Juli 2018

Samstag, 28.07.2018

Filme der Fünfziger (XLIII): …und führe uns nicht in Versuchung (1957)

Herzen im Sturm der Leidenschaften

„Ich bring sie um“, möchte der Stationsvorsteher Hudetz (Gerhard Riedmann) denken, als ihn seine Frau wieder einmal mit ihrer Eifersucht quält. „Wenn ich den Sonderzug abgefertigt habe, komm ich rauf“, ruft er seiner 13 Jahre älteren Else (Heidemarie Hatheyer) zu. „Ja, aber dann wirst Du über Deinen Büchern sitzen und kein Wort mit mir reden.“ Der „Herr Stationsvorsteher“ studiert nebenbei auf Ingenieur, er will raus aus seiner engen Welt. „Von der Schule in den Krieg, vom Krieg ins Lager, vom Lager in deine Gefangenschaft – nie war ich mein eigener Herr“, wirft er Else an den Kopf. „Gib mich frei“. Nein, das tut sie nicht, auf keinen Fall. Gegen die Hatheyer kommt Riedmann nicht an.
Gerhard Riedmann kannten die Kinogänger bislang nur als singenden Hallodri aus Operetten- und Heimatfilmen wie etwa dem „Vetter aus Dingsda“ (1958; Regie: Karl Anton) oder der „Fischerin vom Bodensee“ (1956; R: Harald Reinl). 1957 stand er auf Platz 8 in der Riege der beliebtesten Schauspieler und spielte in acht Filmen – ein enormes Arbeitspensum. Aber was heißt schon spielen? Als Stationsvorsteher stellt er die Weichen, hält steif und stumm die Signalkelle hoch und pfeift auf der Trillerpfeife. Sein Gesicht bleibt in allen Situationen leer und unbewegt.

Das Annerl (Johanna Matz) liebt den Hudetz, stellt ihm nach, raubt ihm einen Kuß und schon hat er das Signalstellen ganz vergessen. Ein Personenzug rast vorbei, stößt mit einem entgegenkommenden Zug zusammen. Nachträglich korrigiert Hudetz schnell noch das Signal und wird vor Gericht aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Das Annerl hat für ihn Zeugnis abgelegt; seine Frau, von Eifersucht getrieben, sagt vor Gericht gegen ihn aus. Es glaubt ihr keiner. Hudetz nimmt sie in Schutz: „Meine Frau ist krank“. Wir befinden uns im Genre des Problemfilms.

Die böse Ehefrau (Heidemarie Hatheyer)

„Der Hudetz war im Krieg einer meiner besten Leute – ein anständiger, immer hilfsbereiter Kamerad. Deswegen hab ich ihn auch hierhergebracht“, bemerkt der Herr Baron (Rudolf Forster). Wie kann der Kamerad, der sich im Krieg mit Anstand bewährt hat, schuldig sein? Wer  ist Schuld am moralischen Debakel des Hudetz – der Krieg, die Zeit, die Frauen? Nicht der liebe Gott, so sagt die Exegese, führt in die Versuchung, sondern unsere eigene Schwäche. Das ist dem Film aber zu kompliziert. Der Altersunterschied der Eheleute wird mehrfach thematisiert. Das kann doch nicht gut gehen.

Hudetz zieht in die Stadt, arbeitet bei der Bahn im Ersatzteillager. Seine Frau will ihn zurück; er sträubt sich – große Auseinandersetzung – die Frau stirbt. Sie hatte es doch immer, wie ein Arzt sagt, am Herzen. Frau Hudetz hinterlässt einen Brief an das Gericht, indem sie ihre belastende Aussage widerruft. Alles könnte nun gut werden. „Ich will vergessen und leben“, sagt Hudetz zu Annerl.

Aber das Gewissen quält die beiden, immerzu nagen Betrug und uneingestandene Schuld an ihrem Glück. Da tut es gut, dass es in der Bundesrepublik Institutionen gibt, die Erlösung versprechen. Erst heiraten Annerl

Gerhard Riedmann

und Hudetz und dann gehen sie zusammen zum Staatsanwalt, um ihre Schuld anzuzeigen. Immer stelle ich mir fälschlicherweise vor, dass sie beim Staatsanwalt durch zwei getrennte Türen gehen – eine für Frauen und eine für Männer. So wie es auch früher in der Kirch’n war. Aber darüber ist die böse Zeit schon lang hinweg. Es bleibt der Bußgang als Erlösungsphantasie.

