Dienstag, 02.07.2019

Fortsetzung des Berichts

Gerhard Friedls Filme

Namen – In der Reihenfolge (und Häufigkeit) ihres Auftretens: Alfons Müller Wipperfürth (6), Rudolf Münemann (9), Hugo Stinnes Jr. (8), Otto Stinnes (2), Claire Stinnes (2), Helmut Horten (1), Friedrich Flick (8), Hermann Krages (9), Heinrich Knoop (1), Herbert Quandt (6), Familie Quandt als ganze (4), Harald Quandt (4), Inge Quandt (2), Iwan Herstatt (7), Hans Gerling (7), Friedrich Karl Flick, kurz: FKF (13), Otto Ernst Flick, genannt OE (6), Fritz Ries (6), Eberhard von Brauchitsch (8), Axel Springer (2), Walther von Brauchitsch (1), Manfred von Brauchitsch (2), Pierre Levegh (2), Jürgen Ponto (2), Walther Leisler Kiep (12), Franz Joseph Strauß (10), Karl-Heinz Schreiber (5), Marianne Strauß (1), Max Strauß (3), Holger-Ludwig Pfahls (4), Otto Wiesheu (4), Wolfgang Schüssel (1), Uwe Lüthje (3), August Thyssen (5), Joseph Thyssen (1), August Thyssen jr. (3), Hedwig Thyssen (1), Amelie Thyssen (3), Anita Gräfin Zichy-Thyssen (1), Fritz Aurel Goergen (11), Leonhard Lutz (6), Ludwig Erhard (1), Familie Stumm (3), Knut von Kühlmann Freiherr von Stumm-Ramholz, kurz: Kühlmann Stumm (5), Otto Wolff von Amerongen (13), Ursula von Stumm (1), Arend Oetker (5), Rudolf August Oetker (11), Detlev Rohwedder (3). Alle Angaben ohne Gewähr, aber nach bestem Wissen und Gewissen.

Marcel Proust war fasziniert von der Kraft der Namen; ein prominenter Interpret hat geschrieben, dass die Entstehung der „Recherche“ aus der Entdeckung dieser Kraft herrühre. Ein Name ist eine besondere Art von Zeichen, zumal bei Proust. Er sei, ich übersetze sinngemäß aus dem Französischen, ein Milieu (im biologischen Sinne des Begriffs), in das man eintauchen kann. Auf undefinierte Weise schwebe er in der träumerischen Umgebung, die in ihm steckt und ihn umgibt. Er sei ein wertvolles Objekt, verdichtet, voller Duft, das man wie eine Blüte öffnen müsse. Auch Walter Benjamin hatte früh eine komplizierte Namenstheorie ausgearbeitet, die sich weit in religiöse Gefilde hineinwagte. Aus den Briefen Flauberts, ein letztes Beispiel noch, ist bekannt, wie kompromisslos der Schriftsteller mit sich rang, bis er den richtigen Namen für seine Protagonistin gefunden hatte. Er probierte verschiedene Vokal- und Konsonatenkombinationen aus, schmeckte den Klang ab, verwarf, bis er schließlich, erschöpft und glücklich, bei „Emma Bovary“ landete.

Gerhard Friedl findet die Namen für sein Industriellenepos „Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?“ in der Wirklichkeit der jüngstvergangenen Wirtschaftsgeschichte. Das Personal seines Films entstammt den kapitalistischen Dynastien der Bundesrepublik des 20. Jahrhunderts. Zwischen Thyssen, Krupp und Oetker spannt sich ein verwickeltes Netz mit Aufstieg und Fall, Anmaßung und Selbstzerstörung, Wirtschaftsexpansion und Konkurs. Die Häufigkeit dieser Namen ist konstitutierend für den Off-Kommentar des Films. Es gefällt Friedl, diese Namen immer und immer wieder aufzugreifen – und vom Sprecher, Matthias Hirth, den man ohne weiteres den Hauptdarsteller des Films nennen kann, sprechen zu lassen – oft in ihrer vollen und wundersamen Länge, dann wieder im zackigen Funktionärsgestus als FKF oder OE. Ein besonders schönes Exemplar aus dieser onomastischen Schmetterlingskollektion wurde im Laufe der mehrjährigen Arbeit am Film zum Titelhelden. Aus dem knapp-lakonischen „Tote Arbeit“ wird das schwungvoll-barocke „Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?“ Ein Akteur betritt die Bühne, die tote Arbeit bekommt einen, zwei, drei, ganz viele Namen, und drei, zwei, eins, nein: gar keine Gesichter.

