Mai 2019
Donnerstag, 30.05.2019
Filme der Fünfziger L: Sündige Grenze (1951)
Mit dem Tag der Währungsreform am 20. Juni 1948 waren die immer leeren Geschäfte in den drei westlichen Zonen wieder voll mit Waren. Der Schwarzmarkt brach zusammen, jetzt konnte man alles mit der neuen D-Mark kaufen. Im Dreiländer-Eck bei Aachen, an der Grenze zu den Niederlanden und zu Belgien, blühten jedoch weiterhin Schmuggel und Schwarzmarkt. Auf Kaffee erhob das vereinigte Wirtschaftsgebiet der westlichen Zonen – die Bundesrepublik war noch nicht gegründet – hohe Steuern; in den angrenzenden Ländern war der Kaffee günstiger. Kinderbanden wurden für den Schmuggel eingesetzt, weil Kinder noch nicht strafmündig waren. Hunderte von Minderjährigen beteiligten sich an den lukrativen Aktionen und ernährten damit auch ihre Familien. Die Polizei war dieser Übermacht an Kindern nicht gewachsen; erst als die Kaffeesteuer Anfang der 50er Jahre gesenkt wurde, ließ der Schmuggel nach.
Arthur Brauner hatte dieses Thema aufgegriffen, R.A. Stemmle übernahm Drehbuch und Regie. Schon seit Januar 1950 hatte Stemmle einen Vertrag mit Brauner; die Verbindung war aber offenbar nicht ohne Probleme, denn beide einigten sich Anfang 1951 darauf, mit diesem Film ihre Zusammenarbeit zu beenden. Stemmle war aus Italien zurückgekehrt, wo er den in Deutschland nie gezeigten Film Abbiama vinto (Wir haben gesiegt) geschrieben und inszeniert hatte. „Die Italiener“, so Stemmle, „machen großartige, bestürzend lebensechte Filme.“ Für Sündige Grenze engagierte er Kinder aus Mietsbunkern, „echte Rabbatzer“ aus Aachen und Umgebung, „echte“ Zöllner, den Pianisten Heini Bromberg, eine Boogie Band und Tänzer aus der legendären „Badewanne“ in Berlin. Von Boleslaw Barlogs Schloßpark-Theater holte er Jan Hendriks und Julia Fjorsen erstmals vor die Filmkamera; Cornelia Froboess hatte in Sündige Grenze mit 8, Horst Buchholz mit 18 und Gerd Vespermann mit 25 Jahren den ersten Filmauftritt. Für die Verleihgarantie verlangte der Prisma-Verleih zwei bekannte Stars; mit Dieter Borsche, Inge Egger und Peter Mosbacher wurden es drei. Stars hin oder her – bei so viel „echten“ Menschen erwartete die kritische Öffentlichkeit jetzt endlich einen „neorealistischen“ deutschen Film. Auch technisch wollte man neue Wege gehen. In Italien hatte Stemmle seinen Film komplett nachvertont. Bei Sündige Grenze merkt man unglücklicherweise auch in Außenszenen das Tonstudio.
Kindergesichter lugen vorsichtig hinter Sträuchern und Geäst hervor, während der Vorspann noch läuft. Marianne Mertens (Inge Egger) organisiert eine Kindertruppe für den illegalen Grenzübertritt. Einige Kinder werden geschnappt, unter ihnen ihr Bruder Heinz (Wolfgang Jansen), der sich im Verhör als Anton Pisspott ausgibt. Der Student Hans Fischer (Dieter Borsche) steht fast versteckt in einer Ecke des Polizeibüros; er will Studien treiben, „mich interessiert das alles“. Zollkommissar Dietrich (Peter Mosbacher) klärt ihn und das Publikum erst mal auf. „In jeder Minute werden in Deutschland 83.000 Tassen Kaffee getrunken, 20.000 davon sind Schmuggelware.“ Wer das wohl ausgerechnet hat? Und 70.000 gefährdete Kinder sind als Schmuggler unterwegs. Als nächstes geht Fischer zur örtlichen Schule; die Klassenlehrerin klagt, dass die Kinder verkommen, Jugendprostitution verbreitet sich,
es gibt schon 13jährige Mütter. Da kommt Marianne Mertens in die Schule, entschuldigt ihren Bruder, den Fischer ja gerade noch beim Verhör gesehen hat. „In die Familien müssen Sie gehen“, rät ihm die Lehrerin. So geht es jetzt zu Mertens, wegen Wolfgang und auch wegen Marianne.
Als Lohn für die gute Organisation hat der schmierige Mielke (Ernst Schröder) Marianne Seidenstrümpfe geschenkt, die sie gleich anprobiert. Die Mutter (Gisela von Collande) mault: “An die Miete denkst Du wohl gar nicht. Na warte, bald ist der Vater wieder da.“ Der Vater (Adolf Dell) sitzt im Gefängnis; er hatte nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft keine Arbeit bekommen und war auf die schiefe Bahn gekommen. Auf Bewährung entlassen, giftet er die Kinder wegen ihrer Schmuggelei an. Die Mutter nimmt die Kinder jetzt in Schutz: „Sie lassen sich nichts mehr sagen“ und „Sie haben doch schließlich für mich gesorgt.“ Jan Krapp (Jan Hendriks)
organisiert den Schmuggel, aber er will weiterkommen; mit Marianne plant er einen großen Coup. In seiner Klause hoch im Turm will er sie verführen. Da kommt Student Fischer in seinem schicken Cabriolet und rettet Marianne. Weil der Student einen teuren Wagen fährt, kann er eigentlich kein Student sein. Seine Rolle kippt um in die des Filmstars Borsche und Marianne fährt jetzt mit dem Studenten-Star nach Hause.
