2017
Mittwoch, 08.03.2017
Freitag, 03.03.2017
Mittwoch, 01.03.2017
Filme der Fünfziger (XXIX): Rosen für Bettina (1956)
Elisabeth Müller schwebt durch diesen Film als zentrale Figur, an der sich weniger eine Geschichte entwickelt, als dass Konstellationen und Verhältnisse verschoben werden. Das Schicksal schlägt die erfolgreiche Primaballerina Bettina Sanden (Elisabeth Müller) mit einer schweren Krankheit. Gerade noch hat sie ein Engagement an den Broadway abgelehnt, weil Lebensgefährte und Choreograf Kostja (Ivan Desny) nicht mit engagiert wird, da bekommt sie Kinderlähmung. Wird Kostja in dieser Krise zu ihr stehen? Er versucht es ja, aber auch ihn trifft das Schicksal in Gestalt seiner Karriere und einer neuen Primaballerina; das Fleisch ist schwach und das Leben muss weitergehen. Bettina nun liegt im Bett mit dieser zur Zeit der Filmproduktion noch unheilbaren und heimtückischen Krankheit.
Nachdem Dr. Brinkmann (Carl Wery, der kernig-knorrige Hausarzt des deutschen Films) sie untersucht hat, lässt Professor Förster (Willy Birgel) Bettina in sein Privatsanatorium nach Hohentann überstellen. Der Professor ist, das wissen wir aus einer Balletteinlage zu Beginn des Films, ein großer Verehrer von Bettinas Kunst. Die Klinik von Dr. Brinkmann hat den Charme einer Behörde der fünfziger Jahre; helle, durch Glastüren von einander abgesetzte Gänge sieht man aus einem Wartebereich mit Gummibäumen. Durch diese, in milchig-wässriges Laborweiss getönte Endlosigkeit bewegen sich wie Geistererscheinungen konfessionelle Krankenschwestern mit ausladenden Flügelhauben.
Professor Försters Klinik dagegen besteht im Wesentlichen aus einer großen Terrasse, auf der die Kranken in Liegestühlen einen gemalten Alpenprospekt genießen oder mit Gehstock, Sonnenbrille und Bademantel hinter Glastüren ihre Wege ziehen. Der ehemalige Feinmechaniker Herr Kalborn (Hermann Speelmanns) mit der im Krieg gewachsenen lederbezogenen Handprothese hat als Mädchen für alles und guter Geist in Försters Klinik wieder Lebenssinn gefunden. Ein Kind wird gesund und freut sich über eine Puppe zur Belohnung. Im Krankenbett halb hängend, halb sitzend, sieht Bettina im Fernsehen die Premiere „ihrer“ Ballettaufführung von „Bolero“ und bricht zusammen. Gut, dass Professor Förster gleich zur Stelle ist und als erstes den Fernseher mit der schrecklichen Trommelei, der Extra-Qual von Art Blakey ausstellt.
Bettina gratuliert Kostja zu der Inszenierung; „Du hast sie doch gar nicht gesehen“, meint Kostja. „Ich habe die Kritiken gelesen“ antwortet Bettina. Im Kino darf das Fernsehen als öffentliches Medium noch keine Rolle spielen; die Übertragung war eine Privatvorstellung.
Kostja fährt mit der neuen Primaballerina Irene (Eva Kerbler) auf Tournee nach Spanien und trinkt jetzt auch in Deutschland nur noch Sherry statt Wodka. Irene hatte sich schon in Professor Brinkmanns Klinik mit Bettina verständigt und dann mit den gegenüber einer Gelähmten klug gewählten Worten “Ich will sie nicht länger aufhalten“ schnell das Zimmer verlassen.