Aber der Titelheld lässt auf sich warten. Es ist ein merkwürdiger, besonderer Moment, spät im Film, nach mehr als 50 von 75 Minuten, als er zum ersten Mal erwähnt wird. Man hat sich längst an den gleichförmigen Strom der Namen gewöhnt, es ging von Wipperfürth zu Münemann, von dort zu Stinnes, dann mit kurzem Zwischenstop bei Benz, Flick und Horten zu Krages, um dann eine Weile bei den Quandts und den Flicks zu verweilen. Anschließend Herstatt und Gerling, wieder Flick – Flick ist inzwischen wie ein Refrain in diesem Nachkriegsgesang –, die Firma Pegulan rückt in den Vordergrund, sie hat sich, wie es heißt, auf die Innentapezierung von Automobilen spezialisieren wollen, aber daraus wird nichts, Eberhard von Brauchitsch und die anderen Brauchitschs betreten die Bühne, dicht gefolgt von Ponto, Kiep, Franz Josef Strauß und Karl-Heinz Schreiber, Kiep wird zentral für einen Moment, aber dann springt es abrupt zurück ins Jahr 1910, zu den Thyssens und zu Fritz Aurel Goergen und dem Stumm-Konzern, der nach Goergens Verhaftung von dessen ehemals rechter Hand Leonhard Lutz weitergeführt wird. Und dann, schließlich, wir hatten nicht mehr damit gerechnet: „Der Konzern / gehört einerseits der weitläufigen Familie Stumm, etwa 80 Personen, / und andererseits Otto / Wolff von Amerongen“.

Auftritt des Titelhelden. Was wird er tun? Ein paar Fäden entwirren? Ein paar ordnende Schneisen in das Non-Sequitur der Handlungskaskaden schlagen? Nichts dergleichen: Nach ein paar Minuten ist er wieder so gut wie abgetaucht, es war nichts weiter als ein kurzes Flackern zwischen Thyssenclan und Oetkerimperium. Vor lauter Back- und Puddingpulver, Tiefkühlpizza und Torten ist von Amerongen kaum mehr die Rede. In einer Besprechung des Films war zu lesen, die Namen seien sich alle gleich. „Thyssen ist Müller-Wipperfürth ist Herstatt ist von Amerongen ist Kiep ist Strauß ist Gerling ist Schreiber.“ Das stimmt vielleicht, was die Verhältnisse in der Wirklichkeit angeht, aus der Friedls Film die Namen bezieht: Im Einerlei von Korruption und Kriminalität sind die Wirtschaftsbosse austauschbar. Oder anders gesagt: Man steigt eh nicht durch, Dreck haben sie alle am Stecken. Aber es stimmt sicher nicht, wenn man die Namen als das nimmt, was sie auch sind: Klang und Rhythmus, weit hinübergespielt in das Reich der Dichtung und Fiktion.