Johanna Matz wollte, so der Verleih, das Image des „Hannerl“ abschütteln; dass sie hier den Namen Annerl trägt, hat ihr dabei sicher nicht geholfen. Im Jahr darauf verliebt sie sich als bürgerliche Lixie Härtl im Film „Im Prater blüh’n wieder die Bäume“ (1958; R: Hans Wolff) in den Erzherzog Peter Ferdinand (Gerhard Riedmann). Ganz so wie die „Sissie“; und der Riedmann schaut auch immer so ernst drein wie der Böhm. Wurd’ aber nix mit dem neuen Traumpaar. Annie Rosar spielt mit Lust und Können „die Leimgruberin“, die böse Klatschbase –  Willy Rösner, nach eigenen Angaben seit 1916 beim

Johanna Matz gesehen von Franz Weihmayr

Film, wohltuend routiniert den Vater des Annerl. Regie führte Rolf Hansen, wieder begleitet von seinem Team Franz Weihmayr (Kamera), Robert Herlth (Bauten) und Mark Lothar (Musik). Lothar machte es sich leicht und übernahm gleich einige Melodiebögen aus seinem letzten Film „Die Letzten werden die Ersten sein“. Merkt eh’ keiner. Bei Franz Weihmayr allerdings kann man weinen, dass er keine besseren Stoffe hatte. Seine in schwarz-weiß gedrehten Bilder haben bisweilen eine ganz düstere, geheimnisvolle Atmosphäre.
Der Film entstand nach Ödon von Horvaths Stück „Der jüngste Tag“. Dr. Franz Höllering, Übersetzer und Dramaturg, bearbeitete, nein, korrigierte die Vorlage. „Die bei Horvarth sich verwirrenden Fäden sind hier wieder geordnet, hellere Farben lockern die lastende Atmosphäre auf und ihre größere Plastizität, die klar geordnete Exposition führt ohne Verschnörkelung zum Konflikt, die Gestalten erscheinen menschlicher und der Filmschluß wirkt lebensnäher und begreiflicher als die visionäre Apotheose, in der das Stück bei Horvarth endet.“ (Presseheft) Eine Romanversion erschien zum Erscheinen des Films in der „Star-Revue“. Vielleicht ist das auch ein Standard bei der Horvarth Rezeption in den 50ern – erledigt durch hellere Farben und philologisch in Ordnung gebracht.

Keine DVD

Mittwoch, 25.07.2018

Paratexte der FILMKRITIK (5): Geld für eine Kopie

[Filmkritik, 24. Jahrgang, 2. Heft, 278. Heft der Gesamtfolge, Februar 1980, Umschlaginnenseite; der Aufruf ist textidentisch im Aprilheft 1980 erneut abgedruckt, dort auf der Innenseite des hinteren Umschlags]

Mittwoch, 18.07.2018

Auge und Umkreis (I)


Ukradená vzducholoď (Das gestohlene Luftschiff 1966 Karel Zeman)

„Im Augenblick bin ich ein wenig in meine Kindheit zurück gefallen,” sagte Eric Rohmer, 2009***. “Ich lese meine Jules-Verne-Sammlung noch mal durch. … das beachtliche Ein Kapitän von fünfzehn Jahren.“ Hinter seinem Pseudonym und einem bei öffentlichen Auftritten angeklebten Schnurrbart hatte er sich versteckt vor seiner Mutter, die nie erfahren sollte, dass der Sohn ein Filmemacher war.

Halbjahresrückblick (Januar – Juni 2018)

(Wie lang eine Minute ist, wie kurz ein Jahr) …kurzes Auftauchen in der Mitte.

A Day at Henley (1911), 9 Minuten vollkommenster Psychedelik, eine Landpartie im Kinemacolor-Verfahren festgehalten, im flirrend pulsierenden Zerfall fixiert, ein irrsinnig lebendiges Kaputtgehen von nie gesehener Schönheit. Die Welt als himmelhohes Korallenriff, der Tag als flüssiges Feuerwerk – wie sonst nur in den Sturz-Sekunden des Einschlafens. 9 Minuten lang: wahrhaftige Unbeschreiblichkeit. Vielleicht hätte Jules Verne sie beschreiben können.