Fast alles geschieht in öffentlichen Räumen, im Theater, den Krankenhäusern und einem riesigen Restaurant mit einer Empore. Dort residiert der Opernintendant; der Aufgang zur Empore ähnelt einem Boxring. „Machen Sie doch mal die Türen zu“, rufen der Intendant und seine Sekretärin im Theater; die Türen bleiben offen. Es gibt keinen Raum für Wahrheit oder für Intimität, nur Vorgelebtes und Nachgemachtes, Illustrationen, Formeln, Konventionen. In allen Falschaussagen – selbst der Titel „Rosen für Bettina“ ist verfehlt, sie bekommt nur Nelken – scheinen die Defizite, die vergebliche Suche nach einem Sinn durch. Bettina lässt sich von Dr. Förster ein letztes Mal zum Künstlereingang des Theaters fahren, geht auf die Bühne, hört imaginäre Musik und Applaus – aber sie wird nicht hysterisch oder melodramatisch. Es gibt keinen Gefühlsausbruch, sondern nur den Weg zurück, zum Mercedes von Professor Brinkmann, dem väterlichen Arzt und Liebhaber. Bettina lehnt den Kopf an seine Schulter, sagt müde: „Nach Hause“ und zufrieden lächelnd fährt Willy Birgel Elisabeth Müller in das Sanatorium der Liebe.
Drei Dinge sollte ich noch hinzufügen: Elisabeth Müller rollt das „R“ in altfränkischer Theatermanier, vielleicht auch als Relikt ihres schweizer Akzents. In diesen seltenen Momenten bricht die Illusionsmaschine komplett zusammen – so als würde ein Mikrofongalgen in voller Pracht ins Bild ragen. – Henry Koster engagierte Elisabeth Müllers auf Grund von „Bettina“ nach Hollywood für seinen Film „The power and the price“ (1956). Das geplante Engagement für Pabst’ letzten Film „Durch die Wälder, durch die Auen“ (1956) kam deshalb nicht zustande. – Und in der „Film und Frau“ gab es in der Nr. 3, 1956 tatsächlich einen Lifestyle-Artikel „Das Haus ohne Stufen“ über die Wohnung einer Gelähmten.
Nicht als DVD
Montag, 20.02.2017
Filme der Fünfziger XXVIII: Die Frühreifen (1957)
Inge (Heidi Brühl) ist empört. Sie möchte raus aus der Enge der elterlichen Wohnung, weg aus dem Ruhrpott und in die Sonne, den Süden. Dahin, wo man nachts das Fenster offen lassen kann, ohne dass am nächsten Morgen die Betten schwarz von Ruß sind. Ihr Freund, der Bergarbeiter Wolfgang (Christian Doermer), wohnt in einem Heim für junge Männer, schickt Geld an seine Mutter in der Zone und vertröstet Inge auf das nächste Jahr; dann könnten sie heiraten. Das lässt sich Inge nicht gefallen. „Immer nur sparen, sparen, sparen. Du bist wie mein Vater.“ Und der Vater (Paul Esser) ist wirklich ein Alptraum. Inge will das Leben jetzt genießen und sich nicht dauernd in die Pflicht nehmen lassen. Nicht von den Eltern, nicht von den Jungen. Sie zieht zu Freddy (Christian Wolff), der eine eigene Wohnung und einen schicken Mercedes hat.
Arthur Brauner hatte schon 1954 die Rechte an der literarischen Vorlage, dem Fortsetzungsroman „Wer glaubt schon an den Weihnachtsmann“, erworben. Emil Burri und Johannes Mario Simmel schrieben ein erstes Drehbuch, Hans Oskar Wuttig und Gerda Corbett die endgültige Fassung. Als der Film nach dreijähriger Vorbereitung schließlich herauskam, startete fast gleichzeitig in den Kinos der BRD Georg Tresslers Film „Noch minderjährig“. Da konnten sich Brauner und der Europa-Filmverleih noch so viel Mühe geben, die Frühreifen von den Halbstarken abzusetzen – alle drei Filme und auch andere gehörten zum Thema und Programm der „Problemjugend“.