Sprache – Gerhard Friedl hat das Textbuch zu „Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?“ in Verse und Zeilen gesetzt. Er wusste: Die einfachste Sprache – egal, ob es die des Boulevard ist oder die der Administration – kann die poetischste sein. Schon die insistierende Wiederholung der Namen erzeugt einen eigentümlichen Klang und Rhythmus. Man hat große Lust sich auszumalen, wie dieses lange und tragisch-epische Gedicht namens „Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?“ entstanden ist. Friedl wird Bücher gelesen haben, stapelweise Abhandlungen und Biographisches über die großen Wirtschaftskonzerne und deren dynastische Verflechtungen. Er wird Sätze und Passagen exzerpiert haben. Er wird sich (stelle ich mir vor) an Worten wie „schwachsichtig“ und „Frostfisch“ berauscht haben (erst recht in der Verbindung „Fabrikschiffe für Frostfisch“), an Formulierungen wie „Der Gefühlswert der Kindheitserinnerung“ oder an Sprachfindungen wie der „vollblindflugtauglichen Allwettermaschine“. An Sätzen wie „Lüthje sagt, Kiep habe ihm im / Hotelzimmer / unter der Bettdecke / eine Mio gezeigt.“ Er wird diese Sätze umgeschrieben und abgeschliffen haben, bis sie ganz einfach und auf eine unklare Weise vertraut klingen. Bis man denkt oder denken kann: Das kenne ich, das kommt von dort oder dort, ist Zeitungsdeutsch oder Verwaltungssprache. Ich hörte neulich jemanden sagen: Die gelungensten Kunstwerke erkenne man daran, dass sie ein Höchstmaß an Evidenz mit einem Höchstmaß an Rätselhaftigkeit verbinden. Besser kann man den Eindruck, den „Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?“ auf mich hatte, nicht beschreiben.

Für fast jeden der Sätze im Libretto von „Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen“ gilt, dass er – wie die Namen – mit einem (Vers-)Fuß in der kühlen Zugluft des real existierenden Wirtschaftsverbrechens steht und mit dem anderen in der wolkigen Region von Sprache und Poesie. Es sind diese, exakt diese Leute bezeichnet und gemeint, diese tatsächlichen Schweinehunde mit ihren widerlichen Steuertricks und ihren translegalen Geschäftspraktiken. Und es sind – zugleich – , traum- oder alptraumhafte Literaturfiguren, verwandt den Schramms und Ramms, den Wobsers und Meyerheims, die durch Ror Wolfs „Nachrichten aus der bewohnten Welt“ irren oder seine „Fortsetzung des Berichts“ bevölkern.

Sprechen – Nach dem Film stehen wir draußen vor der Tür des Kinos. Matthias Hirth, der die Texte für „Knittelfeld“ und „Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?“ gesprochen hat, erinnert sich an die gemeinsame Arbeit mit dem Text. Keineswegs sei alles fertig gewesen, als die Aufnahmen losgingen. Noch im Studio hätten sie vieles vollständig umgeschrieben, ganze Teilerzählungen des Industrieromans seien gestrichen worden zugunsten anderer Figuren und Handlungsstränge. Sie haben auch an dem Tonfall für „Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?“ gefeilt, der Film sollte anders klingen als „Knittelfeld“. Er, Hirth, habe sich dann an einer Fernsehsendung orientiert, die er zufällig gesehen habe, da sei der Ton strenger, aggressiver gewesen. Auf Friedls Weisung hin musste er alle Sätze gleichmäßig und relativ unbetont enden lassen, sozusagen nach oben hin offen. Der Regisseur bestand darauf, weil der Schnitt noch nicht fertig war und er sich alle Möglichkeiten offen halten wollte. Wenn ein Satz hinten abfällt, quasi zum Punkt hin runterklappt, dann müsse er schneiden, und wo wann wie geschnitten wird, das könne man zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen. Auch dieser (aus der Not geborenen) Technik verdankt sich die Unverbundenheit, der Beigeschmack des Absurden, den der Text hat und den der Sprechgestus verstärkt.