Jules Verne: „Der Major schlief schlecht; gegen 23 Uhr stand er schließlich auf. Als er seine Augen richtig aufmachte, flimmerte der ganze Waldboden vor ihm, als spiegele sich Licht im Wasser. Zuerst glaubte er, ein Grasbrand züngele am Boden entlang, aber dann bemerkte er, dass sich vor ihm eine Riesenkultur phosphoreszierender Pilze ausbreitete. Die leuchtenden Substanzen erhellten das Wäldchen fast einen Kilometer weit, und der Major wollte gerade den Geographen zur wissenschaftlichen Begutachtung des Phänomens wecken, als er weiter weg Schatten zwischen den Bäumen entlanghuschen sah.“ („Die Kinder des Kapitäns Grant“, 1867)

Entdeckungen und (*) Wiedersehen in Bologna, Köln, München, Nürnberg oder (**) daheim:

Seed (1931 John M. Stahl)
Caravan (1934 Erik Charell)
When Tomorrow Comes (1939 John M. Stahl)
Santa (1943 Norman Foster, Alfredo G. de la Vega)
Xiao cheng zhi chun (Spring in a Small Town 1948 Fei Mu)
Das doppelte Lottchen (1950 Josef von Baky) **
Le Ragazze di Piazza di Spagna (1952 Luciano Emmer)
Ave Maria (1953 Alfred Braun)
Je suis un sentimental (1955 John Berry) **

Nachts schlaflos in der Küche zu sitzen und Milch zu trinken, das ist ein Ritual der Selbstvergewisserung, deshalb ein bekanntes (amerikanisches?), beinahe klassisches Bild. Dass Ingrid Bergman in Stanley Donen‘s Indiscreet zum Glas Milch noch etwas verzehrt – und zwar Schmelzkäse-Ecken, ohne Brot, direkt aus dem Alupapier – das ist etwas Besonderes… in diesem insgesamt besonders schönen Film. Indiscreet nach Jahrzehnten wiederzusehen, im Kino, war ein unverhofftes Glück.

Indiscreet (1958 Stanley Donen) *
Immer wenn es Nacht wird (1961 Hans Dieter Bove)
Night Tide (1961 Curtis Harrington) **
La Ragazza in Vetrina (1961 Luciano Emmer) *
Naked City: Lament for a Dead Indian (1962 Robert Gist) **
The Birds (1963 Alfred Hitchcock) *
Ukradená vzducholoď (Das gestohlene Luftschiff 1966 Karel Zeman) **
Hau drauf, Kleiner (1974 May Spils)
Der zweite Frühling (1975 Ulli Lommel)
Filmemigration aus Nazideutschland (1975 G.P. Straschek)


Night Tide (1961 Curtis Harrington)

Aus der Tiefe des Meeres schaut die Meerjungfrau starr ihrem männlichen Opfer hinterher, auf seiner panischen Flucht an die Wasseroberfläche.

Ernst Mach: „Dass beim Erwachen im dunklen Zimmer die letzten Traumbilder in lebhaften Farben mit einer Fülle von Licht noch vorhanden waren, ist mir oft vorgekommen. — Eine eigentümliche Erscheinung, die mir seit einigen Jahren häufiger begegnet, ist folgende. Ich erwache und liege mit geschlossenen Augen ruhig da. Vor mir sehe ich die Bettdecke mit allen ihren Fältchen, und auf derselben meine Hände mit allen Einzelheiten ruhig und unveränderlich. Öffne ich die Augen, so ist es entweder ganz dunkel, oder zwar hell, aber die Decke und die Hände liegen ganz anders, als sie mir erschienen waren. Es ist dies ein besonders starres und dauerndes Phantasma, wie ich es unter anderen Verhältnissen nicht beobachtet habe. Ich glaube an diesem Bild zu bemerken, daß alle auch weit voneinander abliegenden Teile zugleich deutlich erscheinen, in einer Weise, wie dies bei objektiv Gesehenem aus bekannten Gründen unmöglich ist.“ („Die Analyse der Empfindungen“, 1886)


Night Tide (1961 Curtis Harrington)

In der Tiefe der Nacht (also genau um 4) aus einem Traum erwacht, schaut der Matrose auf die Uhr.

