Nie zu bezahlen
Als ich staunend vor Ernst Hodels Wandgemälde (5 x 15 Meter!) im Bahnhof von Basel stand, musste ich natürlich an Henry Hathaways GARDEN OF EVIL denken.
Das 6. Bildrausch Filmfest Basel bot am Wochenende Gelegenheit zurückzuschauen auf die Anfänge der Neuen Münchner Gruppe. Im Kraftfeld von Lemke & Enke & Zihlmann entstanden damals ein paar der schönsten Filme der 60er Jahre: MANNÖVER von May Spils, SABINE 18 von Marran Gosov, MÄDCHEN MÄDCHEN von Roger Fritz und ANATHAHAN ANATHAHAN von Martin Müller.
Vor einiger Zeit druckte SigiGötz-Entertainment einen längeren Text von mir mit der Überschrift:
MÜNCHEN MÄRZ 1969
von Rainer Knepperges
Der fremde Name einer Insel, eines Sternberg-Films oder Vulkans, ANATAHAN, thront als grafisch gestaltetes Firmenlogo über dem kleinen Wort „präsentiert“, worauf in zwei Zeilen die Leinwand füllend der Filmtitel folgt: ANATAHAN ANATAHAN, und in fast ebenso fetten, weißen Großbuchstaben, einzeilig: ANSGARD KULIK, ein unbekannter Name, dem die 16mm-Filmprojektion ein wenig von der Unruhe eines ersten Auftritts mit auf den Weg zur Leinwand gibt. Dann: SONJA LINDORF; und für den Bruchteil einer Sekunde erinnert sich die Filmkopie an dieser Stelle irgendwann mal durchgeschmort zu sein, und flackert auf. SIGI GRAUE, ROSI PRIESS, jeder Name zwei Sekunden lang zu lesen, WERNER ENKE, EBERHARD MAIER, ohne ein Geräusch, ohne Musik, KINKS, CHRISTI CULEMANN, nichts als römische Lettern und Licht und arabische Ziffern: ECLAIR ARRI 16
Sich diesem raren Film über die Beschreibung des Vorspanns zu nähern, hat zu tun mit einer weit verbreiteten, aber im Kino selten dargestellten Neigung, der hier rückhaltlos gefrönt wird: der Lust am Auflisten. Da sind die vielen Klassiker, aus denen eine Theatergruppe die besten Stellen reißt, um ein Stück daraus zu basteln. Da ist der Jungfilmer, der seine Pantheon Directors wie die Bundesligatabelle vom handgemalten Poster abliest. Da gibt es die Frage: „Welchen Tee möchtest du denn? Grünen? Schwarzen? Roten? Jasmin? Fenchel? Pfefferminz? Rauch? Malven? Chinesischen? Earl Grey? Hagebutten? Lindenblüten? Orange Peakou? Teefix?“ und die höfliche Antwort: „Vielleicht Malventee.“
Nachdem aber über Geldmangel, Kabelhilfe und das neue Micki-Maus-Heft geredet wurde, in dem es auf Goldsuche durch die Erde hindurch geht, ist Schluß mit dem Addieren – sind drei schon einer zu viel – und Zwei, frisch aus der Badewanne, in weiße Handtücher gehüllt, liegen auf der dunkelroten (wenn man’s weiß, denn der Film ist schwarzweiß), vom Zaren Nikolaus stammenden Samtdecke einander in den Armen, zur Musik von MARIANNE FAITHFULL.