Ton, Bild – Was in Friedls beiden Filmen zwischen Ton und Bild geschieht und was – ich halte daran fest – einer Neuerfindung des Tonfilms 70 Jahre nach seiner Einführung in den 20er Jahren gleichkommt, ist schwer zu beschreiben. Ich flüchte mich in den Konjunktiv: Man müsste sprechen über das Verhältnis der Einstellungen untereinander, über das immer wieder neue und andere Verknüpfen und Entkoppeln zwischen den unbenannten, manchmal erkennbaren (Monaco, Frankfurt, Genf?), oft anonymen Orten. Man müsste nachdenken darüber, was ein Kameraschwenk eigentlich ist und worin sich ein Linksschwenk von einem Rechtsschwenk unterscheidet (die Erdrotation, rechts- und linksdrehende Milchsäuren, aber auch musikalische Vergleiche fallen mir ein: Die Abstände zwischen den Tönen eines Intervalls sind gleich, aber sie unterscheiden sich, je nachdem, ob man die Quarte nach oben oder nach unten anschlägt). Drei Möglichkeiten, sicher nicht alle: (a) der langsam gleitende Schwenk als Modus geduldiger Beobachtung, eine angenehm plätschernde Gießkanne gleichmäßiger Aufmerksamkeit (b) der langsam gleitende Schwenk als subjektlose, maschinenartige Blickbewegung, vergleichbar den Überwachungskameraschwenks in Michael Kliers „Der Riese“ (c) der langsam gleitende Schwenk als Geste des Landvermessers. Das Registierende daran, die mathematisch-panoramatische Geste. Ein Terrain abstecken.

Ein und dieselbe Einstellung kann jederzeit und problemlos an allen drei Blickregimen und damit auch an verschiedenen Zeitlichkeiten partizipieren. Nehmen wir an: Sie zielt ab auf die Gegenwart der geduldigen Beobachtung. Und zugleich auf die mögliche Zukunft, die der Zeitmodus des Überwachungsbildes wäre. Und im selben Moment auf die Vergangenheit des Verbrechens. Unmöglich, die Anteile zu kalkulieren, weder in der Produktion noch in der Rezeption. Und selbst wenn man (im strukturalistischen Geiste) einige dieser Funktionen für einzelne Kameraschwenks bestimmt hätte, wäre damit noch nichts über das Verhältnis zwischen Bild und Text gesagt. (Ich weiche der Aufgabe aus, ich gebe es zu.)

Was passiert zwischen den Bildern, zwischen den Bildern und dem Text: Verstärkungen, Dementis, Retardierungen, Vorausdeutungen, kaum zu systematisieren. Ein Beispiel. Unbewegte Einstellung, eine dunkle Werkshalle, die durch ein Schiebetor von einer weiteren, etwas helleren Halle getrennt ist. Ein Arbeiter durchquert zu Fuß von rechts nach links das Bild, ein anderer biegt schwungvoll auf dem Rad in Richtung Tor, drückt aus der Fahrt heraus auf den Taster, der das Tor nach oben gleiten lässt, fährt durch und verschwindet aus dem Bild. Der Text setzt ein: „Stinnes jr. steht beinahe täglich vor dem Portrait / seines Vaters und / gelobt, / sich zu bessern. // Ihm / bleibt noch eine Reederei. / Das sind 4 Schiffe.“ Exakt auf dem Wort „noch“ in „ihm bleibt noch eine Reederei“ liegt der Schnitt zur nächsten, nun gleichmäßig nach rechts schwenkenden Einstellung: das Mündungsgebiet eines breiten Flusses, möglicherweise der Elbe, an deren Ufer eine verwaiste Mercedeslimousine geparkt ist. Im Hintergrund, das registriert man in dem Augenblick, in dem das Wort „Reederei“ gesprochen wird, ist ein großes Passagierschiff zu sehen: Wort und Bild grüßen sich kurz, bevor sie wieder auseinanderdriften, im Ein- oder Unverständnis, in Ignoranz und Indifferenz oder im Hass. Manchmal – in „Knittelfeld“ meist – bleiben Wort und Bild in Sichtweite voneinander, aber meist reißt es sie in Sekunden so weit auseinander, dass sie ebensogut auf unterschiedlichen Planeten leben könnten. In diesem scheinbar ruhig dahinfließenden Bild-und-Textstrom sind so viele Strudel und Strömungen, Untiefen und dann wieder Verlangsamungen, dass einem angst und bange werden kann.
Vielleicht so: Die Namen stechen in die Vertikale des Besonderen hinab, die Kameraschwenks gleiten an der Horizontalen des Allgemeinen entlang. Man kann dieses Verhältnis ganz nüchtern konstatieren und sagen: Zwischen Erzählung und Bild herrschen eine Spannung und ein flirrendes Schweben, da sind alle denkbaren Distanzen und Nähen zu finden. Friedl spricht davon, dass Bild und Ton gezielt aneinander vorbeilaufen sollen. Gemeinsam mit Werner Dütsch, der den Film als Redakteur betreut hat, arbeitete er an der mutwilligen Entkoppelung von Bild und Ton: „Zu sehen ist, wie die Dreharbeiten den Bildern eine Autonomie eingeschrieben haben, die sie ganz untauglich machen zur Illustration. Sie lassen sich nicht als die Sklaven des Textes behandeln. Das geht so weit, dass schnell Einigkeit darüber besteht, einige Passagen mit ‚zu viel’ Synchronizität von Bild und Ton wieder zu entzerren. Friedl: ‚Der formale Einsatz: Bild und Wort verfehlen einander.’“ (Dütsch) Die Bild-Ton-Schluchten in „Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen“ sind breiter und tiefer als in „Knittelfeld“.