Für Krapp schmuggelt Marianne einen Sack über die Grenze, in dem sich zu ihrer Überraschung ein Kirchenschatz befindet. Damit will sie nichts zu tun haben, „da wachsen einem doch die Hände aus dem Grab“. Der Glaube ist nur noch als Aberglaube oder als Gebetsritual lebendig, nicht als Halt und schon gar nicht als Autorität. Die Kirche hatte sich das auch selbst eingebrockt, denn im westfälischen Düren sprach der Pfarrer direkt die Schmuggler an, bei der Restaurierung der Kirche zu helfen. 250 000 D-Mark kamen zusammen; im Volksmund hieß die Kirche fortan St. Mokka.
Die Zöllner hetzen jetzt die Kinder mit Schäferhunden und jagen Krapp. Fischer fordert Marianne auf, mit der Polizei zusammenzuarbeiten, aber „Ich verrate keinen“. Und warum kümmert er sich bloß um sie, er ist doch, so hatte Krapp gesagt, verheiratet. „Ich habe keine Frau“. Krapp wird von der Polizei erschossen; der letzte Blick der Kamera geht auf seine Armbanduhr, in der ein Cowgirl zu jeder Sekunde die Pistole hebt. Geht Marianne jetzt mit dem Star-Studenten, der guten Seele, ins Glück? So wird es sein, wenigstens an das Kino muß man glauben.
Das will vieles sein: Sozialdrama, Dokument, Realismus, Gangsterfilm, Generationenkrise, Verfallsstudie. Mit braven Zöllnern, die ihr Leben geben, verwahrlosten, doch aufgeweckten Kindern, mit Rauschgiftgeschäft in einer Boogie-Woogie-Tanzdiele, Geschäftemachern, gewalttätigen Eltern, Schiebern und viel verrohtem Proletariat. Als Krapp, diese verführerische Mischung aus Sex, Abenteuer und leichtem Geld, erledigt ist, bleibt nur noch die langweilige Tugend.
Parallel inszenierte Stemmle ein Hörspiel mit dem Titel „Rabbatz-Kolonne“, das am 11. September, drei Tage nach der Uraufführung des Films, gesendet wurde.
Ergänzung zu Filmportal:
Regie-Volontär: Jan George
DVD bei Universum Film
Samstag, 25.05.2019
Gideon Bachmann hören (und sehen)
* Trial and Error, Regie: Marie Falke
Am 30. Mai um 15.00 Uhr beim Dokumentarfilmfestival Karlsruhe. Gideon Bachmann (1927–2016) in seinen letzten Jahren und Monaten. Falke lernt ihn kennen, macht einen Film über ihn und sein Leben. Seit den 1950er Jahren hat Bachmann über das Kino geschrieben und vor allem lange Radiogespräche geführt. Im Alter – in Falkes Film – will er davon wenig oder nichts mehr wissen. Die Filmwelt, deren Chronist er war, ist weit weg. Zum Glück akzeptiert er, wenn auch widerwillig, Falke und ihre Kamera, die ihm ziemlich nah kommen.
„Er trug mir die Inventur seiner Wohnung auf und ich bat um die Erlaubnis, einen Film über ihn drehen zu dürfen. Mein ursprünglicher Gedanke, seine Biografie in Bildern zu erzählen, stellte sich aber von Besuch zu Besuch als immer schwieriger heraus.
Gideon war müde und bitter geworden, sein innerer Kampf hatte schon lange bevor wir uns begegneten waren begonnen. Und so wurde der Film zu einem Dokument der Begegnung eines alternden Kosmopoliten, der mit dem Tode ringt, und einer jungen Filmstudentin, die nach Geschichten sucht.“ (Marie Falke)
* Lettere aperte, Ausgabe 5/2018. Die ganze Ausgabe ist Bachmann gewidmet, in einige Beiträgen sind ausführliche Gespräche Bachmanns eingebettet. Ein immenses Audio-Archiv mit z.B. Jean Renoir, Carl Theodor Dreyer, Maya Deren, Lilian Gish …
Mittelfristig wird Bachmanns Nachlass vom ZKM Karlsruhe (Audio) und dem Filmarchiv des Kulturvereins Cinemazero in Pordenone (Filme) erschlossen und zugänglich gemacht.
Man sollte versuchen, sich einen Kopfhörer und paar Wochen Urlaub zu nehmen. Guter Einstieg:
Víctor Fancelli Capdevila, Christian Haardt: Eine akustografische Geschichte des Kinos. Gideon Bachmann als Stimmensammler von Filmemachern
Montag, 13.05.2019
Doris Day
(1922 – 2019)
Midnight Lace (1960 David Miller)
Steve Beresford & Andrew Brenner: „I Was There“ – 1985