Montag, 06.04.2020

Zum Tod von Eberhard Ludwig

Die besten Lehrer lehren nichts, sagt Thomas Bernhard irgendwo. Was wirke, seien sie selbst. Sie erklärten nichts und begründeten nichts, ein Wort genüge, ein Name, ein Titel, Winke, die dem Lernenden Welten aufschließen. So ein Lehrer war Eberhard Ludwig für mich. Ein Freund und ein Mensch, der mir Welten aufschloss.
Als kinobegeisterte Studentin wollte ich die Filmkritik kennenlernen, weil mir die Umschläge gefielen, die regelmäßig im Glaskasten der Buchhandlung Marga Schoeller in der Knesebeckstraße ausgestellt waren. Ich wollte mitarbeiten, weil mich die ungewöhnliche Auswahl der Fotos anzog, die Schrift, die Typografie. Das Bild der Zeitschrift gab mir am deutlichsten Aufschluss über eine Haltung und eine Sprache, die man dort pflegte. Für dieses Bild war Eberhard Ludwig verantwortlich. Er setzte sich damals mit Jan Tschichold auseinander, das sah man den in Zusammenarbeit mit einer kleinen Münchner Druckerei entstandenen Filmkritik-Seiten an. (Auch etwas, was ihn charakterisierte: Die an die Druckerei zurückgehenden korrigierten Fahnen enthielten seine in doppelte Klammern gesetzten Anweisungen; im normalen Verlagsverkehr befehlsmäßig formuliert, begannen sie bei ihm stets mit „Bitte …“) Er wusste ungeheuer viel über Tschichold. Er zeigte mir einige der nach Tschicholdschen Grundsätzen gestalteten alten Penguin-Bände und schenkte mir eines Tages ein Buch, das mir die Augen nicht nur für vorbildliche Buchgestaltung, sondern auch für die klassische chinesische Malerei öffnete: Es war Die Bildersammlung der Zehnbambushalle, das von Tschichold in den späten Sechzigerjahren herausgebrachte Werk mit vierundzwanzig Reproduktionen dieser frühen Farbdrucksammlung. Aber die Typografie war nur ein Gebiet neben so vielen anderen, in denen Eberhard sich auskannte. Mit anhaltendem Interesse verfolgte er die Entwicklung der Architektur, machte Spaziergänge durch seine Stadt München, beobachtete die unheilvoll wachsende Provinzialität, die mit der Verleugnung des Erbes der Moderne begann. Als Ende der Achtzigerjahre die von Wassili Luckhardt gebaute ehemalige Landesversorgungsanstalt ganz in der Nähe des Filmkritik-Büros in der Kreittmayrstraße abgerissen wurde, war er entsetzt. Und so vieles lernte ich erst durch ihn kennen, das heißt, ich lernte es sehen: Robert Vorhoelzers Postämter, Sep Rufs Nachkriegsbauten, die kritischen Rekonstruktionen von Hans Döllgast, die Wohnhäuser von Otto Steidle, die Bürogebäude von Sauerbruch Hutton. „Schau dir das mal an“, sagte er. Das genügte.
In puncto Malerei brauchte es noch weniger. Einmal sah ich über seinem Schreibtisch den Ausriss einer Gemälde-Reproduktion. (Womöglich war es ein Buchumschlag, denn er hatte die Gewohnheit, Bücher nur ohne Umschlag ins Regal zu stellen.) Es zeigte einen jungen Mann mit flatternder Schärpe auf einem Pferd. An so einem Bild wäre ich an jedem anderen Ort achtlos vorbeigegangen, hier aber faszinierte es mich. Ich fand heraus, dass es von Velazquez stammte. Was ich daran lernte, wurde mir erst später klar. Eberhard stand dem Zeitgeist, den literarischen und philosophischen Moden – vor allem den französischen – skeptisch gegenüber. Aber er schien trotzdem über alle wichtigen Neuerscheinungen Bescheid zu wissen! Er las drei Zeitungen (die tägliche Ration Abendzeitung nicht eingerechnet). Er kannte alle Museen, besuchte alle Ausstellungen und bewog auch mich dazu, das zu tun. In seiner Nähe gewöhnte ich mir an, Bilder auf eine bestimmte Weise zu betrachten, sie nicht zu schnell zu etikettieren, das Sehen nicht durch Wissen abzuwürgen. Auch die Gegenstände des sogenannten Kunsthandwerks betrachtete er auf diese Weise. Möbel und