Heidi Brühl war den Zuschauern vor allem als die kindliche Dalli aus den problemfreien Immenhof-Filmen bekannt; in den „Frühreifen“ posiert sie gelegentlich wie Sissy (Karin Baal) in den „Halbstarken“, ist aber längst nicht so frech, so ehrgeizig und sexy. Was beide Filmfiguren verbindet, ist die heftige Abneigung gegen die biederen Zukunftspläne ihrer Freunde, die heiraten und eine Familie gründen wollen. Beide ahnen, dass sie aus dem Gefängnis ihrer Familie in eine neue Unfreiheit schliddern. „Wo Christian Doermer auftaucht, da riecht es irgendwie nach geistigem Krawall“ schreibt das Presseheft. Schön wär’s; in den „Frühreifen“ wie in den „Halbstarken“ ist Doermer der konservative Vermittler, das Idealbild des verantwortungsbewussten „Jungmannes“ mit Sorgenmiene. Er sieht zwar aus wie ein zorniger junger Mann, wird aber eben deshalb mit der Rolle des „Vernünftigen“ besetzt. Wolfgang und Jan aus den „Halbstarken“ sind die „guten Rebellen“.
Die reichen Schnösel Günther (Peter Kraus) und Freddy mit ihren Kumpanen klauen nachts aus Langeweile schwere amerikanische Limousinen, liefern sich Verfolgungsjagden (Günther nennt sie „Feindberührung“) mit der Polizei, und feiern mit den Freundinnen der arbeitenden Kumpels wilde Partys. Günther ist einfach nur ein dummer Junge, Freddy dagegen kultiviert den Lebensüberdruss, nennt Inge provokativ „Genossin“ und stellt die Frage, wozu man in Zeiten des Kalten Krieges und der permanenten atomaren Bedrohung noch lateinische Lyrik lernen muß.
Die reichen Jungs haben eine Wohnung, aber keine Eltern, die sich um sie kümmern. Inge ist zu Hause nur Beschimpfungen ausgesetzt; eine Freundin muss sonntags regelmäßig die Wohnung „wegen der Liebe am Sonntag“ verlassen, denn „wir haben doch nur den einen Raum“. Wegen dieser Drehbuchzeile wurde der Film erst ab 18 Jahren zugelassen. Aber solche, von Regisseur Josef von Baky fast beiläufig gesetzten Szenen, zeigen neben den plakativen Klischees ein Stück Alltagswirklichkeit. Inge und Wolfgang bei einem Sonntagsausflug, bei der sie der Gegenwart der Zeche nicht entkommen; der Freitagabend in einer Kneipe, die Modenschau in einem Kaufhaus, die gedeckten Tische einer Tanzbar am frühen Nachmittag. So sah das Freizeitvergnügen, so sah wahre Tristesse aus.
Die Handlung der „Frühreifen“ ist im Ruhrpott angelegt, im Milieu der Bergarbeiter und Neureichen. Deshalb sieht man tatsächlich Menschen bei ganz normaler Arbeit und mit ganz alltäglichen Problemen. Sabine Sinjen, von Drehbuchautor Robert Thoeren entdeckt, hat hier ihren ersten Jungmädchenauftritt. Peter Kraus legt ein tolles Gesangssolo hin; den Rest seiner Darbietungen muss man großzügig verzeihen. Christian Wolff, der feingliedrig zur gleichen Zeit auch in Veit Harlans „Anders als die anderen“ debütierte, spielt provokativ abgeklärt und kommentiert die Party seines Freundes: „In einer halben Stunde ist das eine Horde besoffener, gemeingefährlicher, schamloser Urwald…“ Der Rest geht in wilder Jazz-Musik unter; das war wieder die übliche und üble Diffamierungsroutine amerikanischer Musik, auf die offensichtlich kaum ein Film verzichten wollte; genauso wenig wie auf die schicken amerikanischen Autos.
Man kann viel altes Kino-Handwerk entdecken. Die Verfolgungsjagd von Polizei und geklauter Limousine ist unterdreht, damit sie rasanter aussieht. Diesen Effekt kannte man vor allem aus Western. Das Licht, sowohl außen als auch im Innern der Limousine, wechselt ständig, so dass man gar nicht weiß, ob es nun früher Abend, früher Morgen oder tiefe Nacht sein soll; und sind Freddy und Günther in dieser Sequenz nun Dämonen (Licht von unten) oder kalkweisse Gespenster (Licht von vorn)? In einer anderen Szene – Freddy fährt mit seinem Mercedes aus dem Bild – sieht man im Autofenster gespiegelt kurz den Kameramann und seinen Assistenten. Die Drehroutine ließ erstaunlich vieles durchgehen.