Deshalb zurück zum Vorspann. Denn da setzt nach einer halben Minute Stille plötzlich die Musik ein, beim Namen KLAUS LEMKE. Er spielt einen amerikanischen Regisseur auf Besuch in München, eigentlich ein Deutscher, der sich aber Montgomery Hathaway nennt. RENATE ZIMMERMANN, BERND FIEDLER, THEM, deren gewaltiges Gloria im Film regelrecht einprügelt auf den, zwischen weißen Lautsprechern, bäuchlings auf dem Teppich das Plattencover betrachtenden Veith von Fürstenberg. Die Reihenfolge der Nennungen im Vorspann ist also vielleicht weniger zufällig, als ich dachte, denn gleich nach THEM kommt eben VEITH FÜRCHTEGOTT VON FÜRSTENBERG, der später dann über das Zusammenkommen und Auseinandergehen von Van Morrisons Band monologisiert, während Sonja Lindorf mit undurchschaubarem Schmunzeln geschehen lässt, dass er sie unterdessen sehr vornehm befummelt. NAGRA KUDELSKI, ein guter Name für ein Tonbandgerät. BERND SCHWAMM, STEPPENWOLF, CHRIS KARRER, AMON DÜÜL II, ALEXANDER ENGELBRECHT, und jetzt zur Musik der Gesang: Throw my ticket out the window. AXEL SCHEUERECKER, CREEDENCE CLEARWATER REVIVAL, GUNTRAM WARNECKE, Throw my suitcase out there, too. EDDIE COCHRAN, WOLFGANG LIMMER, CRASH. Throw my troubles out the door. BOB DYLAN. I don’t need them anymore. CHRIS WILHELM, HEINER OBERMAIER, ‚cause Tonight I’ll Be Staying Here With You.
Der Regisseur MARTIN MÜLLER, Jüngster in der Münchner Gruppe, ging, als die Filmerei in Schwabing richtig losging, noch zur Schule, war Hauptdarsteller in Marran Gosovs schönstem Kurzfilm SABINE 18, hat ein paar kurze und ein paar lange Filme gemacht. Soweit ich sie kenne, ist kein schlechter dabei. Ein besonders schöner entstand noch vor wenigen Sommern mit Peter Przygodda. Viele gute Jahre war Müller Regie-Assistent bei Lemke. Tonmann war er bei Wenders und Krebitz und Karmakar. Er lacht gerne und spricht leise. Musik hört er laut.
Die Buchstaben im Vorspann sind von Hand gesetzt. Noch bis in die 90er gab es das selbstklebende „Letra-Set“. Ich habe den Umgang damit nie vermisst, aber jetzt sehe ich den Reiz der kleinen Abweichungen bei den Buchstabenabständen. ILFORD V. Im Münchner Werkstattkino widmeten Dolly & Bernd mal ein Programm ganz dem 16mm-Format – dem ewigen Teenager unter den Filmmaterialen – das vom Leben am meisten einsteckt. Sweet Little 16mm. Manches verschwindet, manches bleibt. ROLLING STONES. Zu deren Cry to me der nachfolgend genannte CHRISTIAN FRIEDEL durch eine dunkle Münchner Diskothek hindurch langsame, große Schritte macht, dabei eine Zigarette dreht, die er unangezündet dem DJ rüber reicht, um sich sodann von einer Frau im langen, engen, schwarzen Kleid auffordern zu lassen, die leere Tanzfläche zu erobern. Wo sich beide im Takt von Creedence Clearwater Revivals Proud Mary, ganz auf die korrespondierenden Bewegung ihrer Hüften konzentriert, immer mal wieder in die Augen sehen. Gefilmt ist das in der Totalen, mit Tanzboden und Saaldecke, also richtig, wie alles in diesem Film.
Nachdem Klaus Lemke einen grandiosen Super-8-Film gesehen hat, in dem Werner Enke zum energischen Sound der Kinks – erst im Alleingang, dann zusammen mit Eberhard Maier – die Münchner Bürgersteige unsicher, also aus München Paris gemacht hat, sitzt Lemke ganz versunken da und hört über Kopfhörer Are You Lonesome Tonight. ELVIS.
