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Die Geschichte vom kurzen Augenblick, in dem ich in einem Text über zwei New Yorker Celluloid-Retrospektiven statt „The DCP changeover“ „The DCP hangover“ las.
Die Geschichte vom kurzen Augenblick, in dem ich in einem Text über zwei New Yorker Celluloid-Retrospektiven statt „The DCP changeover“ „The DCP hangover“ las.
Als schwarze Silhouette schreitet die Hauptdarstellerin vom Dunkel ins Licht, hinein in den Filmtitel, zwischen die mannshohen Buchstaben. Dort wendet sie sich um, zieht an einer Zigarette und lässt den bodenlangen Mantel einen Spalt weit offen. Weiß leuchtet das enge Kleid. Dann die Pose, dann der Blick. So wie sie den Mantel öffnet, so auch die Augen, die Lippen, nur so weit es ihr gefällt.
Die Mücke (1954 Walter Reisch)
Walter Reisch: „Her name is Hilde Krahl, a very good actress. I had guided her through her very first picture, Silhouetten, directed by me in Vienna. She called me one day wanting me to come and make a picture for her. Nothing could have pleased me more. I had about four months‘ leave of absence from Fox, and gave up a lot of money just to make a picture with her. I wrote and directed a picture for her called Die Mücke [Madame Mosquito, 1954]—that’s an insect, you know—the story of an aging spy à la Mademoiselle Docteur [Edmond T. Greville, 1937] who in today’s age of computers and electronic devices, when her beauty and her feminine charms can no longer beguile and deceive officers of the enemy’s army, has lost her job. A very good picture.“
Als die Spionin zu Fuß unterwegs ist in den leeren Straßen von Bad Pyrmont, verfolgt von der Limousine eines Waffenhändlers, da fährt eine Dampflok aus einer Häuserecke und zwingt den Verfolger anzuhalten.
Vom Waffenhändler bekommt die Spionin den Auftrag, herauszufinden, ob seine Frau (Margot Hielscher) ihm treu ist.
Wenn die beiden Frauen sich gemeinsam amüsieren, und über allem ein Geheimnis liegt, da, in der Mitte, gefällt mir der Film am besten. Ob zuletzt das Dunkle oder das Frivole siegt, ist nicht vorhersehbar. Doch Walter Reisch ist zu sehr Drehbuchautor. Mit Wendungen zügelt er die wilde Richtungslosigkeit seines Films.
In einem Kino in Triest hat der Waffenhändler ein heimliches Geschäft abgeschlossen.
Dieser Böse, dargestellt von Gustav Knuth, könnte in Walter Reischs Film durchaus auch jenen schönen Satz sagen, der mir im neuen Film von Hakan Algül sehr gut gefiel: „Auch wir, die Bösen, auch wir lieben.“
(Pferde, Luxus und Gefahr. Auch das gibt’s in der türkischen Tierarztkomödie Niyazi Gül Dörtnala.)
Dem Detektiv in Josephine Teys Kriminalroman „Wie ein Hauch im Wind“ ging 1950 etwas Hoffnungsvolles durch den Kopf. „Zumindest hatten sie Verstand, die heutigen Kinder. Das Kino sorgte dafür, nahm er an. Es waren immer die auf den billigen Plätzen – die Stammkunden -, die alles begriffen, während diejenigen auf den Balkonplätzen noch im Dunkeln tappten.“
Die BRD-Filme der vielgescholtenen 50er Jahre wurden unsinnigerweise Papas Kino genannt. Die vielen Frauenfilme von Alraune (1952 Rabenalt) bis Barbara (1961 Wisbar) waren Kino par excellence – sowohl Die Sünderin (1951 Forst) als auch Die Rote (1961 Käutner), all der Skandal und das Verruchte – es war Mamas Kino.