In filmportal gibt es aus dem Arthur Brauner Archiv eine ganze Reihe interessanter Dokumente über die Drehbuchentwicklung und im Filmblatt Nr. 39 hat Philipp Stiasny ausführlich über den Film geschrieben.
DVD in der Wirtschaftswunderkino-Kollektion No. 2: Peter Kraus (3 DVDs). Universum-Film
Freitag, 10.02.2017
Filme der Fünfziger (XXVII): Das Bekenntnis der Ina Kahr (1954)
Dieser Film von G.W. Pabst wird in den Büchern über Pabst nicht wirklich behandelt. Pabst habe den Film, nachdem er mit seiner italienischen Produktionsfirma in Konkurs gegangen sei, nur des Geldes wegen gemacht, ja machen müssen. Genaueres weiß man oder sagt man in diesem speziellen Fall nicht; es ist als grausten sich die Filmhistoriker überhaupt vor der Nennung der späten Arbeiten von Pabst wie „Ina Kahr“, „Rosen für Bettina“ und „Durch die Wälder, durch die Auen“, wobei – beim letzten Titel kann ich das verstehen.
Die Handlung von „Ina Kahr“ basiert auf einem Fortsetzungsroman, der in der Programmillustrierten „Hören und Sehen“ erschienen war. Nach „Hör Zu“ war „Hören und Sehen“ mit einer Auflage von 750.000 Exemplaren pro Woche die zweitstärkste Programmzeitschrift. Erna Fentsch, die Ehefrau von Carl Wery, schrieb das Drehbuch. In „Rosen für Bettina“ spielt Wery einen Arzt; die weibliche Hauptdarstellerin in beiden Filmen ist Elisabeth Müller. Müller ist kein Publikumsmagnet, aber ein ganz eigener Charakter in den Filmen der fünfziger. Ob in „Ina Kahr“, in „Bettina“ oder in „Gestehen Sie Dr. Corda“ ist ihre Rolle reines, fast unpersönliches Klischee. Man merkt der Schauspielerin an, dass sie unterfordert ist, aber man sieht auch, wie wunderbar sie durch Kleidung und Accessoires das Zeitkolorit der Figuren und darin eben die Konvention trifft. Eine dem Kapotthütchen ähnliche Kopfbedeckung und Elisabeth Müller wird zur strengen Ausgabe von Ruth Leuwerik, fehlte da nicht die Stimme und wäre da nicht diese unglaublich schlanke Figur. Es kommt mir vor als sei Frau Müller direkt den goldgeränderten Seiten der „Film und Frau“ entsprungen, als repräsentiere sie eben die Kultur der gehobenen Langeweile, des bescheidenen Luxus und der besonderen Probleme der etwas blasiert sein wollenden Kleinbürgerin. Wie konfus auch immer ein Stoff und ein Drehbuch sein mochten, Elisabeth Müllers Rolle war immer die letztlich klarer Intelligenz und Entschiedenheit, verbunden mit leicht extravaganter Schönheit, ausgestattet mit den Konturen der Zeit und den aus ihnen destillierten Widersprüchen.