In “Die Kinder des Kapitäns Grant” beschreibt Jules Verne inmitten gefahrvoller Situationen irritierende Lichtphänomene. 17 Kapitel vor den leuchtenden Pilzen in Australien (nur 12 Kapitel sind es in der schön gekürzten Ausgabe von 1966, die mir in die Hände fiel, als ich gerade solche Lektüre dringend brauchte), als die Reisenden noch in Patagonien unterwegs vor einer Überschwemmungskatastrophe in die Krone eines großen Baumes geflohen sind, spiegeln sich in der Wasserfläche die Sternbilder der südlichen Hemisphäre, als wölbe sich der Himmel auch unter ihnen. Bis plötzlich vom östlichen Horizont ein dichter, finstrer Dunst bedrohlich aufsteigt, und schnell die Hälfte des Himmelsgewölbes verhüllt. Diese Wolke scheint sich von selbst zu bewegen, denn von Wind ist kein Hauch zu spüren, kein Blatt regt sich am Baum, kein Fältchen kräuselt die Wasserfläche, fast so, als sei alle Luft von einer gigantischen Pumpe abgesaugt. Selbst die Schatten haben sich aufgelöst und jeder Laut ist erstorben. „Das Schweigen wetteiferte an Tiefe und Stärke mit der Finsternis.“ Aber die Nerven jeglicher Lebewesen spüren die hochgespannte Elektrizität, mit der sich die Atmosphäre auflädt. Als jemand vorschlägt man solle herabklettern aus der Baumkrone ins tiefergelegene Nest, und sich verkriechen „in Philosophie und in unsere Ponchos“, bemerken sie alle erstaunt ein überraschendes Dämmerlicht. Es wird hervorgebracht von Myriaden leuchtender Punkte, die sich summend über der Wasserfläche hin und her bewegen. Phosphoreszierende Insekten. Johanniswürmchen. „Lebendige Diamanten, aus denen sich die Damen von Buenos-Aires prächtigen Schmuck fertigen.“ Der Sohn des Kapitäns Grant erhascht eins dieser leuchtenden Tierchen. Eine Art große Hummel von 2 cm Länge. Am Brustpanzer strahlt das Tier so hell, dass der Forscher Paganel an seiner Uhr ablesen kann, dass es 10 Uhr abends ist.


L’anticristo (1974 Alberto de Martino)

Ernst Mach beschreibt den Traum als etwas Geschmeidiges, das in seinem Verlauf reagieren kann auf die Anzweiflung der Echtheit des Traums.

Beim Schreiben über Filme müsste diese Geschmeidigkeit zu fühlen sein, die man beim Filmesehen doch zumindest an guten Tagen hat.


All of Me (1984 Carl Reiner)

„Das Ich ist unrettbar. Teils diese Einsicht, teils die Furcht vor derselben führen zu den absonderlichsten pessimistischen und optimistischen, religiösen, asketischen und philosophischen Verkehrtheiten. Der einfachen Wahrheit, welche sich aus der psychologischen Analyse ergibt, wird man sich auf die Dauer nicht verschließen können. Man wird dann auf das Ich, welches schon während des individuellen Lebens vielfach variiert, ja im Schlaf und bei Versunkenheit in eine Anschauung, in einen Gedanken, gerade in den glücklichsten Augenblicken, teilweise oder ganz fehlen kann, nicht mehr den hohen Wert legen. Man wird dann auf individuelle Unsterblichkeit gern verzichten, und nicht auf das Nebensächliche mehr Wert legen als auf die Hauptsache. Man wird hiedurch zu einer freieren und verklärten Lebensauffassung gelangen, welche Missachtung des fremden Ich und Überschätzung des eigenen ausschließt. Das ethische Ideal, welches sich auf dieselbe gründet, wird gleich weit entfernt sein von jenem des Asketen, welches für diesen biologisch nicht haltbar ist, und zugleich mit seinem Untergang erlischt, wie auch von jenem des Nietzscheschen frechen ‚Übermenschen‘, welches die Mitmenschen nicht dulden können, und hoffentlich nicht dulden werden.“ (Ernst Mach: „Die Analyse der Empfindungen“, 1886)

