Mai 2017

Freitag, 19.05.2017

David

David Laugomer betreibt in Berlin-Treptow, an einer langsam aus dem Dornröschenschlaf der deutschen Teilung erwachenden Straße, einen Laden für Schuhdesign, in dem auch Skulpturen von seiner Hand Platz gefunden haben. David ist ein großer sportlicher Mann von etwa 60 bis 70 Jahren, dessen bequeme Hausschuhe und Arbeitskleidung zur Erhöhung des Eindrucks freier Bewegung im gewohnten Kreis beitragen. Der Kopf ist ausdrucksvoll, bestimmt, mit schwarzen, von einem roten Stirnband zusammengehaltenem Haar. In jungen Jahren stellte David einen israelischen Rekord im 800-m-Lauf auf.

Ich sehe dem Künstler zu, wie er ein Paar Damenschuhe Schritt für Schritt herstellt; wie er – scheinbar traumverloren knetend, begutachtend, dann noch einen Tupfer anbringend – sich der Vollendung eines handlichen, aus Wachs geformten labyrinthischen Gebildes nähert. Beim Zusehen wird mir die ungemeine Bereicherung deutlich, die die Materie (Leder, Wachs) durch Handarbeit erfährt. Diese Durchdringung, ja Beseelung ist körperlich fühlbar – man spürt in allem gelingenden Handwerk Zauberkunst.

David Laugomer möchte, daß man den Stier noch als solchen erkennt, wobei es sein Ziel ist, bis an jene Grenze zu gehen, wo sich die reine Form in der Abstraktion herausbildet. Das gibt seinen Tierskulpturen, die von den steinzeitlichen Felsbildern in der Altamira-Höhle inspiriert sind, die tiefere, die Traumrealität.

Die Lust des Bildhauers, seine Geschöpfe zu berühren, überträgt sich auf mich, wenn er der in einem Park aufgestellten Kuh aus Granit nach Jahren wiederbegegnet. Diese Berührung ist einer der äußersten Genüsse, die das Bewußtsein uns gewähren kann: wir dringen dann in die Tiefe des Lebenstraums ein und existieren in den Geschöpfen mit.

Mit David Laugomer und Sabine Herpich, der Regisseurin, begegnen sich zwei Menschen, die als Bildner noch wissen, was Farbe und Form, als Autoren, was Sprache ist: daß diese aus dem Schweigen, aus der Tiefe der Erfahrung kommt. Mit den Worten Davids im Ohr, mit denen er seiner Mutter, des Holocausts gedenkt, sehe ich ihn jetzt wieder vor mir: wie er sinnierend beim Arbeiten vor sich hinblickt; über Fragen, die ihm von der Regisseurin gestellt werden, lange nachdenkt; wie er in einer Pause Datteln zerkaut. Er gibt mir bei seinem Arbeiten – wie auch als Darsteller dieses einzigartig persönlichen, innigen Films – das Gefühl, daß unterhalb der großen Vernichtung tiefere Adern unversehrt bestehen und daß die eigentliche Kraft des produktiven Menschen sich nicht wie beim Täter aus dem animalischen Willen speist, sondern im Vegetativen, in der Fühlungnahme mit seinem Material liegt.

Sabine Herpich: David, 2016

Peter NAU

Mittwoch, 03.05.2017

Filme der Fünfziger (XXXIII): Dunja (1955)