Vieles, ja da meiste stimmt nicht in Stoff und Drehbuch von „Ina Kahr“. Die Prämisse – sie hat ihren Mann ermordet und könnte deshalb zum Tod verurteilt werden – glaubt schon mal niemand, denn der Prozess findet in der Gegenwart und in der BRD statt. Weil Ina Kahr schweigt, kommt sie in die Todeszelle, erlebt den hysterischen Ausbruch einer Mörderin und den stillen Beistand eines Kaplans („Ich komme auch zu Ihnen“). Das verhilft der Kamera zu interessanten Bildstrukturen mit weiten Räumen, die nur durch einzelne Personen, Gitter und Schatten belebt werden. Dann erzählt Ina Kahr ihre Geschichte; wie sie gegen den Willen ihres Vaters, der für einige Jahre in die USA verschwindet, Paul Kahr heiratet; wie sie ihm zur Selbstständigkeit verhilft, er aber immer wieder fremd geht; und wie sie dann entscheidet, sich und ihren Paul mit einer Kanne vergifteten Kaffees umzubringen, was daran scheitert, dass Paul gierig gleich die ganze Kanne auftrinkt und nun allein sterben muss.
Curd Jürgens als Paul Kahr spielt das Klischee der Masslosigkeit und der blondierten Aggressivität: jedes Streichholz, mit dem er die Zigarette anzündet, wird in großem Bogen weggeschleudert, jeder Drink heruntergestürzt, jede Frau erobert. Der Kritiker der neuen Zürcher Zeitung nannte ihn einen „Herzensbrecher verhalten-rabiater Eleganz“; andere sahen in ihm nur eine Albers-Variante, was wirklich ungerecht war.
Die Filmarchitektur baut dem Paar ein Haus mit unverputzten Wänden und Pfeilern – eine Inneneinrichtung wie aus Müsli-Riegeln mit Wucherungen aus Grünpflanzen, Tütenlampen und Wintergarten. Paul betreibt eine Werbeagentur, in der man sehen kann, was die Filmausstattung für den letzten Schrei des Designs hält. Man trinkt nicht Kaffee, sondern Mokka, heiratet aus Geschäftssinn und nicht aus Liebe, flirtet und posiert mit dem, was man für die Moderne hält. Die Werbeabteilung des Verleihs legte zur Sicherheit noch den Slogan einer weiteren Zeitgeist-Problematik dazu: „Eine Frau genügt nicht mehr – Das moderne Ehe-Problem.“ Oha.
Die Posen halten der Wirklichkeit nicht stand. Ina sorgt dafür, dass eine begabte Studentin (Hanna Rucker) in Pauls Werbeagentur eine Stelle bekommt. Sie hat sich in der Bewerbung als Mann ausgegeben, weil sie sonst die Stelle vielleicht nicht bekäme. „Das“, sagt Paul, „ist wohl eine überalterter Standpunkt.“ Wenig später soll er sich für eine Rundfunksendung mit seiner „Entdeckung“ präsentieren. „Aber“, protestiert Paul, “meine Frau hat sie doch entdeckt.“ „Aber Sie sind der Chef…“ So zitiert der Film in einem fort die Theorien des Fortschritts und verwehrt ganz selbstverständlich in der Erzählung die praktische Umsetzung. Ina, die ihrem Mann für den Aufbau seiner Firma Geld gegeben hat, will jetzt für ein eigenes Geschäft einen Kredit aufnehmen. Dafür braucht sie die Erlaubnis ihres Mannes. Paul hört sich das an, ohne Reaktion – damit ist diese Frage erledigt. Neben dem ausufernden Selbstmitleid des Mannes, der sich mit seinen Ansprüchen an Trieb- und Geschäftsleben permanent überfordert, und den Schuldzuweisungen, die Ina Kahr sich selber gibt, wird auch wieder amerikanische Jazz-Musik als Element des Sittenverfalls eingesetzt; so sieht die Strafe aus, wenn man seine eigene Kultur aus Engelschor und Geigenseligkeit verlässt.
„Das Bekenntnis der Ina Kahr“ ist – mit allen trivialen Zuspitzungen – ein Katalog der widerstreitenden Befindlichkeiten, ein gleichzeitig sorgfältig und schlampig gebautes Lügengebäude, eine fortdauernde Beschreibung der Krise, an dessen Ende auch noch die Versöhnung der Generationen simuliert wird. Vater und Anwalt warten auf Ina, die aus dem Gefängnis entlassen wird. „Professor“, sagt der Anwalt, „nehmen Sie sie mit nach Amerika, zeigen Sie ihr die Welt.“ Als sei ihr bisheriges Leben ein schrecklicher Irrtum gewesen und als ob es, gerahmt und geleitet von zwei Männern, nun erst beginnen könne.