Die kurze Zeit, in der das deutsche Filmschaffen ohne staatlichen Auftrag war, zwischen Nürnberger Prozess und Oberhausener Manifest, diese Phase will rehabilitiert werden. „Ach rüttel mich, ach schüttel mich.“ Wer sich nicht fürchtet, es könne ihm ein Apfel auf den Kopf fallen, dem kann Die Mücke überzeugende, optische Argumente liefern. Auch dank des Kameramanns Kurt Hasse, in dessen Filmografie sich erstaunliche vier (!) SGE-Kanon-Filme befinden: Himmel ohne Sterne (1955 Helmut Käutner), Mein Vater, der Schauspieler (1956 Robert Siodmak), Raubfischer in Hellas (1959 Horst Hächler), Stadt ohne Mitleid (1961 Gottfried Reinhardt).
Da sind außerdem die Titel von drei Barbara-Rütting-Filmen: Liebe, wie die Frau sie wünscht; Alle Sünden dieser Erde; Ich war ihm hörig. Und dann die ersten fünf Filme von Alfred Vohrer: Schmutziger Engel, Meine 99 Bräute, Verbrechen nach Schulschluss, Mit 17 weint man nicht, Bis dass das Geld Euch scheidet… In den Titeln steckt das volle Programm: Mamas Kino, von dem der Junge Deutsche Film sich losreißen wollte. Um was zu werden. Was? Literaturverfilmung. Fernsehen. Patriarchat.
Kurt Hasse war übrigens auch Kameramann bei der Raumpatrouille (1965).
„Ein gigantisches schwarzweißes spiralenförmiges Ding, dessen Ausmaße schlicht unfassbar sind,“ sollte ich noch nachliefern. Claudia Basrawi hat mich gebeten, ihre Vision vom zweiten Teil der Quereinsteigerinnen nicht zu verfilmen, sondern stattdessen mit ein paar Bildmontagen zu illustrieren. Besonders lag ihr der „Fassjunge“ am Herzen.
Noch eine Empfehlung. Neu im Kino: Melissa McCarthy, Miranda Hart und Rose Byrne in Spy (2015 Paul Feig). Etwas zum Lachen. Eine Action-Komödie für die Stammkunden. Ein makelloser Film.
Vor kurzem habe ich „Eine Taube sitzt auf einem Ast und denkt über das Leben nach“ von Roy Andersson gesehen. Darin gibt es eine Szene, die mich seither verfolgt, mehrmals am Tag muss ich daran denken. Und jedes Mal wird die Empörung größer. Ich möchte hier in die Cineastengemeinde hineinfragen, wie es Anderen mit dieser Szene geht?!?
Der Film rankt lose Episoden um zwei Protagonisten, erfolglose Handelsvertreter für unoriginelle Scherzartikel, die wie auch die meisten weiteren Akteure eher unattraktive Durchschnittsmenschen darstellen. Die Welt wurde nachgebaut und in entsättigte Farben getaucht, zur Theaterbühne gemacht. Es ist eine perspektivlose Welt, die Menschen sind desillusioniert, uninspiriert und hängen besseren Erinnerungen hinterher, von einem lebendigeren Leben. Die reduzierte Narration bietet eine naiv-lakonische Komik, die wohl zünden mag, wenn man viel hinzuphilosophiert. Vordergründig klingt alles schrecklich banal. Ich muss den Grundton des Films schildern, um die Besonderheit der bewussten Szene verständlich zu machen. (Außer ihr gibt es zwei weitere Szenen, die aus dem Rahmen fallen, die ich hier nicht weiter verhandeln möchte – eine historische Episode über den Krieg und eine in einem Affenversuchslabor.)
Also, die Szene spielt in der Kolonialzeit. In eine riesige, scheinbar liegende Kupfertonne, an der Seite ist eine offenstehende Tür, wird eine Gruppe von angeketteten Sklaven geführt, unter Bewachung von Soldaten und Peitschenhieben. Eine Frau mit Kind auf dem Rücken bricht jammernd kurz vor der Tür zusammen, wird trotzdem hineingezwungen. Die Tür wird verschlossen. Eine Fackel wird angezündet, diese unter die Tonne gehalten und man gewahrt, dass die Tonne wohl über einem mit Treibstoff gefüllten Becken hängt, der in Flammen aufgeht. Die Tonne ist gespickt mit verschieden großen Trichtern, wie von altmodischen Hupen oder Megaphonen. Als das Feuer eine Weile brennt, beginnt es aus dem Innern zu rumoren und die Tonne zu rotieren. Ein seltsamer Singsang ertönt. Vage kann man das Trappeln der verzweifelten Menschen in der Tonne durchhören, aber die „Musik“ bleibt doch sehr abstrakt, ein undefinierbarer Klang. Auf der Tonne steht der Name des (bekannten schwedischen Kupfer-) Herstellers ‚Boliden‘. Nach geraumer Zeit erfolgt ein Schnitt auf eine Fensterfront, in welcher sich die Tonne spiegelt. Die Fenster werden aufgeschoben und eine Gruppe von greisen Honoratioren und Damen, in Frack und Ornat und Abendkleidern tritt bedächtig, etwas wackelig auf den Beinen, heraus auf die Terrasse, ergriffen lauschend.