Daddy’s Home 2 (2017 Sean Anders)
Jim & Andy: The Great Beyond (2017 Chris Smith)
The Post (2017 Steven Spielberg)
Ready Player One (2018 Steven Spielberg)
Bad Girl Avenue (2018 Klaus Lemke)
The 15:17 to Paris (2018 Clint Eastwood)
Lucky (2017 John Carroll Lynch)
Die zwei Leben des Reno Roc (2018 Bruno Sukrow)
Grolsch (2018 Bruno Sukrow)
The Rider (2018 Chloé Zhao)

In Kürze mehr von Jules Verne und Ernst Mach, und über rundgerahmte Gesichter in Filmen.

Mittwoch, 04.07.2018

Hinweis

Das Zeughauskino startet heute eine Reihe mit Filmen von Peter Goedel.
„Schauplätze geistiger Erfahrung“ (Peter Nau)
Besonders nachdrücklich empfehle ich Talentprobe – am Sonntag um 18:00 Uhr

Dienstag, 03.07.2018

Filme der Fünfziger (XLII): Die Letzten werden die Ersten sein (1957)

In der Katholischen Kirche gab es am Sonntag drei Formen des Gottesdienstes: Die Frühmesse für alle, die sowieso jeden Tag frühmorgens zur Kirche gingen; die Kinder- und Jugendmesse etwa um 9 Uhr; und das Hochamt am späten Vormittag, die feierliche Messe zur Einstimmung auf den Sonntag. Im Genre der Problemfilme will dieser Film „um den ewigen Konflikt von Schuld und Sühne“ (Programmheft) das Hochamt sein; angepriesen wird wie eine Promilleangabe auf der Schnapsflasche „ein starker menschlicher Gehalt“, und eine Schauspielerleistung, die „zu einem Erlebnis von seltener Eindringlichkeit“ führt in einem „durch und durch realistischen Film“. Die literarische Vorlage war John Galsworthy’s bitter-sarkastische Novelle „Die Ersten und die Letzten“. Für die Bundesrepublik musste daraus ein Bibelspruch werden. Ahnte niemand, dass diese Mischung unweigerlich zum Kater führte?
Schon die Titelschrift in erhabener Walbaum sieht aus als sei sie in Stein gemeisselt. Es folgen Wolkenformationen und aus dem bewegten Äther spricht Gottes Stimme: Die Letzten werden die Ersten sein. Ach, du jemine.
Eine Gesellschaft verlässt die Villa des Rechtsanwalts Ludwig Darandt (O.E. Hasse). Er ist ein Realist und hartgesottener Pragmatiker; der Herr Senator, der gerade das Haus verlässt, möchte ihn gern in die Politik einbinden. Und was macht der Bruder, auch ein Doktor, aber arbeitslos, vielleicht Jurist? Nein, er ist Doktor der Philosophie, da kann man nicht viel helfen. Mit dem Bruder Lorenz (Maximilian Schell) brechen nach der Party ernste Probleme in das geordnete Leben. Lorenz ist ein Spätheimkehrer und findet sich in der Bundesrepublik nicht zurecht. Er hat das Mädchen Wanda (Ulla Jacobsen) kennengelernt, das als „displaced person“ in Hamburg hängen geblieben ist und zur Prostitution getrieben wurde. Nun ist ihr Zuhälter zurückgekehrt, erniedrigt sie und Lorenz hat ihn umgebracht. Ludwig muß helfen, schon seiner Reputation wegen.
Ein Bettler (Bruno Hübner) findet sich, der die Leiche beraubt hat und auch gut der Mörder sein könnte. Ludwig übernimmt die Verteidigung, will ihn aber hinter Gitter bringen. Lorenz quält das Gewissen. „Mein Bruder“, sagt Ludwig zu Wanda, „ist ein schwacher Mensch“ –„Nennen Sie Gewissen Schwäche?“, fragt Wanda zurück. Auch Wanda will Lorenz retten. Nach dem Schuldspruch – zehn Jahre Gefängnis für den Bettler – bezichtigt sie sich selbst des Mordes und bringt sich um. Lorenz geht zu Wanda, bettet die Tote auf das Bett, nimmt jetzt in einem Brief auch alle Schuld auf sich und bringt sich ebenfalls um. Ludwig entdeckt die beiden, dekorativ und friedlich auf dem Bett vereint, und nein, er nimmt sich nicht das Leben, sondern den Brief und zerreißt ihn im Herbstwind. Aus den Wolken tönt Gottes Stimme: „Kain, wo ist dein Bruder.“ Schluß, Ende, Ratlosigkeit.