DVD bei Filmjuwelen
Donnerstag, 09.02.2017
Kino-Hinweis: ORG
Während des Filmfestivals ist in der Sektion Forum ein Film zu sehen, über den ich hier schon mal geschrieben habe, im Zusammenhang mit dem „Living Archive“-Projekt des Arsenal: ORG, von Fernando Birri. Der Text vom März 2012 kündigt eine erste Sichtung an, nach der wir (entuziazm: Volker Pantenburg, Stefan Pethke, ich) und das Arsenal den Film so maßlos unglaublich bemerkenswert fanden, dass wir uns weiter mit ihm beschäftigen wollten.
2013 wurde deshalb eine erste provisorische Digitalisierung des Films gemacht. Mit dieser Digitalisierung sind wir an Wochenenden nach Frankfurt an die Goethe-Universität und nach Braunschweig an die Hochschule für Bildende Künste gefahren. Dort zeigten wir den Film und Anna Christine Antz, Lucie Biloshytskyy, Philippe Crackau, Olga Galicka, Zijian Guo, Markus Hörster, Eveline Jakubietz haben dann einen 24-minütigen Video-Essay zu ORG gemacht, den man sich beim Festival während der Ausstellung des Forum Expanded in der Akademie der Künste auf einem Monitor angucken kann (oder als Bonus-Material auf der nach der Berlinale erhältlichen DVD des Films).
Diedrich Diederichsen meint heute in der taz: Wer nur einen Film auf dieser Berlinale sehen will, sollte es mit diesem versuchen …
TERMINE
Freitag 10.2., 14 Uhr, Akademie der Künste
Donnerstag 16.2., 19.30 Uhr, Delphi
Sonntag 19.2., 14 Uhr, Arsenal 1
Weitere Informationen (pdf): https://www.berlinale.de/external/de/filmarchiv/doku_pdf/201703093_de.pdf
Montag, 16.01.2017
Filme der Fünfziger (XXVI): Jede Nacht in einem andern Bett (1957)
Nach dem Erfolg der „Halbstarken“ im Herbst 1956 entdeckte der deutsche Film die Jugendkultur als neue Schmucktapete. Es ging jetzt in Jugendclubs mit Musikboxen oder Bands, die noch Tanzorchester hießen, mit Tanzfläche und drangvoller Enge. Mädchen tragen Pferdeschwanz, Männer auch Backenbart und Pfeife. Meistens gibt es nur einen kurzen Blick auf und in die Dekoration, das war ja alles etwas schmuddelig, viel zu wild und sah aus wie ein Sündenpfuhl.
Produzent Bernhard Schmidt gab Karin Baal direkt nach den „Halbstarken“ eine kleine Rolle in „Jede Nacht in einem andern Bett“. Von Hauptdarsteller Gerhard Riedmann wird sie völlig unpassend als „Lausbub“ angesprochen; ein älterer Mann schickt „das Kind“ um zehn Uhr ins Bett. Baal ist klein, sexy und rotzfrech; sie kippt einer Nebenbuhlerin eine Kanne Wasser ins Bett und das war’s auch schon mit ihrem Auftritt. Die Jugend wurde vom Unterhaltungsfilm der 50er vor allem benutzt und denunziert. Norbert Schultze, der Komponist von „Lilli Marleen“ und „Wir fahren gegen Engelland“, schrieb drei Lieder, die unermüdlich gepfiffen, gesungen und gespielt werden. Gerhard Riedmann und Harald Juhnke tanzen und singen das Lied „Mr. Rock und Mr. Roll“ als spießigen Altherren-Witz. Ein besonders trauriges Bild gibt es in der Tanzbar – die Kamera blickt auf eine farbige Familie, die wie paralysiert in dem Trubel sitzt. – Is ja Negermusik, wissen Se.
