Ach Viola (Film von Rainer Boldt, DFFB 1971, 35 ½ Minuten)
Was für eine Exposition!
Eine Totale nimmt, aus einer Seitenstrasse heraus, einen Aspekt der ‚Schlacht am Tegeler Weg’ auf – wildes Geschehen, Wasserwerfer, Polizei, steinewerfende Demonstranten (ein Häufchen Pflastersteine liegt wie griffbereit am Strassenrand). Das Bild friert ein, wird zum Standbild, das sich langsam in seine Bestandteile aufzulösen scheint (zum Negativ wird). Eine helle Männerstimme (der Autor?) gibt im Off eine Bestandesaufnahme der Ausserparlamentarischen Opposition. (Dieser Novembertag 1968, an dem sich die aufgestaute Wut über die Nazi- und Klassen-Justiz Luft machte, die Polizei in die Flucht geschlagen wurde, war Apotheose und Endpunkt der APO.) „Westberlin im November 1970“. Musik hat eingesetzt, nachtdunkle Gebäude, abgesetzt gegen den helleren Nachthimmel, dann schwarze Nacht, ein paar Lichter, man erkennt die Leuchtschrift ‚First National City Bank’, den sich auf dem Europacenter drehenden Mercedes-Stern, ein Polizeiauto, das Gesicht einer Frau – schläft sie, träumt sie? Über der ganzen nächtlichen Sequenz – zu spüren sozusagen die kalte kapitalistische Hand auf der Stadt – hängt der (statische) symphonische Akkord von Charles Ives’ „The Unanswered Question“, mit der darüber gesetzten, von der Trompete formulierten Frage, den immer erratischer werdenden Antworten der Bläser. Die Musik verklingt dissonant – in die Stille hinein hört man eine Kirchenglocke sechs Mal schlagen, die Frau hat die Augen geöffnet, die Uhr an ihrem Arm macht sichtbar, dass sie (nachts wie tags) unter dem Diktat des getakteten Alltags steht. Sie steht auf, macht Licht, nimmt ein Medikament. Zuvor schon (flashartig) eine Einstellung aus einem Chemielabor – jetzt tun die zwei Frauen, die da arbeiten, ihren Überdruss kund: sie haben genug davon, tagaus, tagein Urinproben zu analysieren – eine Veränderung muss her.
Ach Viola hebt sich von andern DFFB-Filmen aus der Zeit ab – ist filmisch und ästhetisch avancierter. Das ist ein Geflecht von sorgfältig montierten Einstellungen und Tönen; der Film arbeitet nicht nur mit Realzeit, sondern auch mit Wiederholungen, Variationen, stellt einen Empfindungs- und Denkraum her. Das bedeutet aber auch, dass das ‚eingreifende Filmen’ und vor allem das Konzept des ‚Zielgruppenfilms’ verabschiedet ist – zugunsten des Autorenfilms. Scheint mir legitim, insofern das ja auch wie ein Blick von aussen ist – ein Soziogramm einer Gruppe von Leuten vielleicht, ein Verweis auf die Zeit. Der Einsatz der Musik, „Die unbeantwortete Frage“ – ihr ist später ein gesummtes, instrumental werdendes Liedchen („Backstreet Girl“ von Jagger und Richards) hinzugesetzt –, mag zwar auf die Aktualität, die Zeit zielen, weist aber auch stark darüber hinaus. Will den Lauf der Welt in sich hereinnehmen oder anrufen.
(Merkwürdig die Rolle, die gerade dieses Stück von Ives damals bei einigen Filmakademisten und Ex-Filmakademisten gespielt hat, auch bei Harun Farocki, aber scheinbar unabhängig voneinander. Bei solchen wohl, die operativ dachten, Konstruktionsideen hatten, mit Fiktion umgingen.)