Die dunklen Gassen

Der Film erstickt förmlich an seiner vorgeführten Seriosität und Kunstfertigkeit. Robert Herlth baut die Interieurs der Villa mit geblümten Sesseln zum Nachmittagstee, flackerndem Kamin im Wohnzimmer und einer imponierenden Bibliothek samt dunkel furnierten, schweren Möbeln im Arbeitszimmer des Rechtsanwalts. Das Paar Lorenz-Wanda lebt in einer billigen Absteige, gelegen an einer expressionistisch gefärbten Weggabelung mit Tunnel, Nebel und grobem Pflaster. „Durch und durch realistisch“ geht es von einer Kunstwelt in die andere. Im Haus des Rechtsanwalt schlägt die Wanduhr die Schicksalsstunde, an der Weggabelung klackern bedrohlich die Schritte unsichtbarer Polizisten. Als Wanda ihr Schuldbekenntnis schreibt, kündigt eine rhythmisch geschlagene, im Melodiefluss gedämpfte Pauke künftiges Unheil an. Der Film spielt in Hamburg; man war sogar dort zu Außenaufnahmen. Erhalten bleiben nur Illustrationen – Segelschiffe kreuzen in Rückprojektion beim Gespräch im Alstercafe, Schiffshörner tuten monströs durch nebliges Gewölk.

Erboster Denker im Schatten (Maximilian Schell)

Franz Weihmayers Kamera ist ganz alte, durchaus beeindruckende Schule: es flackern die Lichter, die Gesichter sind mit Halbschatten verdunkelt und gelegentlich auch dämonisch von unten angeleuchtet. O.E. Hasse schreitet gemessen, aufrecht und vornehm durch bedeutende Schrecken aus Licht, Ausstattung und Musik; Maximilian Schell dagegen, ganz der gequälte Mensch, geht und hetzt gebeugt unter der Last der Philosophie und des Gewissens. Interessant ist die Figur der Frau des Rechtsanwalts (Adelheid Seeck); ganz Dame der Gesellschaft besteht ihre Funktion nur darin, den Kaffeetisch zu präsentieren, zur Oper zu gehen und verständnisvolle Gattin zu sein („Ich weiß, Du hast morgen wieder einen schweren Tag“). Sie ist reine Dekoration und geschützt vor einem Drama, von dem sie gar nichts erfährt. „Ein Herrenzimmerfilm“ befand Friedrich Luft.

 

Realist im dämonischen Licht (O.E. Hasse)

Rolf Hansen inszenierte, Jochen Huth schrieb das Drehbuch. Beide hatten schon in der Ufa zusammengearbeitet. Aber die alte Schule des Qualitätsfilms zeigte nur noch im Glanz erstarrtes Handwerk und verwies geheimnisvoll auf “letzte Worte“. „Das letzte Wort“, so der angeklagte Bettler, „hat ein anderer.“ „Das letzte Wort“, so Lorenz, „ist noch nicht gesprochen“. Das war dann doch nur, wie Friedrich Wagner in der „Frankfurter Allgemeinen“ schrieb, „kostbar gemachte Kunstdruckillustrierte und deutsche Tiefsinnsknorzelei.“

Keine DVD, kein Video

Ergänzungen und Präzisierungen zu filmportal:
Standfotos: G.V. Krau; Innen-Requisite: Sylvester Schimpke; Ateliersekretärin: Annemarie Petke; Außenaufnahmen: Hamburg, ab 5. 10. 1956. Atelier: CCC-Film Atelier Spandau bis 30.11.1956


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