„Jede Nacht in einem andern Bett“ erzählt von einem Vertreter und seinem Freund (Gerhard Riedmann und Harald Juhnke), die beide lieber verheiratet wären als jede Nacht in einem andern Bett zu schlafen. Riedmann war in den fünfziger und sechziger Jahren ein ziemlich bekannter Schauspieler und Sänger; unabhängig von seinem wenig geforderten schauspielerischem Talent gehörte er zu jener Klasse von Stars, denen von ihrem ersten Erscheinen auf der Leinwand ins Gesicht geschrieben steht: Ich werd’ geliebt, ich bin charmant, ich kann auch traurig sein, ha ha, und spiel mich in dein Herz hinein. Er war der Prototyp der schmierigen Schmalzbacke, des Vorstadt-und Provinzgalans; immer dreist, stets verbindlich, dabei laut und kleinlaut zugleich. Hier verkauft er als reisender Vertreter Bücher an liebeslustige Frauen und hat natürlich einen tollen Erfolg. Harald Juhnke ist Vertreter in Miederwaren, was auch unglaublich witzig ist.
Riedmann flirtet mit Dr. Maria Kramer (Waltraud Haas). Er sagt: „Vielleicht sollte ich ein Gedicht rezitieren?“ Und beginnt: „Der Erlenkönig“. Beide platzen vor Lachen – Puh, Literatur. Das Paar gehört der reiferen Jugend an; deshalb tanzen sie auch nicht in dem Jugendclub, sondern zeigen sich als Dialogtext feixend Titel aus der Musik-Box. Ihre Vornamen haben sie sich aus Werbeplakaten geliehen. Er nennt sie Aurora, sie nennt ihn Jonny. Riedmann fährt ein VW – Cabrio, Waltraud Haas eine rasend schicke Borgward Isabella. Günther Pfitzmann, der Wirt eines Weinkellers, müht sich mit der Kurbelwelle seines Henschel Diesel- Kastenwagens ab, während Riedmann die Wirtin zum Kauf von Büchern und zu einem Kuss verführt. Harald Juhnke dagegen braust mit seiner BMW Isetta, auch Flüchtlings-Porsche genannt, rückwärts in einen Unfall hinein. Riedmann weiß nicht, dass Waltraud Haas eigentlich seine Chefin ist und heiratet schließlich – Überraschung – in die Chefetage hinein. Juhnke bekommt Reni von Wiesenberg (Elma Karlowa), die Tochter des verarmten Fürsten von Wiesenberg. Das gibt Riedmann die Gelegenheit, den Fürsten ganz ernsthaft mit „Durchlaucht“ anzusprechen.
1949 hatte Paul Verhoeven als Produzent, Regisseur und Drehbuchautor den Film „Du bist nicht allein“ realisiert. Das war ein großer Flop, Verhoeven zahlte jahrelang Schulden an die Bank ab. Es erklärt vielleicht, warum er den Regieauftrag für „Jede Nacht…“ annahm. Die Drehbuchautorin Iwa Wanja war die Frau von Norbert Schultze, Co-Autor war Eckart Hachfeld, der fürs Kabarett kritische Texte schrieb und mit Drehbüchern wie „Heute blau und morgen blau“ (1957) seinen Unterhalt finanzierte.
