheimplan steckt immer die Logik des Militärs. Wir ziehen in den Wirrwar wäre mir als Bildunterschrift und Persiflage auf solch eine Kartographie ganz plausibel erschienen.“ (Pico Be)
Auf dem Kometen – Na Komete (1970 Karel Zeman)
In der Kindheit hatte mich diese tschechoslowakische Jules Verne Verfilmung schwer verwirrt, ja, verängstigt. Jetzt, beim unvermuteten Wiedersehen, konnte ich das, was mir damals Angst einflößte, nicht klar erkennen. Nur Schönheit.
„Es ist Zeit, sich zu besinnen. Wir suchen offenbar nach einer Einsicht, die uns das Wesen der Angst erschließt, nach einem Entweder-Oder, das die Wahrheit über sie vom Irrtum scheidet. Aber das ist schwer zu haben, die Angst ist nicht einfach zu erfassen. Bisher haben wir nichts erreicht als Widersprüche, zwischen denen ohne Vorurteil keine Wahl möglich war. Ich schlage jetzt vor, es anders zu machen; wir wollen unparteiisch alles zusammentragen, was wir von der Angst aussagen können, und dabei auf die Erwartung einer neuen Synthese verzichten.“ (Sigmund Freud: Hemmung, Symptom und Angst, 1926)
Eine Nest von Nazis mitten in London. Contraband (1940 Michael Powell)
Lässt sich auf die Erwartung eines Zusammenhangs überhaupt verzichten? Die Art und Weise wie ein paar Zusammengewürfelte (Alliierte) gegen eine Organisation (Deutschland) kämpfen, davon erzählen viele Filme der frühen 40er Jahre.
The Impostor (1944 Julien Duvivier) via
„Der Film von heute, technisch vollkommen, artistisch raffiniert , längst gesellschaftsfähig, lächelt mitleidig über seine wilde Jugend. Er ist erwachsen geworden,“ beklagt Sebastian Haffner (in: Koralle. Wochenschrift für Unterhaltung, Wissen, Lebensfreude) im Januar 1937.
Männer mit Karten: Gegner, Feinde, Gleichinteressierte, Generale.
In keinem anderen Film wird so ausgiebig auf Pläne geschaut wie in Sebastian Haffners Anatomie der Marneschlacht (1977 Franz-Peter Wirth). Und es ist überhaupt nicht langweilig.
„Sie werden sehen,“ sagt Haffner zu Beginn: „solange er selber redet, hat jeder recht.“ So behauptet Hannes Messemer als Gallieni: „Die Marneschlacht ist am Telefon geschlagen worden.“
Die Schaubilder mit ihren bunten magnetischen Elementen erinnern an Mengenlehre. Und die Gesichter von Schauspielern wie Ferdy Mayne oder Siegfried Wischnewski anzuschauen, das ist eine Reise in eine ganz andere Zeit.
Thunderbird 6 (1968 David Lane)
Der Flugplan kündigt den Grand Canyon an. Der ist in diesem britischen Puppenfilm „nur“ ein Modellbau.
Thunderbird 6, die Fortsetzung von Thunderbirds Are Go, ist ein Puppenfilm mit vielen Großaufnahmen von Händen, die keine Puppenhände sind. Das X markiert die nächste Station auf einer Luftschiffreise: Ein Restaurant in den Alpen, wo das Essen mit Hilfe von Modelleisenbahnen serviert wird.
I Know Where I’m Going (1945 Powell & Pressburger)
An das Studium der Schottlandkarte schließt sich der wildeste Reisetraum an, den die Welt je gesehen hat; gefilmt durch die Plastikhülle eines Brautkleids. Mit einer Modelleisenbahn zwischen karogemusterten Bergen.
Die zweite Karte im Film zeigt groß die Insel Kiloran, das Ziel der Reise. Ein leerer Umriss.
Wer sucht, der findet Kiloran auf Wikipedias unvollständiger Liste erfundener Inseln.
Les soleils de l’Ile de Pâques (1972 Pierre Kast)
Die Sonnen der Osterinseln. Das ist ein seltsamer Reisefilm, späte Nouvelle Vague und frühes New Age. Es geht um Geomantie, Solarenergie und die Schrägaufzüge von Valparaiso.
Pierre Kast sei „ein Literat“, schrieb Max Zihlmann (in Film 3/1963). „Das soll nicht heißen, dass seine Bilder nur eine an sich überflüssige Illustration zu seinen Worten sind. Gerade aus der Wechselwirkung von Text und Bild lebt dieser Film (La morte-saison des amours). Die Menschen diskutieren in einem fort, reflektieren, interpretieren sich selbst – um durch das Bild widerlegt zu werden.“
Die Poesie des Zerfalls von Nitratfilm. Visages d’enfants (1925 Jacques Feyder)
Selbstvergessen. Die Konturen der Schweiz nachzuzeichnen, mit schräggelegtem Kopf.
La Bandera (1935 Julien Duvivier) via
Auf einem Tisch und in der Vorstellung: Paris und die Seine. Und wie der Fluss sich da schlängelt, wohlwissend, dass man seinen Aufenthalt in Paris, wenn’s irgend geht, verlängert.
Robert Louis Stevenson: „Das Licht der Flüsse. Eine Sommererzählung“ (An Inland Voyage, 1878). Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann; Aufbau, 2011