Sonntag, 23.08.2015

Konstruktiver Realismus

Die Konstruktion von King Vidors Wild Oranges (1923) ist bewunderungswürdig, weil sie das Allerunwahrscheinlichste wahrscheinlich werden und das Wahrscheinliche das Allerunwahrscheinlichste bewirken lässt.
Es beginnt mit einem Stück Zeitung auf einem Weg, das hochweht. Pferde scheuen vor dem Papier, gehen durch, eine Frau stürzt aus der Kutsche, bricht sich das Genick, und das Zeitungsblatt treibt ungelesen weiter, den Weg der ewigen Kontingenz hinab. Nicht selten verketten sich Umstände unglücklich, und an einer solch unglücklichen Verkettung werden wir notwendig sterben, aber so beiläufig, ja kühl wie hier stellt sich der Vorgang doch selten dar.
Noch seltener ist dies: An einer Bucht leben in einem verfallenden Herrenhaus ein alter Mann und seine Enkelin. Seit dem Bürgerkrieg leidet er an klappernder Furcht und hat diese Furcht auf seine Enkelin übertragen. In der Nähe des Hauses befindet sich aber auch ein Sumpfland voller hungriger Alligatoren und streunt ein Zwei-Meter-Mann umher, der eine alte Frau umgebracht hat.
Nun könnte einer sagen, auch wenn der Bürgerkrieg, der die Furcht auslöste, lange vorüber ist, gibt es doch gute Gründe, sich zu fürchten, denn Großvater und Enkelin werden von tödlichen Gefahren umlauert. Doch so ist es nicht. Die Alligatoren lassen sich umgehen und der Koloss ist „part man and part child“, tumb, aber solange ungefährlich, solange er nicht gereizt wird.
Er wird aber gereizt, nämlich eifersüchtig, weil der Bräutigam der Frau aus der Anfangsszene, von ihrem Tod in die Einsamkeit der See getrieben, mit seiner Yacht „Yankee“ in dieser Bucht vor Anker geht und auf die Enkelin trifft. Der Zufall, schreibt Balzac, ist die „zweite Vorsehung“. Und so beginnt ein Horror, der seinesgleichen sucht und ebenso überraschend und logisch endet, wie er begonnen hat.
Das Unwahrscheinliche wahrscheinlich zu machen, ist Konstruktion. Das Wahrscheinliche unwahrscheinlich zu machen, ist Kunst. Dieser Film hat beides, er begründet das erstaunliche Genre des konstruktiven Realismus.

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