Montag, 12.10.2015

Marotte eines Filmhistorikers

Am Freitag und Samstag zeigt arte in der „Komischen Oper“ Stummfilme mit Live-Musik in der Art wie sie früher im Kino gezeigt wurden – d.h. mit Vorprogramm und Bühnenschau (Konzept und Produktion: Nina Goslar, Ulrich Lenz, Rainer Simon). Am 16. 10. laufen The Immigrant (1917) von Charles Chaplin, Manhatta (1921) von Paul Strand und Regeneration (1915) von Raoul Walsh.
Am 2. Abend (17.10.) laufen die Kurzfilme „Wenn die Filmkleberin gebummelt hat“, „Die Pritzelpuppe“ und F.W.Murnaus „Tartüff“ (1925).

Frank Strobel, der Dirigent des 2. Abends, hat dem Tip (21/2015) ein Interview gegeben. „Wir sehen Stummfilme heute zu langsam. Mit gemeinhin 18 Bildern pro Sekunde. Dabei gehen wir von einem Realitätsempfinden aus, das vom Tonfilm geprägt wurde. Wir betrachten Bewegungen, die zu schnell erfolgen, als unnatürlich. Nur: Die schnellere Bewegung war ein Stilmittel der d damaligen Zeit.“ Und: „Film, zu Zeiten des Stummfilms, war nicht als reales Abbild unserer Welt gedacht. Sondern als etwas Künstliches. Das ist der Grundirrtum, dem wir heute zumeist unterliegen.“

Das kann man noch etwas zuspitzen. Nicht wir unterliegen diesem Grundirrtum, sondern wir werden in diesem Irrtum gehalten, denn nahezu alle Stummfilme, die auf DVD angeboten werden, laufen in der falschen Geschwindigkeit. Prominentestes Beispiel ist „Metropolis“, der nach Angaben des Komponisten mit 28 Bildern/sec. laufen sollte. Dann wird aus „Metropolis“ ein Ballett, also ein ganz anderer Film.

Hier einige Angaben zu den Laufbildgeschwindigkeiten von Stummfilmen – sozusagen am Wegesrand notiert:
Fridericus Rex (1922/23): 25 B/sec, diverse Einstellungen langsamer
Alt-Heidelberg (1922/23): 14 – 24 Bilder/sec. 24 Bilder werden als Normaltempo bezeichnet.
Zur Chronik von Grieshuus (1925): 25 – 27 Bilder/sec
Metropolis (1925/26): 28 Bilder/sec
Der Mann im Feuer (1926): 26 Bilder/sec
Luther (1927): 27 Bilder/sec
Das Ende von St. Petersburg (1927): 26 – 27 Bilder/sec
Wenn ein Weib den Weg verliert (Cafe Electric) (1928): 30 Bilder/sec
Küsse, die töten (Verheimlichte Sünden): 28 Bilder/sec
Dorine und der Zufall (1928): 28 Bilder/sec
Saxofon-Susie (1928): 28 Bilder/ sec
Die tolle Komtess (1928): 28 Bilder/sec
Aus dem Tagebuch eines Junggesellen (1928): 28 Bilder/ sec

Manche Filmhistoriker glauben, diese forcierte Geschwindigkeit sei auf die Geschäftstüchtigkeit der Filmtheater-Besitzer zurückzuführen. Je schneller der Film läuft, desto mehr Vorstellungen konnten pro Tag angesetzt werden. Da ist was dran und es ist trotzdem falsch. Die Laufbildgeschwindigkeiten, die ich oben angeführt habe, sind zum überwiegenden Teil Angaben des Verleihs und der vom Verleih beauftragten Kapellmeister – unter ihnen übrigens auch Paul Dessau.

Wenn wir Stummfilme überwiegend in falscher Geschwindigkeit sehen – haben wir dann nicht einen ganz falschen Eindruck von der Wirkung dieser Filme? Richten wir uns also die Vergangenheit gemütlich zurecht und reden dabei gleichzeitig von der Beschleunigung der Wahrnehmung, ohne die früherer Zeiten wahrnehmen zu wollen? Und – interessiert das jemanden? Ehrlich gesagt: niemanden. Das ist ja das Dilemma.

Ich bin jedenfalls gespannt, mit welcher Geschwindigkeit „Tartüff“ in der Komischen Oper unter dem Dirigat von Frank Strobel laufen wird.

Ein Kommentar zu “Marotte eines Filmhistorikers”

  1. Stefan Pethke schreibt:

    Sehr interessant!
    Bis eben war das Fernsehen schuld: „Väter der Klamotte“ und so, Anpassung alter Filmablaufgeschwindigkeiten (18/sek) auf Bedürfnisse des TV, die ihre 24 bzw. 25/Sek von der später durchgesetzten Celloloid-Rate erbten, aber eben für die große Verbreitung sorgten.
    Dann mal, vor über 10 Jahren, der zufällige Satz von jemandem, der bei Stummfilmgroßveransaltungen Gelegenheitsvorführer war u. mir den Ausdruck „dynamisches Vorführen“ schenkte. Er bezeichnete damit eine für mich damsals für technisch unmöglich gehaltene Flexibilität des Projektionisten. Dass das Händische mit Autorenansprüchen bzw. mit Identifizierungsmöglichkeiten einhergeht, drang hiermit bis zum Vorgang des Filme-auf-die-Leinwand-Bringens durch.
    Dass es sich um quase institutionalisierte Flexibilität handelte, lerne ich durch diesen Beitrag.
    Die Realismus-Debatte finde ich um einen wichtigen Aspekt bereichert.

Schreiben Sie einen Kommentar

Sie müssen angemeldet sein, um zu kommentieren. Ein neues Benutzerkonto erhalten Sie von uns, bitte dazu eine Email mit gewünschtem Username an redaktion(at)newfilmkritik.de.


atasehir escort atasehir escort kadikoy escort kartal escort bostanci escort