Man kann auch, weniger nüchtern, sagen: Eines der vielen Themen dieses Films ist die Unerlöstheit. Dass es bündig passt und ineinandergreift, dass für einen Moment eine unproblematische Verbindung möglich ist: Das scheint hier nicht vorgesehen zu sein. Eines von beidem, Bild oder Ton, ist immer zu spät. Oder zu früh. Aber das auf eine ungemein präzise Weise. (Und zum Glück gibt es den Humor, das Fabrikschiff für Frostfisch, den Bildkalauer. Sonst wäre die Düsternis fast unerträglich.)

Geographie – Auf eine Summe von wievielen Kilometern brächte man es, wenn man die Wege und Strecken zwischen allen Orten addiert, die in „Knittelfeld“ genannt werden? Heute könnte man das Experiment mit einem beliebigen Routenplaner durchführen. Ich vermute, man käme zwar auf einige hundert Kilometer, aber der Radius dieser Wege wäre extrem klein. Die Erzählung springt einmal nach Wien, bleibt aber ansonsten fast immer im unmittelbaren Umkreis von Knittelfeld, der nahen Militärbasis, dem Hof der Familie Pritz, später ist vom Gefängnis die Rede. Knittelfeld, ein Film über Österreich.
Ganz anders „Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?“ Schon nach wenigen Sätzen expandiert der Textilindustrielle Müller Wipperfürth – „um sich zu erweitern“ – nach Belgien und Österreich, auch nach Italien. Ein Film über Alteuropa, wie es sich zwischen WW I und 1990 entwickelt hat. Ein klar abgestecktes historisches Feld, ein Finanz- und Wirtschaftsraum, in dem es noch Stahlhütten und Schwerindustrie gibt. In dem noch Fuchs-Panzer verscherbelt wurden. In dem das Wort „Wirtschaftskapitän“ in seiner muffigen Weltläufigkeit eine Entsprechung hatte. Es hätte, ganz folgerichtig, im dritten Film jenseits des Atlantiks weitergehen sollen, in den USA, in der Gefährlichkeit der großen Ebene, an einem nochmals anderen Brennpunkt des Kapitalismus.

