Sensation
Im Film MIT SIEBZEHN von André Téchiné, den ich leider nur in einer pappigen deutsch-synchronisierten Fassung sehen konnte, wird im Schulunterricht das Gedicht SENSATION von Arthur Rimbaud behandelt. In der deutschen Übersetzung von K. L. Ammer ist das Gedicht EMPFINDUNG benannt. Der Film handelt von der Feindschaft / Freundschaft zweier junger Männer. Zentrale Figur aber ist die Mutter des einen Jungen zwischen drei Männern: Ihrem Mann und den beiden Raufbolden.
Die Funktion des Gedichts im Film – außer den Unterricht zu charakterisieren – bleibt zunächst unklar.
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Sensation
Par les soirs bleus d’été, j’irai dans les sentiers,
Picoté par les blés, fouler l’herbe menue :
Rêveur, j’en sentirai la fraîcheur à mes pieds.
Je laisserai le vent baigner ma tête nue.
Je ne parlerai pas, je ne penserai rien :
Mais l’amour infini me montera dans l’âme,
Et j’irai loin, bien loin, comme un bohémien,
Par la nature, heureux comme avec une femme.
Arthur Rimbaud
Mars 1870.
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Empfindung
Durch spitziges Korn, auf einsamen Pfaden,
über schlankes Gras will ich irren:
mein Fuß wird die kühlende Frische spüren.
Die freie Stirn lass ich im Winde baden.
Ich denke nichts, ich spreche nicht: ich träume nur,
unendliche Liebe gibt mir das Geleit.
So geh ich durch das Sommerabendblau
wie ein Zigeuner, weit, recht weit,
durch die Natur –
glücklich wie mit einer Frau.
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Vielleicht kann ein anderer Film weiterhelfen. Einen Film mit einem anderen Film erklären, kommentieren.
Am 20. April 1985 drehte Helmut Ulrich Weiss einen Film ausgehend vom Breitscheidplatz, dem damaligen Zentrum Westberlins. Dieser Film trug den Titel SENSATION und benutzte den Text der obigen Übertragung ins Deutsche. Helmut war seinerzeit Student der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin und u.a. später Kameramann meines Films CANNAE.
In einer Rahmenerzählung berichtet eine holprige Kinderstimme von einem Wesen, das auf die Erde gekommen sei. Dieses Wesen – eine junge Schauspielerin in einem hellen kurzen Kleid oder einem Mantel – ich weiß es nicht mehr genau – beginnt seinen Weg durch die Natur vor dem Europa-Zentrum, setzt ihn fort den Tauentzien entlang, überquert die Straße und verliert sich in Richtung KaDeWe. Es ist früher Abend – noch nicht dunkel, aber nicht mehr heller Tag. In einem fort rezitiert das Wesen im O-Ton, der per Funk aufgenommen wurde, das Gedicht durch den Fluss der Passanten hindurch, darunter auch Neo-Nazis, die sich anlässlich des Führergeburtstages versammeln. Das Wesen wird gefilmt von zwei 16-mm-Schulter-Kameras. Die eine Kamera bedient Helmut selbst. Er trägt Smoking entsprechend dem schwarzen Paillettenkleid der zweiten Kamerafrau, Robina Rose. Beide umkreisen fortwährend das sich fortbewegende Wesen, filmen das Wesen und sich gegenseitig, das Wesen filmend. Eine dritte Stativkamera filmt das Geschehen von einem erhöhten Standpunkt. Die Aktion war auf 10 Minuten beschränkt, da eine Rolle 16-mm-Film nicht mehr Material hergab und ein Kassettenwechsel den Fluss unterbrochen hätte.
Der Filmdreh hatte den Charakter eines Happenings. Es ist daraus aber ein richtiger Film geworden. Neben einem anderen Versuch, Gedicht und Film zusammenzubringen – nämlich FREMDE TAGE von Martin Schlüter nach einem Gedicht von Apollinaire, der sich seiner Vorlage sehr viel impressionistischer nähert – ist mir SENSATION immer in guter Erinnerung geblieben. Der Studienleiter der Filmakademie fragte mich damals um Rat, was er denn zum Studenten-Oscar nach Los Angeles schicken solle. Ich empfahl SENSATION – und so wurde es gemacht. Was soll ich sagen? – der Film hat keinen Oscar bekommen.
Der Film Téchinés folgt der alten Weisheit, dass das, was sich liebt, sich neckt, und lässt ihn in eine Liebesgeschichte münden. Alles an diesem Film ist hektisch und überstürzt, weniger an psychologischer Glaubhaftigkeit interessiert als daran, einen möglichen Entwurf zu liefern und jugendliches Ungestüm in den Film zu übertragen.
Genet spricht davon, dass in der Liebe eines Mannes zu einem anderen Mann die Männer die Frau zwischen sich erfinden
– glücklich wie mit einer Frau.