Porzellan, die Hervorbringungen der Kochkunst (vor allem seiner Frau Melanie Walz), alles entdeckte, ergründete, kostete er mit hemmungsloser Neugier und Experimentierlust aus. Selbst auf dem Gebiet, auf dem ich mich einigermaßen auskannte, der Literatur, war er der größte Anreger. Karl Valentin, Wilhelm Busch, die Unsinnsdichter lagen ihm am Herzen, sie entsprachen seinem eigenen Humor, seiner Großherzigkeit, seinem Schrecken vor Aufgeblasenheit und Prahlerei jeder Art. (Wie er mit einer kleinen ironischen Bemerkung großartige Denkgebäude, die man vor ihm entfaltete, zum Einsturz bringen konnte!) Irgendwann begann er, Goethe zu entdecken, und besaß bald zwei große Ausgaben. (Es war die Zeit, in der es noch nicht als Platzverschwendung galt, wenn man Bücher um sich versammelte.) Und immer wieder Lyrik … Einmal zitierte er unvermittelt ein paar kurze Worte, die die trostlose Atmosphäre eines nassen Herbstabends heraufbeschworen. „Von wem ist das?“ Ich hatte keine Ahnung. Es war ein Haiku von Pound. (Wann wird das aufhören, dass mich solche Erinnerungen überfallen?) Nichts lag ihm ferner als Heldenverehrung. Die Schriftsteller, die er liebte, stellte er nicht auf einen Sockel; es waren Freunde, und mit ihnen unterhielt er sich in seinen Einsiedlerjahren wohl lieber als mit manchem, der an seiner Tür klopfte.
Seine strikte Zurückhaltung im Urteilen und sein Witz machten ihn zum idealen Redakteur. Seine gestalterischen Fähigkeiten, seine Vielseitigkeit, die ungeheure Weite seines geistigen Horizonts beeindruckten alle, die sich zur Filmkritik zählten, auch wenn er als Autor nur am Anfang in Erscheinung trat. Nicht zu vergessen, hatte er ja die Filmhochschule besucht, einen Film gemacht (den ich nie sah), war also Filmemacher von Beruf. Aber nicht nur seine Themen, sondern auch sein unverhohlener Antikarrierismus standen quer zur Logik der Geldbewilligungsmaschinerie des Filmbusiness. Er verfolgte die Arbeit der Straubs, der Godards und Rivettes, ließ sich von der großen Wiederentdeckungswelle der amerikanischen, französischen, japanischen Klassiker mitreißen. Er kannte und liebte aber auch die Außenseiter, Vigo oder Franju zum Beispiel. Als ich nach dem Wiedersehen von Le sang des bêtes kürzlich Franju in einem Interview auf Youtube hörte, fiel mir ein, was auch jenes Gemälde von Velazquez mich sehen gelehrt hatte. Franju spricht von der terreur des images cinématographiques, der Gewalt der Bilder, die, von Worten, von intellektuellen Konstruktionen unberührt, ihr Geheimnis bewahren. (Wie gern hätte ich mit Eberhard über Terrence Malick diskutiert!) Und dann das Fernsehen … Was das Fernsehen mit Filmen, mit Bildern macht, wie die Bilder ihre Gewalt verlieren und zu einer Art bewegter Tapete werden, konnte man sehen, wenn man sein Zimmer betrat, in dem ab einem gewissen Zeitpunkt der Fernseher ständig ohne Ton eingeschaltet war. Es war, als sähe da jemand dem Untergang zu, ohne das nächstliegende Mittel zu Hilfe zu nehmen: die Augen zu schließen. Vielleicht konnte Eberhard Ludwig gerade deshalb und bis zuletzt auf seine sanfte Weise so witzig sein, weil er, was den Zustand der Welt betrifft, so pessimistisch und so traurig war. Als es die Filmkritik nicht mehr gab, zog er sich zurück. Sagt man nicht bei jedem, der gestorben ist: Was hätte er sein können! Aber um die Erwartungen anderer scherte er sich nie. So selbstbewusst und überlegen wie der arme B.B. hätte er sagen können:
„In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.“
Und jetzt sind wir diejenigen, die lernen müssen, bei den kommenden Erdbeben unsere Virginia nicht ausgehen zu lassen durch Bitterkeit.

– Susanne Röckel –

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