Boliden ist u.a. bekannt durch einen Skandal in Andalusien, wo nach einem Dammbruch giftiger Abraumschlamm einer Kupfermine in einen Fluss gelangte, woraufhin viele Anwohner erkrankten und starben.
Natürlich geht es auch sonst im Film um Fragen, was der Mensch dem Menschen antut, Machtstrukturen, Hierarchien, Ausbeutungsverhältnisse… Aber da bleibt es meist in einem alltäglichen Rahmen. Der Kupfermenschenkochkessel als Musikwalze ragt als Solitär heraus. Ein Bild entsetzlicher Folter als Genuss für eine überalterte dekadente Herrscherklasse.
Wer hat den Film gesehen? Wer hat dazu eine Meinung?
Eine der wenigen Kritiken, die überhaupt diese Szene behandeln:
„Endgültig absurd wird es am Ende nach dem letzten Zwischentitel: »Homo sapiens«. Ein Affe im Versuchslabor, auf schockierende Weise festgekettet und sein Kopf eingespannt, der Schädel aufgesägt und verdrahtet. Ihm werden bei lebendigem Leib Stromstöße versetzt, während die Laborantin neben ihm – hässlich, dick, im Kittel, wie fast alle Menschen in diesem Film hässlich, dick und unvorteilhaft gekleidet sind – während diese Laborantin also ungerührt telefoniert. Das ist natürlich billigste Denunziation von Wissenschaft, so billig, dass es den Zuschauer beleidigt zurücklässt, aber trotzdem ein hochgradig eindrucksvolles, dabei seltsam schönes Bild.
Ebenso das Nächste: Ein Dutzend halbnackte Schwarze, offenbar afrikanische Eingeborene in traditioneller Kleidung, angekettet zum Teil mit Halseisen – »wie der Affe« kommt einem unwillkürlich in den Sinn, soll es wohl auch, obwohl und weil diese Assoziation rassistisch ist. Sie werden von Weißen im Tropenkostüm des frühen im 20. Jahrhunderts mit Peitschen in einen Metallkessel getrieben, der wird erhitzt und beginnt sich zu drehen, womöglich von innen im Überlebenskampf angetrieben. Es folgt ein 180-Grad-Schwenk auf eine Party-Gesellschaft aus lauter reichen Alten, die sich das Spektakel angucken. Auch das denunziert überaus billig und viel zu einfach westlichen Kolonialismus, ist aber gut abzusehen und als Bild für sich stark.“ (Rüdiger Suchsland, http://www.artechock.de/film/text/kritik/t/tasiau.htm)
Roy Andersson in einem Interview:
„Heutzutage muss man zuerst an sich selbst denken und seinen eigenen Gewinn maximieren, indem man andere übervorteilt. Ich will gar nicht über die schrecklichen Folgen dieses Verhaltens nachdenken. Es ist eine Katastrophe, ein Irrsinn, der den jungen Leuten den Glauben an das Gute austreiben wird.
Ich hasse Erniedrigung, andere Menschen erniedrigt zu sehen und selbst erniedrigt zu werden. All meine Filme drehen sich irgendwie um Erniedrigung. Ich komme aus der Arbeiterklasse und habe gesehen, wie sich Verwandte vor ihren Vorgesetzen selbst erniedrigen, einen übertriebenen Respekt für Autorität zeigen, der ihnen unmöglich macht, ihre Meinung zu sagen und ihnen nur Schuldgefühle lässt. Das habe ich mein ganzes Leben lang erlebt, und ich habe beschlossen, dagegen zu kämpfen“ (….)
