Filme der Fünfziger (XLII): Die Letzten werden die Ersten sein (1957)
In der Katholischen Kirche gab es am Sonntag drei Formen des Gottesdienstes: Die Frühmesse für alle, die sowieso jeden Tag frühmorgens zur Kirche gingen; die Kinder- und Jugendmesse etwa um 9 Uhr; und das Hochamt am späten Vormittag, die feierliche Messe zur Einstimmung auf den Sonntag. Im Genre der Problemfilme will dieser Film „um den ewigen Konflikt von Schuld und Sühne“ (Programmheft) das Hochamt sein; angepriesen wird wie eine Promilleangabe auf der Schnapsflasche „ein starker menschlicher Gehalt“, und eine Schauspielerleistung, die „zu einem Erlebnis von seltener Eindringlichkeit“ führt in einem „durch und durch realistischen Film“. Die literarische Vorlage war John Galsworthy’s bitter-sarkastische Novelle „Die Ersten und die Letzten“. Für die Bundesrepublik musste daraus ein Bibelspruch werden. Ahnte niemand, dass diese Mischung unweigerlich zum Kater führte?
Schon die Titelschrift in erhabener Walbaum sieht aus als sei sie in Stein gemeisselt. Es folgen Wolkenformationen und aus dem bewegten Äther spricht Gottes Stimme: Die Letzten werden die Ersten sein. Ach, du jemine.
Eine Gesellschaft verlässt die Villa des Rechtsanwalts Ludwig Darandt (O.E. Hasse). Er ist ein Realist und hartgesottener Pragmatiker; der Herr Senator, der gerade das Haus verlässt, möchte ihn gern in die Politik einbinden. Und was macht der Bruder, auch ein Doktor, aber arbeitslos, vielleicht Jurist? Nein, er ist Doktor der Philosophie, da kann man nicht viel helfen. Mit dem Bruder Lorenz (Maximilian Schell) brechen nach der Party ernste Probleme in das geordnete Leben. Lorenz ist ein Spätheimkehrer und findet sich in der Bundesrepublik nicht zurecht. Er hat das Mädchen Wanda (Ulla Jacobsen) kennengelernt, das als „displaced person“ in Hamburg hängen geblieben ist und zur Prostitution getrieben wurde. Nun ist ihr Zuhälter zurückgekehrt, erniedrigt sie und Lorenz hat ihn umgebracht. Ludwig muß helfen, schon seiner Reputation wegen.
Ein Bettler (Bruno Hübner) findet sich, der die Leiche beraubt hat und auch gut der Mörder sein könnte. Ludwig übernimmt die Verteidigung, will ihn aber hinter Gitter bringen. Lorenz quält das Gewissen. „Mein Bruder“, sagt Ludwig zu Wanda, „ist ein schwacher Mensch“ –„Nennen Sie Gewissen Schwäche?“, fragt Wanda zurück. Auch Wanda will Lorenz retten. Nach dem Schuldspruch – zehn Jahre Gefängnis für den Bettler – bezichtigt sie sich selbst des Mordes und bringt sich um. Lorenz geht zu Wanda, bettet die Tote auf das Bett, nimmt jetzt in einem Brief auch alle Schuld auf sich und bringt sich ebenfalls um. Ludwig entdeckt die beiden, dekorativ und friedlich auf dem Bett vereint, und nein, er nimmt sich nicht das Leben, sondern den Brief und zerreißt ihn im Herbstwind. Aus den Wolken tönt Gottes Stimme: „Kain, wo ist dein Bruder.“ Schluß, Ende, Ratlosigkeit.
Der Film erstickt förmlich an seiner vorgeführten Seriosität und Kunstfertigkeit. Robert Herlth baut die Interieurs der Villa mit geblümten Sesseln zum Nachmittagstee, flackerndem Kamin im Wohnzimmer und einer imponierenden Bibliothek samt dunkel furnierten, schweren Möbeln im Arbeitszimmer des Rechtsanwalts. Das Paar Lorenz-Wanda lebt in einer billigen Absteige, gelegen an einer expressionistisch gefärbten Weggabelung mit Tunnel, Nebel und grobem Pflaster. „Durch und durch realistisch“ geht es von einer Kunstwelt in die andere. Im Haus des Rechtsanwalt schlägt die Wanduhr die Schicksalsstunde, an der Weggabelung klackern bedrohlich die Schritte unsichtbarer Polizisten. Als Wanda ihr Schuldbekenntnis schreibt, kündigt eine rhythmisch geschlagene, im Melodiefluss gedämpfte Pauke künftiges Unheil an. Der Film spielt in Hamburg; man war sogar dort zu Außenaufnahmen. Erhalten bleiben nur Illustrationen – Segelschiffe kreuzen in Rückprojektion beim Gespräch im Alstercafe, Schiffshörner tuten monströs durch nebliges Gewölk.
Franz Weihmayers Kamera ist ganz alte, durchaus beeindruckende Schule: es flackern die Lichter, die Gesichter sind mit Halbschatten verdunkelt und gelegentlich auch dämonisch von unten angeleuchtet. O.E. Hasse schreitet gemessen, aufrecht und vornehm durch bedeutende Schrecken aus Licht, Ausstattung und Musik; Maximilian Schell dagegen, ganz der gequälte Mensch, geht und hetzt gebeugt unter der Last der Philosophie und des Gewissens. Interessant ist die Figur der Frau des Rechtsanwalts (Adelheid Seeck); ganz Dame der Gesellschaft besteht ihre Funktion nur darin, den Kaffeetisch zu präsentieren, zur Oper zu gehen und verständnisvolle Gattin zu sein („Ich weiß, Du hast morgen wieder einen schweren Tag“). Sie ist reine Dekoration und geschützt vor einem Drama, von dem sie gar nichts erfährt. „Ein Herrenzimmerfilm“ befand Friedrich Luft.
Rolf Hansen inszenierte, Jochen Huth schrieb das Drehbuch. Beide hatten schon in der Ufa zusammengearbeitet. Aber die alte Schule des Qualitätsfilms zeigte nur noch im Glanz erstarrtes Handwerk und verwies geheimnisvoll auf “letzte Worte“. „Das letzte Wort“, so der angeklagte Bettler, „hat ein anderer.“ „Das letzte Wort“, so Lorenz, „ist noch nicht gesprochen“. Das war dann doch nur, wie Friedrich Wagner in der „Frankfurter Allgemeinen“ schrieb, „kostbar gemachte Kunstdruckillustrierte und deutsche Tiefsinnsknorzelei.“
Keine DVD, kein Video
Ergänzungen und Präzisierungen zu filmportal:
Standfotos: G.V. Krau; Innen-Requisite: Sylvester Schimpke; Ateliersekretärin: Annemarie Petke; Außenaufnahmen: Hamburg, ab 5. 10. 1956. Atelier: CCC-Film Atelier Spandau bis 30.11.1956