MÜNCHEN MÄRZ 1969. Mit diesem Schriftzug endet der Vorspann. Und während das letzte Lied auf der brandneuen LP Nashville Skyline weiter erklingt, beginnt der Film mit einem großen Bett, das einer buntgemischten Clique von Männern und Frauen als Couch dient. Es sind insgesamt elf Leute, die wie zum Gruppenbild dicht arrangiert – gewiss von keinem drängelnden Fotografen, allenfalls von einem flämischen Meister, am ehesten vom süßen Schicksal, von der Schwerkraft ihrer Leiber dirigiert wurden – wie Zueinandergefundene. I should have left this town this morning. But it was more than I could do. Ich liebe Gruppenbilder, weil sie im Vorbewusstsein entstehen, gemeinsam einen unwiederbringlichen Augenblick aus dem Fluss der Zeit aufs trockene Ufer des Papiers ziehen zu können. Stolz und Traurigkeit mischen sich zu todgeweihter Albernheit. Böse Kräfte, die jede Gemeinschaft auseinander driften lassen, werden für einen kurzen Moment nicht ignoriert, sondern diesen Mächten wird getrotzt. Oh, your love comes on so strong. And I’ve waited all day long. For tonight when I’ll be staying here with you. Sie ist da, die lange erwartete Zeit, die vergeht. Is it really any wonder. The love that a stranger might receive. Dass die Liebe kein Verdienst ist, nichts Errungenes, sondern Geschenk, nur Leihgabe, das ist Fluch und Segen. You cast your spell and I went under. I find it so difficult to leave.
Eine langsame Tonblende von der Musik zum O-Ton macht es jetzt möglich Fürstenberg zu lauschen, der inmitten derer, die andächtig aufs Bett drapiert sind, aus einem Dialog zwischen zwei Groupies vorliest: „Backstage with the Stones!“
Später hat der Film dann die wunderbare Ruhe, ein blondes Mädchen, das eine ganz sanfte Stimme hat und Christi Culemann heißt, in schüchternen Worten ganz ausführlich davon erzählen zu lassen, dass sie in London Mick Jagger auf der Straße sah, ihn ansprach, ein Autogramm von ihm bekam, dabei vergnügt bemerkte, wie dreckig er war, was ihr am allerbesten gefiel an ihm, wie speckig seine Haare waren, und dass er ihr noch nachher manchmal Postkarten schrieb. Vom anderen Ende der Welt. Aber leider nie aus Europa.
Im Düsseldorfer Filmmuseum, wo Florian Deterding im Juni 2012 ein schönes Programm mit Filmen von Lemke und der Münchner Gruppe zeigte, war Bernd Fiedler zu Gast. Der Kameramann von ANATAHAN ANATAHAN (und ROTE SONNE und ROCKER und …) erzählte, dass er die Arri einfach nicht ausgemacht hat, als Christi Culemann mit ihrer Erzählung am Ende nicht weiter wusste. Zum Glück, denn so fing er die Augen des Mädchens ein, die direkt in die Kamera schauen, dann beiseite und wieder direkt in die Kamera. Drei unbeschreibliche Blicke. Man kann sie zwar zählen, drei Stück, als wären es Sternschnuppen am klaren Nachthimmel oder Tiger im Gehege, doch ihr Effekt bleibt unfasslich. Denn die Wirkung dieser Blicke hat Martin Müller noch verstärkt mit ein paar leisen Takten Back Street Girl von den Stones. Die tiefste Rührung repetierbar zu machen, das Heiligste der Seele zu konservieren, das wurde in dem Dutzend Jahrzehnte, seit es Platten und Filme gibt, laut Schätzungen 12.000.000.000 mal versucht – und hier vollbracht.
(1971 sendete Hessen III eine stark gekürzte Fassung des Films unter dem Titel „Anatahan’s Rock Show“. Das halbstündige DJ-Portrait CRASH THEO von Karin Thome und Bernd Fiedler, erwies sich in Düsseldorf als tolle Ergänzung zu den 57 Minuten von ANATAHAN ANATAHAN. Anderen Städten und Gemeinden, Fernsehsendern oder Pfarreien sei das Nachspiel wärmstens empfohlen.)
Garden of Evil (1954 Henry Hathaway)
Auf meiner Liste paradiesischer Orte hat Basel, wo ich Müllers Film am Sonntag wiedersehen konnte, (dank des Bildrausch Filmfests) nun einen Platz im Alphabet und auf dem Globus zwischen Aachen (wegen Bruno Sukrow) und Bologna (Il Cinema Ritrovato). Und noch ein Tipp: Der Filmclub 813 zeigt deutsche Lustspiele 1930–1932, die zum Frühjahresanfang im Zeughauskino für Furore sorgten.