„eine präzise arrangierte Szene, in der ein schreckliches Verbrechen in einen fiktiven historischen Kontext gestellt wird. In der Kombination von Grausamkeit und Schönheit ist das fast eine Provokation. Ich beziehe mich auf die Massenvernichtungsszene gegen Ende des Films. Britische Kolonialisten treiben Sklaven in einen Kupferzylinder, und aus den letzten Schreien der Opfer entsteht eine langsame, wundervolle Musik.
Für einen Künstler ist es wichtig, sogar notwendig, vorgefasste Meinungen durcheinanderzuwirbeln, daran zu rütteln, dem Gefühl von Schuld in der Welt etwas hinzuzufügen. Wir sollten uns immer noch schämen. Ich habe diese Szene seit 50 Jahren in meinem Kopf, und es befinden sich darin jede Menge historische Anknüpfungspunkte. Ich bin sehr glücklich, dass sie mir ohne Unterwürfigkeit oder Sentimentalität gelungen ist. „
Kinelab Spezial zeigt
Werner Nekes und K Wyborny im Metropolis Kino Hamburg – Freitag 15. Mai 2015 19 Uhr
Im Sommer 1968 eröffneten Werner Nekes und Klaus Wyborny in einem Keller in der Hamburger Brüderstraße mit Matratzen und Bänken ein legendär gewordenes improvisiertes Kino. Einen Sommer lang wird es zum bestens besuchten Projektionsort der besonderen Art, an dem sie grad frisch von ihnen gedrehte Filme vorführen, die vielleicht „zum ersten Mal wieder eine gewisse Originalität in den deutschen Film seit 33 brachten.“ Das Metropolis zeigt ab 19 Uhr in zwei aufeinanderfolgenden Programmen eine authentische Auswahl der 1968 tatsächlich einmal dort gezeigten Filme.
Zu Gast: Klaus Wyborny & Werner Nekes
Moderation: Anja Ellenberger
Programm 1 (19 Uhr): A Crowd in the Face (Wyborny Mai 1968, 8’); Schnitte für ABABA (Nekes 1967, 14’); Start (Nekes 1966, 10’); Put-Putt (Nekes 1967, 10’); Home Sweet Home (Wyborny Mai 1968, 12’); Fehlstart (Nekes 1966, 15’); Im KZ (Wyborny Mai 1968, 8’); Jüm-Jüm (Nekes & Dore O, 1967, 10’)
Programm 2 (21 Uhr): Auf zu den Sternen (Wyborny Juni 1968, 15’); Artikel (Nekes 1966, 10’); Drei Tage mit Janine, 3 Tage mit John (Wyborny Juni 1968, 15’); gurtrug 1 (Nekes 1967, 12’); Thorium 232 (Wyborny Juli 1968, 17’); Zipzibbelip (Nekes 1968, 11’)
Darüber hinaus sind im Metropolis Café, unter dem Titel „Poor Little Europe“, beginnend mit ebenfalls dem 15. 5., permanent drei sogenannte „Pazifische Installationen“ von K. Wyborny zu sehen (mit Tilda Swinton und Hanns Zischler).
Metropolis Kino Hamburg, Kleine Theaterstraße 10
Casablanca (1942 Michael Curtiz)
Der Relief-Globus dreht sich, während die Erzählerstimme beginnt, den Weg zu beschreiben, der mit dem Ziel Amerika nach langem Umweg unterbrochen wird in Casablanca. Wo die Flüchtenden gezwungen sind zu warten…
A Canterbury Tale (1944 Powell & Pressburger)
Die Unterbrechung der vorgesteckten Route ist ein Erzählprinzip. Selten oder nie wurde es so überschwänglich umarmt wie in A Canterbury Tale. Der Wegstopp wird hier, im klaren Bewusstsein des Krieges, zur hellen Erscheinung des Friedens.