Und dann – Als nach der Projektion von „Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?“ die Lichter im Kino angehen, sagt jemand, der den Film zum ersten Mal gesehen hat, zu mir: Das sei ein erstaunlicher Film, aber zugleich wirke er wie eine Sackgasse; man könne sich nicht vorstellen, was danach hätte kommen sollen. Das klingt plausibel, aber dann auch wieder nicht. Zwar sind „Knittelfeld“ und „Hat Wolff von Amerongen“ Filme mit einer ganz eigenen Struktur und starken formalen Entscheidungen. Man sieht etwas wie die „Methode Friedl“ am Werk und fragt sich, ob diese Methode auf andere Gegenstände anwendbar sein könnte oder nicht. Ob sie sich in den zwei Filmen schon verbraucht haben könnte. Aber warum sollte das so sein. Warum sollte man nicht nach einem vergleichbaren Prinzip, in der kunstvollen Verkantung von Text und Bildern, weitere und andere Geschichten erzählen können? Das nächste Projekt Gerhard Friedls trägt den Titel „Panik von 94“. Von der Seite des Verbrechens und der Korruption hätte er zur Seite eines anderen, integren Zusammenhangs übergehe wollen. In „Panik von 94“ wäre es um die Orte und Erzählungen der US-amerikanischen Arbeitskämpfe des 19. und 20. Jahrhunderts gegangen. Um Orte, an denen sich Ausgebeutete, nicht Ausbeuter zusammentaten und Ansätze zu einer möglichen anderen Geschichte in der real existierenden sichtbar geworden wären. Dass aus diesem Projekt nichts wurde, oder dass es sich veränderte und nicht so verwirklicht werden konnte, wie Friedl es sich gewünscht hatte, hängt nicht mit seiner Methode zusammen, sondern mit dem Widerstand, den die US-amerikanische Wirklichkeit dieser Methode entgegensetzte. Mit Datum 28. Juni 2008 formuliert Friedl in seinem Endbericht und nach verschiedenen Recherchereisen:

„Die Reise hat zwei Probleme offenbar gemacht.

– Erhoffte Dokumente sind nicht oder nicht einfach zu finden. Weitere Recherche nach persönlichen Dokumenten ist sehr aufwändig. Da zugängliche Dokumentationen oft das gleiche Material haben, ist zu vermuten, dass es weiteres Material nicht gibt.

– Die Drehortrecherche zeigt, dass es die meisten historischen Orte nicht mehr gibt. Das wenige Gefundene würde eine weitere Drehortrecherche nötig machen.“

Der Grundimpuls, etwas über die Arbeiterbewegung in den USA zu machen, bleibt erhalten und ist auch im nächsten Projekt „CU Local 226“ zu finden, das er im Rahmen eines Stipendiums in der Villa Aurora gemeinsam mit Laura Horelli entwickelt. Aus dem Exposé zum Film, der nach der in Las Vegas tätigen Hotel- und Casinoarbeitergewerkschaft benannt ist: „Es wird in diesem Film darum gehen, aus der Perspektive der Hotel- und Casinoangestellten Las Vegas nachzuvollziehen. Wir werden nicht die Stadt und ihre Architektur filmen, sondern einige Protagonisten über ihr Leben, ihre Wünsche, ihre Art, diese Stadt zu erfahren, befragen. Sie werden ihre Arbeit und ihre Arbeitsplätze beschreiben. Ihre Wünsche, ihre Schwierigkeiten, ihre Einsamkeit, ihre Freuden, ihre Gemeinschaften.“ Der Film „Shedding Details“ von Laura Horelli und Gerhard Friedl, der sehr anders ist als die beiden anderen Filme Friedls, ist aus der Arbeit an diesem Projekt hervorgegangen.

Schluss – „Knittelfeld“ und „Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen?“ enden abrupt, ihr plötzlicher Schluss überrascht mich jedes Mal. Als würden sie denken, wie Ror Wolf in einer seiner Geschichten schreibt: „Es wäre vielleicht angebracht, anders aufzuhören, aber so geht es auch.“

– Volker Pantenburg, November 2009 –

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