Nicht als Video, nicht als DVD. Im Netz verfügbar unter http://www.antel-filmarchiv.at/filmclub/jede-nacht-in-einem-anderen-bett/
Ergänzungen zu filmportal:
Mit Kurt Vespermann (Portier), Herbert Weißbach (Portier), Rolf Kestin (Geschäftsführer des Riviera-Hotels), Lou Seitz
Kameraführung: Johannes Nowak; Kameraassistent: Leopold Frank; Ton: Oskar Haarbrandt; Regieassistent: Franz Barrenstein; Masken: Gerhard Seiffert und Sabine Brodt; Aufnahmeleitung: Harry Knillmann und Willy Kaufmann; Standfotos: Herbert Werler; Produktionssekretärin: Emmy Schmidt; Filmgeschäftsführer: Friedrich Guby; Kassierer: Günter Jacob; Schnittassistenten: Erika von Stegmann, Gisela Ross; Filmbearbeiterin: Renate Theine; Gewandmeister: Wilhelm Grossmann, Charlotte Jungmann; Kunstmaler: Alfred Kauer; Requisiteure: Erwin Hübenthal, Walter Rother; Pressechef: Dr. Hans Borgelt
Dreharbeiten: ab 26. 10. 1956 – Aussenaufnahmen bis Anfang November in Rothenburg ob der Tauber, Hotel Eisenhut; Schloss Weikersheim an der Tauber; Atelier: Ufa-Studio Berlin-Tempelhof
Freitag, 13.01.2017
Hurra für Frau E. (Günter Peter Straschek, BRD 1967, 16mm, s/w, 7 Minuten)
Kurzes Portrait einer Frau mit vier Kindern: ihre Altbau-Wohnung, das Beisammensein mit den Kindern, das Herumtollen von zwei Jungen, die Kinderzeichnungen mit dem schwarzen Schamdreieck, die zwei Betten mit den beiden Hochbetten – das Statement eines Fürsorgebeamten und einer Frau von einer Institution für uneheliche Kinder – ein Schwenk (zweimal wiederholt) auf der Strasse bis zum Lokal ‚Bird-Land’– eine Fahrt an der Potsdamer Strasse mit dem Strassenstrich – die Umarmung (Aufblende / Abblende): Frau E. und der schwarze GI.
Es ist Frau E., die im Off ihre Geschichte erzählt: ihre gescheiterte Ehe, der Geliebte später, der sie wie ein ‚Beefsteak’ behandelt hat und nach dem Liebesakt eingeschlafen ist, ihre Liebesbedürftigkeit, die Kinder, die sie gekriegt hat, weil es die ‚Anti-Baby-Pille’ noch nicht gab, ihre Einkommensverhältnisse.
(Es wäre daran zu erinnern, dass die technische Ausstattung in dieser frühen Zeit an der DFFB noch mangelhaft war und oft mit ungeblimpter Kamera gedreht werden musste: die Erzählung nur mit dem Tonbandgerät aufzunehmen hiess also auch, aus der Not eine Tugend machen.)
Zwei Auslegungen wären möglich: Frau E. kommt mit dem Geld nicht zurecht und muss sich etwas dazuverdienen, um die vier Kinder zu versorgen. Ausweg in die Prostitution, im Lokal ‚Bird-Land’ verkehren GIs. (In der Nähe ist der Strassenstrich an der Potsdamer.)
Oder: Frau E. sucht nach Zuneigung – vielleicht geht sie ins ‚Bird-Land’ oder arbeitet dort und hat sich mit einem schwarzen GI eingelassen. Das abgesetzte, inszenierte Schlussbild – die Umarmung mit dem GI – betont eher diese Auslegung.
Das ‚Hurra’ stünde dann für die Tapferkeit, mit der sich Frau E. durchs Leben schlägt, und für ihren Freimut, die Offenheit ihrer Ausdrucksweise.
(Der Film ist bei einer Sichtung des Harun Farocki-Instituts am 7.1.2017 im Arsenal 2 gelaufen, zusammen mit Dark Spring von Ingemo Engström.)
Freitag, 06.01.2017
Rosehill
Im Sommer, als Brigitta Wagners Film hier auf dem Festival lief, hatte ich wieder in das Notizbuch statt in den Computer geschrieben und ich erinnere mich an den Abend danach auf dem Balkon, wie ich ein paar Sätze aufschreibe über das Glück während des Films, wie er mir Erinnerungen zurückbringt an Filme aus den späten 80ern und frühen 90ern, die mir zu ihrer Zeit als ganz freie, unbedingte Filme – vorbildlos – begegnet waren. Jetzt ist der Winter da und Schnee auf dem Balkon und das Notizbuch verschwunden. Samstag um 18.00 Uhr läuft „Rosehill” nochmal, im „Il Kino” in Neukölln.
http://ilkino.de/films/rosehill