Vesuv im Mini-Europa-Park, vor Atomium (1958) in Brüssel
The Story of Ruth (1960 Henry Koster)
Auf meiner Liste jener Regisseure, die von der Filmgeschichtsschreibung ungerecht behandelt wurden, hat Henry Koster den Platz Nummer Eins. Seine Filme, einst Teil meiner Kindheit, verwandeln sich beim Wiedersehen in Rätsel. Der Weihnachtsfilm The Bishop’s Wife zum Beispiel – kein Krippenspiel, sondern ein Satyrspiel, mit Cary Grant – lässt mich fragen: Gibt es noch andere Filme, die so enden, dass einer aus dem Gedächtnis aller komplett verschwindet? Koster war so entschieden individualistisch, dass er vollständig aufgehen konnte in Hollywood. Sein Werk hat, wovon Lang oder Wilder nicht mal träumen konnten: aufrechte Ausgelassenheit und dyonisische Würde. It Started with Eve (1941), The Bishop’s Wife (1947), The Luck of the Irish (1948), Harvey (1950), No Highway in the Sky (1951), My Cousin Rachel (1952), The Story of Ruth (1960), Mr. Hobbs Takes a Vacation (1962). Ich ärgere mich so sehr, dass ich im März, als The Robe (1953) im Düsseldorfer Metropol gezeigt wurde, diese winzige Reise aus Trägheit nicht antrat.
Pat Dzejachok, „Miss Century 21“, erklärt auf der Weltausstellung in Seattle 1962, wie das Mobil Driver Game vonstattengeht.
links: Cover der Zeitschrift „Gebrauchsgraphik“, Juni 1961, Erik Nitsche; rechts: Weltausstellungsplakat mit Space Needle (1962), gemalt von Harry Bonath
Unter Dir der Himmel (1965 Hermann Stöss)
Ein Bundeswehrfilm-Gedicht/Essay mit Musik von Oskar Sala.
Dazu bald mehr im neuen Sigi-Götz-Entertainment.
La Sirène du Mississippi (1969 François Truffaut)
Ein Mann aus dem Süden, eine Frau aus dem Norden…
Dracula (1992 Francis Ford Coppola)
Eine Frau aus dem Westen, ein Mann aus dem Osten…
travel by map The Muppets (2011 James Bobin)
Das Arsenal zeigt in seiner Magical History Tour – Kino im Plural: „Filme, die das kollektive Arbeiten sichtbar und zu ihrem Thema machen“.
Heute, am 1. Mai, Casablanca und morgen, am 2. Mai, um 20 Uhr Die Quereinsteigerinnen.
Nebenwege, die zu einem Hauptweg führen.
Das Projekt Racines von Richard Copans – Gründer von „Les Films d’ici“ in Paris, Kameramann, Realisator, Produzent (Robert Kramer, Luc Moullet, Richard Dindo, Stan Neumann u.a.m.) – erforschte die eigenen Herkünfte und brachte neben dem Film gleichen Titels (2002, 95 Minuten) auch zwei ‚Nebenprodukte’ hervor: Vilnius (2000, 43 Minuten) und Les Disques de Rivka (2005, 45 Minuten).
Insbesondere letzterer ist in meinen Augen einmalig: Copans, der seine Recherche auf Litauen ausdehnte (sein Grossvater väterlicherseits hatte, bevor er Ende des 19. Jahrhunderts in die Vereinigten Staaten auswanderte, Wurzeln in Vilnius, dt. Wilna), interessierte sich für die Schallplattensammlung mit jiddischem Gesang und Synagogen-Musik von Rivka, die ihm gegenüber jedoch misstrauisch und ablehnend blieb. Zwei Jahre später fuhr er erneut nach Vilnius und konnte die sehr alte und schwache Rivka auch filmen und 2004 (nach ihrem Tod) nochmal ergänzendes Material und Informationen durch den Bericht ihres Neffen Boris sammeln. Das Zeugnis von Rivka, die das Massaker an den Juden in Litauen in einem Waldversteck überlebt hatte, besteht nicht nur in dem, was sie sagt, sondern vor allem in dem, was sie gesammelt und festgehalten hat: neben den Schallplatten (die einem Nachbarn gehörten und die sie nach dem Krieg beim Sohn des Bürgermeisters fand) Portraitfotos der jüdischen Bevölkerung von Butrimonys (ihrem Heimatdorf) – ihre eigenen, schriftlichen Aufzeichnungen über die Gräueltaten, begangen von litauischen Nachbarn, mit denen man vorher friedlich zusammengelebt hatte. Besonders diese Aufzeichnungen mit Namensnennungen, immer unmittelbar nach den Ereignissen festgehalten, waren natürlich brisant – und hätten sie auch nach dem Krieg noch jederzeit das Leben kosten können. (Die Kollaborateure und Mörder lebten ja schliesslich in derselben Umgebung.) Die Kennzeichnung der Stelle unter den lichten Bäumen, wo sich die Grube mit den 970 getöteten Juden (Männer, Frauen, Kinder) von Butrimonys befindet, und die Erinnerungstafel gehen auf ihre akribischen Aufzeichnungen zurück.