Karl Heinz Böhm und Eva Bartok sehen in die Kulisse

Die Filme der fünfziger Jahre zeigen die Vorstellungen und Phantasien, die die Gesellschaft von sich hatte und mit denen sie sich ihrer selbst vergewissern wollte: so wie sie sein wollte oder wie sie sein sollte, welche Rollenmodelle, welche Vergnügungen es geben sollte und welche nicht. Auch als Moralapostel pustete sich das Kino gelegentlich ziemlich auf. Das ist schon manchmal etwas schräg, aber ganz schrill kann es werden, wenn es um die Vorstellungen von Nicht-Bundesrepublikanischem geht. In Italien ist die Liebe zu Haus, mit Wein, Gesang und Caprifischern, in Frankreich ist es immerzu pikant und olala, die Amerikaner sind reich und etwas naiv-ungehobelt und in Russland gibt es – wir blicken zurück in die goldene Zeit der Zaren – russische Seele, russisches Gemüt, Tanz und Wodka und ganz viel Traurigkeit.
„Dunja“ ist das Remake des ungemein erfolgreichen Film „Der Postmeister“ (1940), den Gustav Ucicky nach der Novelle von Puschkin mit Heinrich George, Hilde Krahl und Margit Symo gedreht hatte. Regisseur Josef von Baky hatte Walter Richter in einer Theateraufführung von „Fuhrmann Henschel“ gesehen und engagierte ihn für seine geplante filmische Adaption des Hauptmann-Stückes. Zunächst aber spielte Richter den „Postmeister“ in Bakys Remake.
Vor allem Farbe gibt es in der Neuverfilmung; knalliges, flirrendes Rot und schwere, bedrückende Dunkelheit. Die Agfa in Leverkusen hatte ein neues Agfacolor Negativ- und Positiv-Material entwickelt, das hier erstmals angewendet wurde . Jetzt sieht alles – oder jedenfalls das meiste – wie ein beleuchteter Hades aus. Es gibt kaum Tageslicht oder natürliche Lichtquellen, und in dieser synthetischen Atmosphäre agieren oder stehen nun Ivan Desny, Karl Heinz Böhm und Eva Bartok um Walter Richter herum, den Postmeister eben. In Richters Interpretation lebt der Postmeister völlig abgekapselt von der Wirklichkeit, folgt nur seinen eigenen Phantasien und ist in seinem religiösem Wahn und Selbstmitleid unberechenbar. Einen Tyrannen und Egoisten nennt ihn Desny zu Recht, und meint damit seine erdrückende Gutherzig- und Gluckenhaftigkeit. Neben Richter als der nach innen wütenden Vatergestalt verblassen alle anderen Figuren. Desny zieht sich durch weltmännische Lässigkeit aus der Bredouille; Eva Bartoks fehlende Begabung kaschieren Anders und Baky durch ganz viel Schatten, der ihr Gesicht dekorativ verdeckt oder aus dem sie für einen interessanten Moment auch heraustreten darf. So viele gute Menschen werden hier betrogen, des Selbstmitleids und lautstarken Jammers will es gar kein Ende nehmen. In solchen Momenten dürfen auch Eva Bartok und Karl Heinz Böhm als verlorene Kinder ihren großen Auftritt haben. Günter Anders rettet den Film mit vielen ungewöhnlichen und unaufdringlichen Kamerablicken.
Es tanzen die Kosaken, es tanzt Maria Litto sehr viel züchtiger als Margit Symo in der früheren Version, es wird zum Fest gesungen und zur Arbeit gesummt, es kommt einem vor als solle auch die Musik in Agfacolor sein. Das ist eine ganz spezielle Art von deutschem Melodram, man könnte diese Form etwas ungalant das „Drama mit dem melodramatischen Rumms“ nennen.
Macht Platz 29 auf der Liste der meistbesuchten Filme der Saison 1955/56.

DVD bei filmjuwelen

Ergänzungen und Konkretisierungen zu filmportal:
Herstellungsleitung: Dr. Herbert Gruber; Ton: Herbert Janeczk, Ing. Kurt Schwarz; Regieassistent: Wolfgang Glück; Kostüme: Edith Almoalino; Choreographie: Dia Luca; 2. Kameramann: Hannes Staudinger; Kamera-Assistent: Herbert Müller; Maskenbildner: Jonas Müller; Leo Wiedemann, Leo Umyssa, Hilde Schmidt-Hnilitschka; Aufnahmeleiter: Wolfgang Birk, Alois Bednar; Standfotos: Otto Klimatschek
Mit Otto Schenk (Sascha), Bruno Dallansky (Pjotr), Ernst Meister (1. Fähnrich), Jörg Liebenfels (2. Fähnrich), Georg Hartmann (Hausmeister), Kurt Müller-Böck (1. Offizier), Peter Sparovitz (Knecht)
Dreharbeiten vom 26. September 1955 bis 5. November 1955 in den Ateliers der Wien Film am Rosenhügel und Sievering.
Deutsche Uraufführung: 22.12. 1955, Theater am Kröpcke, Hannover
Der Film wurde ursprünglich im Format 1,85:1 gedreht und war auch als Breitwand-Kopie verfügbar; bei der Uraufführung wurde eine Kopie im Format 1,3 :1 gezeigt. Beide Bildformate wurden vom Verleih angeboten. Bei der DVD Einspielung wurde das Format 1,3 :1 verwendet.


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