Copans (dessen mütterliche Seite der Familie französisch-katholisch ist) war natürlich klar, dass er bei seiner Recherche in Litauen auf die Shoah treffen würde. Er war dann aber doch geschockt, als er seinen Familiennamen auf den 1942 von den Nazis erstellten Listen der Ghettobewohner von Vilnius fand. Unbekannte Cousins und Verwandte waren bei der Auflösung des Ghettos auf Nimmerwiedersehen verschwunden.
Copans schreibt: „Ich wollte einen kurzen, ganz einfachen Film mit Rivka machen, um ihre Geschichte zu erzählen. Ich wusste nicht, dass ich Bauern treffen würde, die sie 1941 vielleicht denunziert, und andere, die sie während langen litauischen Wintern versteckt hatten. Ich wusste nicht, dass ihre Geschichte mich bis nach Washington führen würde, wo die 350 Fotos ihrer Vorkriegs-Nachbarn heute konserviert werden.
Ich hatte nicht geahnt, in welchem Mass ihre Lebensgeschichte mit der Arbeit des Erinnerns verbunden war. Wenige waren es, die ab 1946 die Lebensspuren der durch die Shoah vernichteten jüdischen Gemeinden sammeln und bewahren wollten.“
Viktor Matejka, österreichischer Schriftsteller und Kulturpolitiker, „Kämpfer für den wertvollen Film“ (Walter Fritz), von 1938 bis 1945 interniert in den Konzentrationslagern Dachau und Flossenbürg, erzählt von seinen Hafterlebnissen und -erfahrungen in dem Film „Goethe in D. oder Die Blutnacht auf dem Schreckenstein oder Wie Erwin Geschonneck eine Hauptrolle spielte“. Wie er erzählt, ist einzigartig, was er erzählt, ist es ebenfalls. Er spricht davon, wie einige Häftlinge sich Literatur „von innen“ erarbeitet haben. Sie banden Bücher aus einzelnen Blättern zusammen, auf denen Zeitungsausrisse klebten – aus der Nazipresse. Andere gab es nicht. Doch in der Nazipresse schrieben nicht nur Nazis. Matejka nennt als Beispiel den Autor Ernst Schnabel, aber auch andere. So entwickelte die Presse des Feindes, neu komponiert, montiert und handwerklich verarbeitet, eine neue, unerwartete, positive Kraft. Diesen Bericht dem Film von Manfred Vosz zu entnehmen, der ihn 1985 fertigstellte, ist nicht einfach. Ich sah das Werk im Bundesarchiv-Filmarchiv. Manfred Vosz ist im vergangenen Jahr verstorben. Er wurde bei diesem Film von Ronald M. Schernikau und anderen beraten.
* Andreas Mücke-Niesytka schreibt über Martin Gressmanns bemerkenswerte Langzeitbeobachtung »Das Gelände«.
Deutschlandpremiere des Films beim Festival »achtung berlin«:
Sa, 18. April, 19:15 Uhr, Passage
So, 19. April, 14:00 Uhr, Babylon 1
[edit:]
sowie ab 21. Mai im fsk-Kino am Oranienplatz
Harun Farocki: Ewigkeiten bei Tasmania
[Kurzfassung eines unveröffentlichten Texts von 2004, taz Berlin, 4./5./6. April 2015; dazu: diese Fotos]